Ausblick.

1. März 2021

Im Traum fahre ich mit einem Freund – der mir sehr vertraut ist, den ich aber nicht erkenne – durch die Straßen einer Stadt. Ich bemerke, dass ich sein Gesicht, seine Gestalt nicht zuordnen kann, wundere mich aber nicht weiter. Es ist neblig und grau, die Luft ein wenig feucht, vielleicht hat es zuvor geregnet. Ob Tag oder Nacht weiß ich nicht. Der Freund sitzt im Rollstuhl und fährt elektrisch, ich sitze erst auf meinem Fahrrad und fahre später mit einem E-Scooter. Der Wechsel geschieht fließend. Es gibt scheinbar kein Ziel, wir cruisen einfach so umher. An einer verwinkelten Stelle finden wir einen seltsamen Zaun, der mit einem Warnhinweis versehen ist. Betreten auf eigene Gefahr. Wir wundern uns. An manchen Stellen ist es möglich, durch den ansonsten blickdichten Zaun zu sehen. Dahinter ist eine Art Brücke, dahinter ist es hell und grün. Über der Brücke, die eher wie ein Tunnel wirkt, ist ein Gitterdach gespannt, das bewachsen ist mit allerlei Kletterpflanzen. Es sieht sehr schön aus. Ich habe einen Seitenschneider dabei und verschaffe uns Zutritt. Wir fahren auf der Brücke, als plötzlich weder Rollstuhl, noch E-Scooter funktionieren. Der Freund steht auf und dann laufen wir zusammen, als sei er nie auf den Rollstuhl angewiesen. Wir sprechen nicht einmal darüber. Die Brücke ist sehr lang und hübsch gepflastert. Das grüne Blätterdach lässt ein paar Sonnenstrahlen hindurch, die auf dem Boden tanzen. Ich weiß nicht, wie lange wir schweigend nebeneinander herlaufen. Am Ende erreichen wir eine Art Aussichtsplattform. Es erscheint mir merkwürdig, dass es so etwas gibt, dass es hier hell und sonnig ist, wo es doch gerade noch grau und dunkel war. Ich nehme es einfach hin. Wir legen unsere Arme auf der Mauer ab und schauen uns um. Es ist wunderschön, ein herrlicher Ausblick. In der Ferne werfen vereinzelte Wolken ihre Schatten und ziehen über die phantastische Landschaft. Es wirkt, als könnten wir die Welt von oben sehen, in der wir gerade noch waren. Ein Miniaturwunderland. An einer Seite hat die Aussichtsplattform keine begrenzende, schützende Mauer. Ich gehe etwas näher ran, ganz vorsichtig. Dort geht es steil bergab, dort ist der Weg nicht gepflastert, er ist steinig und schlammig und sieht bedrohlich aus, scheinbar führt er in einen Abgrund. Es gibt kein Geländer, an dem man sich festhalten könnte, es wirkt auch viel zu steil, surreal und furchteinflößend. Ich schaue besorgt in die Ferne. Wo mag dieser Weg nur hinführen? Ich traue mich nicht, noch näher ranzugehen. Ich möchte nicht tief in den Abgrund schauen, aus Angst, ich könnte dort hineinfallen. Ein paar Schritte gehe ich rückwärts und lehne mich wieder an die Mauer, wo ich eben noch einen tollen Ausblick hatte. Ich schaue wieder in die schöne Landschaft und sage: „Lass uns hier bleiben, hier ist es schön.“ Aber da ist niemand. An wen waren meine Worte gerichtet? Ich wundere mich, ob da überhaupt jemand war. Bin ich ganz allein hier her gekommen? Ich schaue weiter in die Landschaft und fühle Wohlbefinden, ich entspanne mich. Alle Fragen und Gedanken sind jetzt irrelevant. Ich fühle mich gut. Ich schließe die Augen und spüre die Sonne auf meinen Lidern. Meine Hände fühlen die Wärme der Mauer. Ein sanfter Wind weht durch meine Haare. Mir ist ganz angenehm.

Ich wache auf.


Feuer und Flamme.

28. Februar 2020

Eines Abends im Winter, vor nicht allzu langer Zeit, saß ich an einem Lagerfeuer und mit mir viele andere Menschen. Es war Silvesternacht und eisig kalt, wir wärmten uns am Feuer. Es wurde viel gesprochen und gelacht. Kinder und Erwachsene stocherten mit Stöcken im Feuer, mit denen wir zuvor Stockbrot geröstet hatten; nun war der Teig schon alle. Neben mir saß eine Frau, die ich bis dahin nicht gekannt hatte; sie trug einen Rock aus kuscheligem Fleece. Sodann sprang aus dem Feuer ein Stück Glut empor und landete auf Höhe ihres Oberschenkels. Der Rock begann auf der Stelle zu schmelzen und zu brennen.

Die Frau stand auf, die Glut fiel zu Boden. Doch der Rock brannte noch und sie war starr vor Schreck. Ich griff nach dem Rock und zog den brennenden Kunststoff von ihrer Haut weg und erstickte das Feuer in meinen Händen. Sie bedankte sich für meine Hilfe und ging auf ihr Zimmer, um sich umzukleiden.

Eine Zeit später kam sie zurück ans Feuer und wir tranken zusammen Tee. Sie bedankte sich nochmals bei mir, denn ihre Haut war unversehrt geblieben. „Ich hoffe, dir ist nichts passiert“, sagte sie. „Mir geht es fein“, sagte ich und war froh, dass in der Dunkelheit die Verbrennungen an meinen Händen nicht sichtbar waren.


11 Tage, 19 Stunden und 33 Minuten.

6. Januar 2020

Als der Zug am Bahnhof hielt, war meine Freude nicht mehr zu bändigen; das Pochen in meinen Ohren wandelte sich zu einem durchdringenden Rauschen. Ich war überglücklich, dass du dich plötzlich entschieden hattest, zu mir zu fahren. Das schönste aller Geschenke. Es war schön, deinen Kopf aus der Menschenmenge herausragen zu sehen, dich direkt zu erkennen. Du kamst lächelnd auf mich zu, und als du endlich vor mir standest, umarmten wir uns eine Ewigkeit lang; eine Ewigkeit im Vergleich zu den 68 Tagen, die ich auf diesen Moment warten musste.

Wie wunderschön es war, die Flammen des brennenden Zuckers, der langsam zu Karamell zerfloss, in deinen Augen und auf dem Glanz deiner erstaunten Lippen funkeln zu sehen.

Es berührte mich, dass du trotz des aufwühlenden Gespräches zwischen dir und Nadja an Heilig Abend zu mir sagtest: „Es ist schön, bei dir zu sein. Und ich freue mich, dass ich bei deiner Wahlfamilie sein darf.“ Euer Gespräch hing mir noch einige Tage nach; vielleicht, weil ich nur Zuhörer war. Nadja spiegelte dich mit einer Deutlichkeit und sprach zu dir mit einer Klarheit, wie es bisher niemand getan hatte. Ich konnte fühlen, wie sehr dich das aufwühlte, wie angestrengt du atmetest. Wir beide sprachen noch lange darüber, auf dem Heimweg, zu Hause. Nichts ist anstrengender, als das eigene Leben so zu leben, dass man selbst zufrieden damit ist.

In der ersten Nacht konnte ich kaum schlafen, ich war unruhig und rastlos. Warum nur? War es die Angst, dass alles ein Traum sei? Oder die Sorge, dass du verletzt wurdest? Immer wieder bin ich angsterfüllt aufgewacht und musste mich vergewissern, dass du wirklich in meinem Bett liegst: Ein großer schlafender Junge, ein Riese gar, tief schlummernd, deine Atmung gleichmäßig und hypnotisch. Durch das Fenster drang ein wenig Nachthimmel herein; gerade so viel, dass ich die Konturen deines Gesichts erkennen konnte. Du sahst so friedlich aus; dein Anblick beruhigte mich. Wie viele Nächte hatte ich wachgelegen in blanker Sorge um dich. Ich weinte vor Glück und Tränen liefen über meine Wangen und fielen auf deinen schlafenden Körper. Ich legte meinen Kopf wieder auf dir ab und umklammerte dich fest, damit dich mir niemand nehme, deine Haut warm und dein Geruch waldig-grün. Ich fiel in einen Dämmerschlaf, indem ich synchron zu dir atmete. Ich wachte wieder und wieder auf; mal lag ich in deinen Armen, mal lagst du in meinen Armen, mal waren wir beide ein menschliches Knäul, miteinander verschmolzen. Am Morgen streicheltest du mich, wir beide noch im Halbschlaf.

Am ersten Weihnachtsfeiertag waren wir lange spazieren und sprachen wild über alles, was uns in den Sinn kam. Wir waren im Kakteenhaus und bewunderten die Tausend Formen, die eine Pflanzenart annehmen kann. Nachmittags, die Dämmerung hatte schon eingesetzt, gingen wir durch feinen Sprühregen ins Kino, nachdem wir uns zu Hause gestärkt hatten. Als in der Dokumentation (Aquarela) jemand ertrank, versank ich in Gedanken, was die Filmszene wohl in dir ausgelöst haben mag. Im Sommer, als wir uns kennenlernten, war mir aufgefallen, dass dein Brustkorb außergewöhnlich eingedrückt ist; du hattest mir erzählt, dass du als Kind ertrunken bist und wiederbelebt wurdest. Als ich an dieses Gespräch dachte hast du mit deiner Hand nach meinem Arm gegriffen und wir haben uns den Film über gehalten, an Händen und Armen. Nach dem Film sind wir noch ein wenig durch den Stadtteil geschlendert; die Lichter der Straßenlaternen, der Ampeln und Autos, aus den Fenstern der Wohnungen und Häuser, spiegelten sich auf dem nassen Asphalt, matt und schön.

Wie du mir am selben Abend Halt gabst und mich fest an dich drücktest, als ich weinte wie noch nie zuvor. Die Staumauer in mir war gebrochen, Glück und Traurigkeit vermischten sich zu einer gewaltigen Flut. Alles in mir löste sich und wandelte sich in Tränen, die sich auf dich ergossen. Du sagtest: „Ich spüre deine Einsamkeit und deinen Schmerz. Wenn du hindurchgehst… wartet etwas Wunderschönes auf dich. Ich bin hier.“ Dann sagtest du lange nichts mehr. Ich weinte und weinte und vergrub meinen Kopf in deinen Armen, mein Gesicht auf deiner Brust, bis ich nicht mehr denken konnte. Deinen Kopf hattest du seitlich auf meinen abgelegt und streicheltest meine Haare mit deinen Fingern. Du hast mich weinen lassen, bis ich ganz leer und ruhig war. Du hast mich die ganze Zeit über gehalten und gestreichelt. Dann sagtest du: „Ich bin stolz auf dich.“

Später erzählte ich dir, so vertraut waren wir einander und der Moment schien mir passend, dass ich seit Sommer mit über 20 Männern geschlafen habe. Ich wollte neue Erfahrungen machen, neue Dinge kennenlernen und hatte aktive und passive Rollen gleichermaßen, war in seltsame Rollenspiele, angenehme wie auch gefährliche Situationen verwickelt. Ich wollte wissen, wie es ist, promiskuitiv zu sein; am Ende habe ich nur gelernt, wie leer und banal dieses Spiel für mich war – zwischen mir und den vielen anderen Menschen, zu denen ich keine Verbindung hatte. Vor dem Moment, in dem ich es dir sagen würde, hatte ich lange Zeit Angst; Angst vor Ablehnung, vor Zurückweisung, doch fühlte es sich nun keinesfalls nach einer Beichte oder Verurteilung an, wie ich es mir viele Male ausgemalt hatte. Du stelltest Fragen, weil du wirklich Interesse an meinen Gedanken und Erfahrungen hattest, und lauschtest aufmerksam den verrückten Geschichten, die ich erlebt hatte. Wir lachten, und auch schwiegen wir viel, und du erzähltest von deinen Erlebnissen mit Männern. Unser Gespräch war ganz vertraut, ehrlich, es war okay. Du sagtest, dass in deiner promiskuitiven Phase etwas in dir gestorben sei, und ich konnte es vollkommen nachvollziehen. Denn auch in mir war etwas gestorben: Sex mit irgendwelchen Menschen, zu denen ich keine innere Verbindung habe — so attraktiv und körperlich erregend sie für mich sein mögen, so verfügbar sie für mich auch sind —, hat die Anziehungskraft für mich verloren. Ich sprach das alles aus, während wir uns in die Augen sahen, und wir umarmten uns. Ich spürte, wie ähnlich wir uns darin waren und wie stark uns das miteinander verband. Das, was wir beide haben, unsere innere Verbindung, ist strahlender und schöner als das, was die meisten Menschen unter Sex verstehen.

Spät sind wir aufgewacht. Deine Mutter sollte schon bald da sein, also machten wir uns fix ans Aufräumen. Mir war wichtig, dass ihr beide euch wohl fühlt. Ich wollte eine Situation schaffen, in der es sich angenehm plaudern lässt und vielleicht sogar etwas wie Tiefe entsteht; du hattest einmal gesagt, dass du dir das mit deiner Mutter wünschst. Und so kam es schließlich. Du deutetest irgendwann meine Geschichte an und ich erzählte sie. Deine Mutter hörte aufmerksam zu und stellte Nachfragen, wann immer ihr etwas unklar war. Ich sagte irgendwann, dass ich als junger Mensch immer das Gefühl hatte, auch heute noch habe, mit meinen Eltern keine tiefen Gespräche mit Sinn oder über Themen und Gefühle, die mir wichtig sind, führen zu können. Sie sagte: „Ich denke, das nehmen viele Menschen so an. Dass ihre Freunde viel tiefsinnigere Gespräche mit ihren Eltern haben. Aber stimmt das auch? Vielleicht ist das einfach eine falsche Annahme.“ Während sie das sagte, sah ich in deine Augen und du in meine. Vielleicht ist da wirklich etwas dran, sagten unsere Blicke. Du bist dann spazieren gegangen mit ihr und später sind wir gemeinsam etwas essen gegangen. Deine Mutter bedankte sich bei mir für den schönen Tag, das Kennenlernen. Der Tag war sehr schön für mich, und als ich nach deinem Empfinden fragte, sagtest du das gleiche. Waren deine Zweifel verschwunden?

Am nächsten Morgen war ich vor dir wach. Du hast mich in deinen Armen gehalten. Dein Bauch drückte sich mit jedem Atemzug sanft an meinen Rücken, deine Hüften an meine. Die Plissees am Fenster waren halb geöffnet, sodass die Sonne mein Gesicht erwärmte. Ich weinte vor Glück, ich fühlte mich so geborgen und sicher wie schon lange nicht mehr. Da wurdest du wach und streicheltest meine Haare und die Tränen aus meinem Gesicht. Ich legte mich auf dich; ich fühlte mich wie ein Säugling, sanft und sicher. Ich musste lachen, weil alles wie ein Traum auf mich wirkte. Wir kuschelten miteinander und bald ging mein Wecker los, eine Pianoversion des Earth Song. Wir sangen leise mit und so kamen wir auf die Idee, laut Musik zu hören. Wir sprangen auf, du kochtest Kaffee und ich schaltete die Musikbox ein, drehte die Lautstärke hoch und wir hörten das Original, und noch mehr von Michael Jackson. Wir rissen alle Fenster zum Lüften auf und nun sangen wir lauthals mit. Die Wohnung war erfüllt von Lautstärke, frischer Luft, Sonnenschein und Kaffeeduft. Ich habe mich schon lange nicht mehr so lebendig und leicht gefühlt. Wir zeigten einander Musikvideos und später schautest du nach Stellenanzeigen, hast gleich Bewerbungen weggeschickt. Dann sind wir mit dem Rad ins Schwimmbad gefahren, waren in der Sauna, sind zusammen auf einem Reifen die große Rutsche hinunter, haben uns im Wasser treiben lassen. Anschließend hast du bei einem Spielenachmittag weitere Freunde von mir kennengelernt. Ich hatte den Eindruck, dass du dich aufgenommen gefühlt hast. Du warst gesprächig, spaßig, hast viel gelacht.

In der Silvesternacht sagtest du zu mir: „Du bist bedingungslos.“ Später am großen Feuer habe ich dich beobachtet, wie du gebannt in die Flammen starrst und völlig gedankenverloren das Bernsteinpulver in deiner Faust an dein Herz drückst. Du sprachst deinen Wunsch für dich aus – „Verantwortung!“ – und hast das Pulver in die Flammen geworfen, auf dass es hell erleuchte. Du sagtest vor dem Einschlafen: „Vielleicht war das mein schönstes Silvester.“

Ich sah dich hinter der Glasscheibe sitzen, dein Strahlen raubte mir den Atem. Ich erinnerte mich an deine Ankunft und wie müde und ausgelaugt du eigentlich aussahst. Jetzt wirktest du zufrieden auf mich, viele Jahre jünger, entspannt, erfüllt. Ich schrieb mit meinem Lippenbalsam thx auf die Scheibe und legte meine Hand daneben, als der Zug langsam losfuhr. Dein Lächeln konnte ich noch sehen, bis ich nichts mehr sehen konnte; ich stand wie versteinert da. Nach ein paar Minuten ging ich Richtung Ausgang, lachend und weinend, beides zur gleichen Zeit. Menschen sahen mich an, womöglich wirkte ich verstörend auf sie. Dabei war ich nur glücklich.

Zuhause angekommen wälzte ich mich im Bett; die Seite, auf der du gerade noch lagst, war warm. Ich konnte deinen Geruch noch so stark wahrnehmen, als seiest du nur kurz aus dem Bett gestiegen, nur kurz fortgegangen, um gleich wiederzukommen. Ich streckte meinen Arm nach dir, doch war dort nichts. Kein Körper, kein Atmen, kein Boris. Ich spürte, wie die Traurigkeit in mir aufstieg; der Preis für mein Glück.

11 Tage, 19 Stunden und 33 Minuten. Eine Ewigkeit, erfüllt mit Leben, Freude und Liebe. Nun weine ich, denn ich musste dich, mein Wunder, ziehen lassen. Doch meine Tränen schmecken süß, und in mir ist ein See des Glücks, von dem ich zehre. Und so beginnt meine Fastenzeit von Neuem. Nun liege ich seit fünf Stunden wie gelähmt im Bett und höre eine „Classical Sleep“-Playlist, während ich im Dämmerschlaf all unsere surrealen Erlebnisse nochmals durchlebe, alles so detailreich wie möglich erinnere, jedes Ereignis, jede Gefühlsregung, jeden Gesichtsausdruck.

Seit du weggefahren bist brauche ich wieder länger zum Einschlafen. Du hast Wärme und Halt ausgestrahlt, und dein dunkelgrün-waldiger Geruch – wie ein Dschungel, süß, holzig, blumig und schwer, ein Hauch von einem wilden Tier – war sowas wie ein Schnüffeltuch für mich, das mich sanft einschläfert. Dein Geruch haftet hier noch überall, an mir, dein Schweiß an der Bettdecke, der Duft deiner Haare am Kissen, die Wärme deiner Hände auf meiner Haut. Deine Spuren halten mich fest umschlungen, und ich stelle mir vor, wie wir synchron atmen, wie wir es jeden Abend gemacht haben, nackt und Bauch an Bauch, bis wir eingeschlafen sind.

Wie es mir geht? Ich fühle mich traurig, obwohl ich glücklich bin. Daraus schließe ich, dass es mir richtig gut geht. Wenn ich eine lange Zeit happy war, ist das immer so danach. Ein Indikator dafür, dass es mir gut geht.

Vielleicht bin ich auch traurig, weil ich nicht weiß, wohin es dich letztlich verschlagen wird, wie es weitergeht mit uns, wann ich dich wiedersehen werde, ob wir einander weiter zähmen werden. Möge die Straße uns zusammenführen.


Ein Brief mit Folgen.

30. September 2019

Lieber Boris,

zuallererst möchte ich dich um Entschuldigung bitten, dass ich deine Aufmerksamkeit auch auf diesem Wege beanspruche. Doch ich kann nicht anders, denn: Wir beide haben uns einander in den letzten Monaten vertraut gemacht. „Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast“, sagte der Fuchs.

In der gemeinsam verbrachten Zeit haben wir einander gezähmt, jeden Tag sind wir uns ein Stückchen näher gekommen; auch wenn noch viel Zähmen vor uns liegt. In der Zeit dazwischen haben wir voneinander erfahren über Geschriebenes, selten über Gesprochenes. Auch, wenn du schriftlich vielmehr über mich erfahren hast, als ich über dich. Und wie der Fuchs sagt, ist das Zähmen eine Sache, für die man sehr geduldig sein muss. Das ist nicht leicht für mich, doch ich lerne es durch dich. Niemals zuvor hat jemand meine Geduld derartig auf die Probe gestellt wie du. Und ich danke dir dafür, für diese neue und auch herausfordernde Grenzerfahrung. Ich warte gerne auf dich und ich bringe gerne die Geduld für dich auf. Gleichzeitig stürzt das mich in tiefen Kummer, wenn ich nichts von dir höre, weil ich noch lerne dich zu verstehen, weil ich noch ganz am Anfang stehe, weil ich nicht weiß, wie ich dir helfen kann oder ob du das überhaupt willst. „Man versteht nur die Dinge, die man zähmt“, sagte der Fuchs. Dass wir noch keine Bräuche haben, wie der Fuchs sie beschreibt, dass die Netzabdeckung scheiße ist und du oft sehr schweigsam bist, all das verstärkt meinen Kummer.

Ich schreibe dir diesen Brief, weil ich mich verantwortlich fühle für dich, weil ich dich erreichen möchte in deinem Herzen, weil das bei WhatsApp scheinbar nicht möglich ist, weil ich dir meine Hände und meine ganze Kraft reichen möchte, weil ich dich unbedingt begleiten möchte auf dem Weg aus deiner Krise. Mir ist bewusst, wie frei und wild du bist, es zumindest sein möchtest. Doch ich sehe – in dem, was, wie, wann du schreibst und auch zwischen den Zeilen, „das Eigentliche ist unsichtbar“ – wie du leidest, und ich leide mit dir. Das schreibe ich nicht einfach so dahin. Es tut mir körperlich weh zu lesen, was du schreibst. Ich kenne diese Art der Verzweiflung und so trifft es mich umso mehr. Ich wünschte, du könntest es mir sagen, während ich dir in die Augen schaue und dich einfach nur halte in den dunkelsten Stunden deiner Verzweiflung. Doch es ist anders aus der Ferne, schwer, ganz schwer. Ich muss aushalten, dass ich dir keinen Halt geben kann, dass dein Herz gefangen ist in lauter Zweifel und Unsicherheit, dass du dich einsam und traurig fühlst, dass ich deinen Geist nicht streicheln kann, dass ich mit dir keine möglichen Auswege besprechen kann. Am schlimmsten jedoch ist es, nicht zu wissen, ob mein Eindruck überhaupt wahr ist.

Auf mich wirkst du wie vergiftet, wenn du in […] bist, ganz besonders in den letzten Wochen, ganz roh und verletzlich, erdrückt von Sorgen um die Zukunft, um dein weiteres Leben, unverstanden, einsam. Das steht ganz im Gegensatz dazu, wie ich dich in Kassel wahrgenommen und erlebt habe: Du warst innen wie außen – auch wenn wir über sehr schwere Themen sprachen – gut drauf, du warst so lustig, so abenteuerlich, so schön und wirkest glücklich auf mich. Diese Gegensätzlichkeit Kassel-[…] beunruhigt mich sehr.

Du hast einmal geschrieben: „Ich finde keinen Ort für mich.“ Und später: „Gleichzeitig besorgt mich der Winter.“ Und neulich: „Ich fühle mich einsam. Und traurig.“ Diese Worte machen mich wiederum so fassungslos traurig, dass ich manchmal einfach weine. Ich weiß nicht, ob dir bewusst ist, wie oft ich an dich denke. Wie der Fuchs den Weizen liebgewonnen hat und an den Kleinen Prinzen denken muss, so denke ich an dich jedes Mal, wenn ich das Feuerzeug in der Hand halte, bei jedem Blick auf die Sterne, die wir zusammen angesehen haben, und bei jedem Stückchen Wald, denn du hast mir den Wald geschenkt. Ich habe in den letzten Monaten, um dich besser verstehen zu können – da ich nicht wirklich mit dir telefonieren kann und du eher wenig schreibst – so unendlich viel gelesen, wie schon seit Jahren nicht mehr. Du hast mir Hesse geschenkt, du hast mir Kafka geschenkt, du hast mir den Kleinen Prinzen und Exupéry geschenkt. Und bald kommt noch Osho dazu.

Verstehst du nun, warum ich dir so oft schreibe? Warum ich mich so sorge? Warum ich verantwortlich für dich bin?

Ich reiche dir meine Hände. Doch zugreifen musst du schon selbst. Bitte Boris, bitte greife zu.

Riskiere es, dich auf jemanden einzulassen. Riskiere es, dich zähmen und verstehen zu lassen. Riskiere es, mit diesem Anderen zur größten Reise aufzubrechen, zu einer Reise nach dir, zu einer Suche nach einem Ort für dich und nach Antworten, die nur in deinem Herzen zu finden sind, wenn du frei bist, dich öffnest, Einblick in deine Seele gewährst und nicht umgeben bist von Gift und Sorgen, sondern von Freundschaft, von Zuneigung, von Liebe. Riskiere es, denn du kannst nichts verlieren in deiner gegenwärtigen Situation, du kannst nur dazu-gewinnen. Ich werde dich unterstützen auf deiner Suche, so gut ich kann, so viel du willst. Mir ist bewusst, vor welch bedeutender Lebensentscheidung du stehst: Neuanfang oder Weiterso? Beides ist schwer, beides erschöpft die Kräfte, beides hat seine Vorteile und seine Nachteile. Doch vertraue mir, Weiterso zermalmt die Seele. In […], so nehme ich dich wahr, bist du verschlossen und nicht frei für die Suche nach deiner Wahrheit. Ich meine den Alltag dort, die Routine, nicht die Festivals mit den Menschen, die du lieb gewonnen hast.

Und wenn die Zeit gekommen und du deine Antworten gefunden hast, wenn du einen Ort, eine Lebensweise für dich gefunden hast – in Kassel oder auch woanders –, dann werden wir erleben, ob uns die Antworten zusammen halten oder uns räumlich voneinander trennen, weil vielleicht Kassel doch kein Ort für dich ist. Doch muss das erst einmal herausgefunden werden, das dauert seine Zeit. Sollte das eintreffen, dann wird die Farbe des Weizens bleiben, wie der Fuchs es sagt, und es wird mir eine große Ehre und Freude gewesen sein, dich auf deiner Suche begleitet zu haben. Ich werde mich freuen und freuen über all die Erinnerungen, Erlebnisse und Erkenntnisse, die mir das Leben geschenkt haben wird. Doch dafür, dafür musst du eine Entscheidung treffen. Raus aus […]. Nach Kassel kommen. Und mir vertrauen.

Der Winter naht und ich fürchte um dich. Am liebsten würde ich nach […] fahren, dich einpacken und kidnappen. Ganz so, wie ich damals „in Sicherheit“ gebracht wurde, obwohl es sich erst einmal nicht so anfühlte. Ganz so, wie mich Marcus bei sich aufgenommen hat, mir beim Einleben und bei meiner Suche geholfen hat. Doch das kann ich nicht tun ohne dein Einverständnis, du musst selbst die Entscheidung treffen; eine freie Entscheidung, die aus deinem Herzen kommt. Man kann Menschen nicht einfach umtopfen wie Pflanzen.

Gestern Abend war Marcus bei mir und wir haben auf unseren achten Jahrestag angestoßen, auf unsere lange, seltene und schöne Freundschaft. Acht Jahre Kassel. Ich hatte anfangs große Angst, nichts und niemanden, nur Marcus, diesen Menschen, der umso wunderbarer und surrealer wurde, je mehr wir einander über die Jahre zähmten. Ich verstehe deine Sorge, in Kassel zu vereinsamen, das glaubte ich anfangs auch. Doch so kam es nicht, und so wird es auch nicht für dich kommen. Du hast mich – und damit auch Marcus und Nadja. Und von ganz allein wirst du weitere Menschen kennenlernen, Räume für dich erschließen. Kassel ist nicht Köln.

Komm‘ nach Kassel, komm‘ zu mir und wir gehen alles Schritt für Schritt gemeinsam. Wo du wohnen und leben, wo du arbeiten, wo dich verwirklichen kannst, all das werden wir herausfinden. Wenn du willst.

Ich forme auch hier in diesem Brief noch einmal deine eigenen Worte für dich um:

Du hast unglaubliches Glück, Boris.

Du kommst mit nichts nach Kassel und hast Leute gefunden, die dich aufnehmen.

In ihre Familien und in ihre Herzen.

Mit diesen Worten möchte ich diesen nun wirklich viel zu langen Brief beenden und freue mich auf eine Antwort von dir, egal auf welchem Wege. Die größte Freude für mich wäre allerdings eine Entscheidung, ein erster Schritt deinerseits, ein Plan, wie es weitergeht für dich.

Es grüßt dich hoffnungsvoll

Dein [A.]

P.S.:

Ich habe keine Ahnung, ob dich dieser Brief jemals erreichen wird. Auch weiß ich nicht, was du für mich eigentlich empfindest, ob ich dich überfordere und ob ich dir auf die Nerven gehe. Bitte gib mir ein Zeichen, damit ich Klarheit habe. Die Unbestimmtheit verzehrt mich.


(2) Kino im Nirgendwo.

18. September 2019

In der letzten Woche erreichten mich kryptische und mysteriöse SMS-Nachrichten. Allein dass es sich um SMS handelte war schon seltsam, doch der Inhalt dieser Nachrichten war noch um Welten aufregender.

Sonntag, 28. Juli 2019, 22:01 Uhr

Ihr Freund*innen der Nacht und der vergessenen Orte;

wo sich die Natur die Gleise zurückholt, die Balken morsch sind und sich die Vergangenheit unter einer dicken Staubschicht versteckt dient uns der bröckelnde Putz am Abend des 04.08. als Leinwand für die erste Ausgabe […]: Kino im Nirgendwo!!

Also kramt die Stirnlampen raus, pumpt die Reifen auf und save the date!

Weitere Infos folgen in Kürze…

Vorfreudig, Eure Kru von […]

Freitag, 2. August 2019, 20:44 Uhr

Bevor ihr euch allzu übermotiviert ins Wochenende stürzt, bedenket, dass das Highlight erst am Sonntagabend auf dem Programm steht! Damit ihr eure Planung entsprechend darauf ausrichten könnt, kommen hier die versprochenen Infos.

Treffpunkt: [GPS-Koordinate]

Dort werden wir Euch erwarten und Gruppenweise zum Ort des Spektakels führen. Bitte seid zwischen 20:15 (Zeit zum stöbern) und allerspätestens 20:45 (latecomers) da!

Zu eurem Survival-Package des Abends sollte gehören:

– Festes Schuhwerk

– Taschenlampe/Stirnlampe

– Getränke/Snacks

– Decke und/oder Sitzkissen

– Sehhilfe vom Optiker eures Vertrauens

– Tarnumhang

Aus logistischen Gründen werden wir nur das Grundnahrungsmittel eines jeden gepflegten Kinobesuchs stellen können: ja genau, Popcorn! Falls es euch nach mehr gelüstet, gibt es für Spätentschlossene ganz in der Nähe auch eine gut sortierte Tankstelle.

Bitte habt aber auf dem Schirm, dass wir uns mit diesem inoffiziellen Kulturprogramm potentiell für eine Bekanntschaft mit Wachmeister Waldemar qualifizieren. Shoppt deswegen am besten schon morgen, übt Euch in diskreter Anreise und schaut, dass ihr Euch einigermaßen geschwind durch den Tunnel zum Treffpunkt begebt.

Sobald der Saal gefüllt ist, freuen wir uns auf ein locker leichtes Sommerkino mit Euch!

Gespannt wie Flitzebögen, Eure Kru von […]

Es war Freitagabend, als ich Boris die Nachrichten weiterleitete.

Ich kenne weder die Nummer, noch gibt es irgendwas bei Google zu „[…]“. Da ist ja eine Koordinate angegeben, die hab ich gegoogelt. Ist in Kassel. Also müssen es irgendwelche Freunde oder Bekannte sein. Mich reizt es, dahin zu gehen am Abend. Alleine würde ich das irgendwie nicht machen. Hast du vielleicht auch Lust zu? Wir könnten tagsüber den „Ort“ erkunden und abends da mal vorbeischauen, was denn das ist mit den mysteriösen SMS. — Ja, geil. So beginnen Horrorfilme. Bin dabei.

So war es nun ausgemacht, dass wir an dem Sonntag zwei Orte zu erschließen hatten. Einen, den ich kannte, aber Boris nicht, und einen, den keiner von uns beiden kannte.

So saßen wir im Bus, fort vom Habichtswald, und fuhren zur genannten GPS-Koordinate. Wir waren aufgeregt, was uns wohl erwarten würde. Ich war sogar ein wenig besorgt, ob es nicht vielleicht eine Falle sein könnte; eine Falle für Menschen wie mich, zwei meiner Freunde hatten auch die SMS erhalten und niemand wusste irgendwas. Mit meinem zerstörten Fuß würde ich nicht schnell genug weglaufen können, sollte es eine Falle sein. Einerseits belustige mich dieser Gedanke, dann sei es eben so, dann wirst du eben ein Opfer sein. Andererseits war da dieses seltsame Gefühl, in etwas vollkommen Unbekanntes, Aufregendes hinzugeraten. Was sollte schon geschehen? Was es sein würde, ob es gut und ein Abenteuer für uns sein würde, das sollte sich noch früh genug herausstellen.

Wir verließen den Bus an einer Haltestelle, die der GPS-Koordinate nahe war. Und wie es in der einen SMS geschrieben stand, fanden wir dort eine gut sortierte Tankstelle vor, bei der wir uns mit Saft, Knabberein, Brezeln und einer Bockwurst mit Brötchen eindeckten. Wir ließen unsere Wasserflaschen füllen und teilten uns Würstchen und Brötchen. Großen Hunger hatte keiner von uns, doch wäre es dumm gewesen, sich in ein Abenteuer mit Nichts im Magen zu stürzen. So saßen wir in der Tankstelle an einem Tisch und aßen. Dabei fiel mir ein junger Mann auf, groß, dunkelhaarig, mit besonders blauen Augen, komplett schwarz gekleidet, er wirkte in seinem Wesen sehr freundlich. Ich merkte mir sein Gesicht, ohne zu ahnen, dass es irgendwas mit dem Abenteuer zu tun haben würde. Nach unserer Mahlzeit gingen wir gemächlich in die Nähe der Koordinate. Da wir entgegen unseres Planes nicht vorher zu mir nach Hause gefahren sind, waren wir eine Stunde zu früh da. Wir setzten uns unter einen Baum in die Nähe des besagten Tunnels und beobachteten Autos, Fußgänger und Fahrradfahrer. Zwei Frauen unseres Alters wirkten auffällig auf uns, da sie ein suchendes Fahrbild mit ihren Rädern hatten und vor dem Tunnel mehrmals in verschiedene Richtungen radelten. Offensichtlich machten sie sich ein Bild von der Umgebung, die beiden mussten also irgendwie dazugehören; als sie in den Tunnel fuhren, fanden wir unsere Annahme bestätigt. Ich konnte nicht mehr sitzen, denn Rast schmerzte meinen Fuß mehr als das Gehen, so begaben wir uns in das Abenteuer. Wir gingen wie selbstverständlich in den Tunnel hinein und versuchten äußerst leise zu sein. Nach 200 Metern befanden wir uns auf einem Gelände, welches es zu betreten verboten war; so stand es zumindest auf einem Schild am Tunneleingang. Doch gab es weder ein Tor, noch irgendwelche Wächter. Da mein GPS nicht zu hundert Prozent korrekt war, sahen wir uns ein wenig um. Da kamen uns die beiden Fahrradfahrerinnen wieder entgegen, fuhren an uns vorbei. Wir tauschten suchende Blicke aus, und als wir uns umdrehten, sahen wir, dass die beiden auch angehalten hatten. Wir sprachen die beiden an, ob sie auch nur rein zufällig genau hier seien. Die Antwort war ja. Auch die beiden hatten die SMS bekommen und wollten sich vor der Zeit ein bisschen umsehen. Wir schlossen uns zusammen und sahen uns gemeinsam um. Schon erreichten wir die ersten verlassen wirkenden Gebäude, teilweise eingestürzt, teilweise von außen verschlossen. Wir rätselten zu viert, was das denn sein könnte, das, was hier wirklich stattfinden sollte. Es ergaben sich auch keine Verbindungen zueinander, außer, dass wir scheinbar ähnliche politische Interessen hatten, was die Sache wieder verdächtig machte. Um uns die Zeit zu vertreiben, gingen wir in eines der Gebäude hinein, dessen Tür wir nach einer Zeit aufbekamen. Dem Zustand nach zu urteilen war dort seit Jahrzehnten niemand mehr drin gewesen. Alles war von Staub und Schmutz bedeckt, überall lagen lose Kabel, alte Dokumente, technische Geräte und Müll. Wir gingen zusammen durch das Gebäude, Raum für Raum, und waren erstaunt darüber, was wir alles vorfanden. In einigen Bereichen war das Gebäude schon zusammengestürzt, Pflanzen und sogar kleine Bäume hatten sich den Raum zurückerobert. Wir fanden Zeitungen in einem Aufenthaltsraum, vom Anfang der 90er Jahre. Was war nur passiert, dass dieser Ort scheinbar so schlagartig verlassen werden musste? Nach einer Weile gingen wir wieder aus dem Gebäude heraus, und zu meiner Überraschung saßen vor dem Gebäude vier weitere Menschen, darunter Christoph, den wir am Abend zuvor noch auf dem Jahrmarkt getroffen hatten. Hallo Christoph, sagte ich. Hallo sowieso, sagte Christoph. So hatten wir nun doch Gelegenheit gefunden, unsere Namen einzuprägen. Welch ein schöner Zufall! Die vier hatten sich dort niedergesetzt, weil sie dort die geparkten Fahrräder gesehen hatten. Wir tauschten uns aus, ob irgendwer irgendwas weiß. Eine Person sagte ja, jedoch kein weiteres Wort. Meine Besorgnis wich dem Vertrauen, und als ich aus der Ferne einen Bekannten dazustoßen sah, wurde ich immer verwunderter. Was für Ort, was für ein Abenteuer! Was für ein Mensch hatte uns hier zusammengebracht, was waren wir für offene und abenteuerlustige Menschen, dass wir doch tatsächlich hierher gekommen waren. Einige Leute sahen sich ebenfalls im Gebäude um, nach und nach festigte sich der Entschluss, gemeinsam weiterzuziehen, die exakte Koordinate aufzusuchen. Dort fanden wir weitere Menschen, darunter der Mann mit den blauen Augen aus der Tankstelle. Er begrüßte uns und sah mich länger an, und ich sagte, dass er mir in der Tankstelle schon aufgefallen war. Er sagte Ähnliches über mich und Boris, wir lachten. Er zeigte uns den weiteren Weg, den wir gehen sollten, während sie hier auf weitere Menschen warteten. Boris und ich gingen noch um die Ecke, um uns weitere Gebäude anzusehen. Durch ein offenes Fenster stieg er in eines ein, für mich mit meinem Fuß war es nicht möglich. Ich wartete davor auf ihn und rief ihn nach einer Viertelstunde an, da ich bemerkte, dass die anderen sich auf den Weg machten. Boris berichtete, dass es sich um ein riesiges Verwaltungsgebäude handelte, mit Hunderten Zimmern und etlichen Etagen. Wenig war darin eingestürzt, dennoch glich der verlassene Zustand dem ersten Gebäude. Er war verwundert darüber, wie solche Gebäude einfach leer stehen konnten, mit all den Sachen und Möbeln darin, wo doch Wohnraum allgemein knapp ist und es Menschen gibt, die auf der Flucht sind und eine Herberge benötigen. Wir folgten den anderen, immer tiefer hinein in ein Labyrinth aus Wegen, Gleisen und Gebäuden. Es war erstaunlich, wie sich die Natur hier verbreitet hatte. Nicht mehr ganz so junge Bäume wuchsen an Ort und Stelle, wo normalerweise nichts wachsen würde: Auf ehemaligen Parkplätzchen, auf Gleisen und Hütten. Schließlich erreichten wir ein großes, mehrstöckiges Gebäude, dessen Fenster teilweise zerschlagen, teilweise mit Gittern verhangen waren. Dort sah ich dann einen weiteren Freund und fragte ihn, ob er irgendwas weiß. Mit einem breiten Grinsen sagte er, er habe die Nachrichten geschrieben. Dieser Fuchs! Ich dankte ihm für all die Aufregung, die wir im Voraus hatten, und dass dieser Ort ja ein Schatz sei, wie viel es hier doch zu entdecken gab. Er schickte uns für eine weitere Erkundungstour durch das Gebäude, in dem alles stattfinden sollte. Tatsächlich ein Filmabend.

Boris und ich, wir sahen uns Stockwerk für Stockwerk um, fanden Lagerräume, Schulungsräume, Büroräume und noch viele weitere Menschen vor. Manche Räume waren sogar noch möbliert, in manchen standen alte IBM-Computer herum. Überall lagen Akten und Unterlagen und Baupläne auf dem Boden verstreut.

Wir gingen nochmal raus und setzten uns zu den anderen Leuten auf den Boden, quatschten mit den neuen Bekanntschaft über Dies und Das, über alles Mögliche. Sodann wurde laut die Einladung ausgesprochen, hineinzukommen, es ginge bald los. Ich holte mit Boris noch zwei Freunde am Tunneleingang ab, damit sie sich nicht verlaufen, es war schon recht düster geworden.

Im „Kinosaal“ lief bereits die Werbung; der Beamer wurde über ein Aggregat mit Strom versorgt, Sound kam aus einer Bluetoothbox. Um die 30 Leute hatten es sich auf dem gefegten Boden, auf Decken mit Knabberzeug und Getränken gemütlich gemacht. Nach der Werbung wurde der Film mit einer kurzen Ansprache präsentiert: „Stand by me“, passend zum Ort. Im Film waren oft Züge zu sehen, und als ob es geplant gewesen wäre, hörten wir zu den Szenen immer Züge vorbeifahren, echt Züge, draußen. So gab es viele absurde Momente, in denen sich Filmrealität- und reale Realität mischten, in denen alle lachen mussten. Die Stimmung war sehr schön, geruhsam und dem Ort gegenüber respektvoll.

Mit Ende des Filmes löste sich die Menschenmenge auf. Es wurde noch aufgeräumt und gequatscht, und trotz Aufbruchstimmung verband uns alle ein Gefühl der Solidarität: Gemeinsame Abenteuer schweißen zusammen. Ein Freund nahm mich und Boris in seinem Auto mit, das lange Ruhen hatte sich nicht gut auf meinen Fuß ausgewirkt.

Zu Hause verband Boris meinen Fuß, das Gehen war danach stabilisiert und recht gut möglich. Während ich einen plötzlichen Schmerzstress mit Schmerztropfen zu überwinden versuchte, bereitete uns Boris ein paar Brote zu. Wir saßen noch lange auf meinem Balkon, wir aßen dabei und sprachen über unsere Familien, über Väter und Mütter, über die Bedeutung von Zufällen, über Menschen im Besonderen, die das Leben zum Guten hin beeinflussen.

Was war dies nur für ein surrealer Tag gewesen?, fragten wir uns. Supercool und wunderschön, bisschen creepy und sicher auch illegal. Wir waren geflasht von unseren Erlebnissen und den schönen, eigentümlichen Orten, von den tollen Menschen und wahrlich verrückten Zufällen.

Es war spät in der Nacht, als wir erschöpft und sehr zufrieden Haut an Haut einschliefen.


Die Welt steht Kopf.

29. August 2019

Ich war abends mit Thomas auf dem Dach der Grimmwelt, da kann man sehr gemütlich sitzen und auf die Stadt schauen. Wir laberten und laberten, irgendwann hatten wir Hunger und gingen paar Minuten zu einem Imbiss, bestellten was und haben uns raus auf die Straße gesetzt, weil es drinnen so heiß war.

Da kam so ein Typ gelaufen, oben ohne, er trug so eine weite Hose aus Patchwork, die ihm bis an die Waden reichten, weiß nicht genau wie die heißen. Er hatte so Barfußschuhe aus Leder. Seine dunkelblonden Haare waren etwas länger, sie waren teilweise zum Zopf gebunden. Er sah sehr freundlich und zufrieden aus. So mein Alter würde ich sagen.

Als er gerade in den Laden wollte, um zu bestellen, sagte ich: „Coole Schuhe. Sind das Barfußschuhe?“ Er so: „Ja, aber die sind doof. Gehen schnell kaputt.“ Er zeigte mir die Sohle, die schon aufgescheuert war, wo seine Haut zu sehen war. Thomas‘ und meine Bestellung war fertig, ich ging mit dem Mann in den Laden. Ich ließ ihn vor und er bestellte eine Pommes und quatschte kurz mit dem Verkäufer, fragte ihn wie es ihm geht. Der Verkäufer war ganz verblüfft. Nachdem ich bezahlt hatte, sah ich, dass der Typ auf der Straße Handstand und dabei so Yogazeug mit den Beinen machte. Er meinte dann zu mir, dass er es mit einer Hand noch nicht hinbekomme. „Wenn ich doch nur keine Angst hätte, hinzufallen, dann könnte ich es.“

Ich fragte ihn, ob er aus Kassel ist. Er sagte nein, er sei gerade hier, um Menschen zu helfen, heute sei er mit einer Freundin unterwegs gewesen. Da fragte ich, was er so macht im Leben. Er sagte, er lebe seit knapp drei Jahren nirgends, sei mal hier, mal da. Ich fragte, ob er bei der Freundin untergebracht sei. Nein, er lebe in seinem Auto. Es sei auch keine richtige Freundin, nur eine Bekannte.

Dann hab ich ihm von einem Freund erzählt. Dass dieser gerade nicht weiß, wohin mit sich, von dessen aktuellem Wohnort in einer Gemeinschaft, in der er sich nicht richtig wohl fühlt, dass er sich hier eine Kommune angeschaut hatte, von dessen Sehnsucht, völlig frei zu sein, autonom zu leben nur mit Sachen, die er auf seinen Schultern tragen kann.

Ich fragte den Mann vor mir, wie er entschieden hat, so zu leben. Was sein Rat an den Freund wäre. Er sagte, während Thomas und ich aßen, dass er eines Tages aufgewacht sei und nicht mehr leben wollte wie vorher. „Ich sehe die Menschen heute und wie sie immer unglücklich sind, das aber gar nicht merken. Schau‘ dich doch mal um, das alles war früher einmal eine Utopie und heute ist es Wirklichkeit. Wir leben in einer Utopie! Aber es stimmt etwas mit dieser Welt nicht.“ Dass er die Produktions- und Lebensweise hier seltsam finde. Dass es ein langer Weg für ihn war und immer noch sei. Dass er Phasen habe, da konsumiere er ganz viel, sei sesshaft, dann habe er wieder Phasen, da sei er Asket. Das sei so ein Hin und Her, das habe er einfach akzeptiert und seitdem sei er ganz froh. Es sei aber nicht einfach, und glücklich sei er auch nicht immer, doch kenne er die Gründe. Er genieße einfach die Schönheit, vor allem die Natur, er finde überall was Schönes. Dass er überall zu Hause sei, weil er zu sich selbst gefunden habe.

Ich solle den Freund von ihm grüßen. „Sag‘ ihm, dass wenn er in sich selbst ein Zuhause gefunden hat, dann kann er überall zu Hause sein. Dafür muss er nicht im Wald leben. Wo er wohnt ist egal. Ich hab für mich gelernt, dass ich nicht ganz alleine sein kann. Also helfe ich einfach, wo ich kann. So hab ich viele Menschen kennengelernt. Was ich brauche, generiere ich mir einfach. Ich wünsche mir etwas, und paar Tage später habe ich es.“

Dann war seine Pommes abholbereit und er hat uns guten Appetit gewünscht. Mit der Tüte in der Hand hat er Rad geschlagen und ist so über die Straße geradelt. Eine stark befahrene Hauptstraße. Und wie so ein Heiliger ist ihm nichts passiert und er war fort.

Ich wollte ihn eigentlich fragen, ob er für die Nacht eine Unterkunft braucht. Ich hab, glaub‘ ich, noch nie so einen Menschen getroffen. Er hat wirklich wie ein Heiliger auf mich gewirkt. Ich hätte noch so gerne mehr mit ihm gesprochen.

Nach ein paar Minuten ist dann Thomas zu seiner Tram und meine sollte später kommen. Ich hab in der Zeit das Auto des Mannes gesucht, es musste ja irgendwo geparkt sein, und in der Innenstadt gibt es nicht so viele Orte, wo das geht. Bin so um ein paar Blocks gelaufen. Ich hab ihn leider nicht gefunden.

Ich hab ihn nichtmal nach seinem Namen gefragt, ich war so fasziniert von ihm, von dem zufälligen Gespräch, von seiner Mimik. Wie kann ein Mensch nur so aussehen? Einfach heilig.


Der Kater.

20. August 2019

Ich war im Schwarzwald, bei meinen Eltern; meine Großeltern waren auch da. Mit jedem Besuch und je mehr Zeit ich mit der Familie verbringe, umso entfremdeter fühle ich mich. Alle leben so vor sich hin, es wird viel geredet und dabei über nichts, was nicht Alltäglichkeit oder irgendwie Tagesgeschehen wäre. Es wäre wohl ganz okay, wenn ich nicht so ein Alien wäre. Eine Stufe weiter, im Sinne von: Mir fehlt in allem die Tiefe. Es gibt auch keinen Raum dafür, so absurd ist alles. Ich verstumme dort immer, ziehe mich zurück in mich hinein. Sitze da wie eine Hülle, höre alles, sehe alles. Beteilige mich zwar auch mal an Gesprächen, doch irgendwie nicht so, wie ich es sonst mache. Was ich sage oder zu sagen hätte, verhallt einfach. Vermutlich zu komplex und weitreichend und gefühlslastig. Auch stelle ich zunehmend eine sprachliche Barriere fest: Ich kann meine Gedanken auf Türkisch nicht so schnell und bedacht ausdrücken wie auf Deutsch, ich brauche zu lange dafür. Im Alltag fehlt mit die Gelegenheit der Anwendung, fehlen mir die Menschen, mit denen ich mich auf Türkisch in aller Tiefe unterhalten könnte, wie ich es brauche. Andererseits ist so ein Besuch in der Elternwelt gut für mich, so weiß ich doch mein Leben fern der Familie zu schätzen. Wie ein Resetknopf. Familie ist wohl immer der gleiche Wahnsinn, ganz egal, wie man zueinander steht.

Ich war auch beim Freitagsgebet in der Moschee, war ein seltsames Erlebnis. Äußerlich die Bewegungen mitgemacht, innerlich die arabischen Worte gesprochen und gedanklich doch ganz woanders gewesen. Ich fühlte mich teilweise schuldig, dass ich inmitten dieser Menschen war, wusste aber gleich, es einzuordnen. Es waren die alten Gedanken und Erinnerungen, die da hochkamen.

Eine Sache ist mir diesmal klar geworden. Die Erkenntnis finde ich mega witzig, weil absurd, gleichzeitig irgendwie tragisch und naja, dadurch eigentlich noch witziger.

Seit meine Eltern einen Kater haben, seit 2013 oder so, ist meine Lebensweise scheinbar nicht mehr so wichtig für sie. Zumindest diskutieren sie seitdem nicht mehr so viel mit mir darüber, seit einigen Jahren schweigen wir dazu einfach. Den Kater lieben sie wie einen Sohn, sie sagen auch wirklich „mein Sohn“ zu ihm. „Mein Sohn, komm‘ her zu mir!“ Dann streicheln und füttern sie ihn. „Ja, mein Sohn ist ein guter Sohn! Wie schön du bist! Hast du fein gemacht.“ Dann wird er gekrault und gekämmt. Abends legt er sich auf das Sofa, neben meinen Bruder, auf meinen Vater, und er wird beim Fernsehen gestreichelt. Vor dem Schlafengehen gibt es noch ein Leckerli. „Ja, warst aber auch brav heute! Hier hast du deine Belohnung. Ey, nicht alles auf einmal!“

Er ist ein wunderschöner Kater, ruhig, er maunzt ganz goldig, ist superflauschig, so ein weiches Fell hab ich noch nie gefühlt. Ein rundum sehr hübscher Sohnersatz. Er heißt auch noch Pascha, passenderweise. So hat mich mein Vater als Kind auch mal genannt.

Meine Eltern sind ein oder zwei Jahre nach meiner Flucht in ein Haus gezogen, darin hab ich so ein Zimmer, das sie für mich eingerichtet haben. Da schläft der Kater zuweilen. Im Zimmer steht ein riesiges Bücherregal, darin tausend Bücher über den Islam und wie man zum Glauben zurückfindet etc. Der Kater hat auch schonmal das Bett markiert, wenn ich da war. Was maße ich mich auch an, mich da reinzulegen! Als ob er sagen wollte: „Wer bist du eigentlich, du komischer Besucher! Kommst einzweimal im Jahr und legst dich in MEIN Bett! Ich bin der Sohn hier im Haus. Verpiss dich, hier hast du erstmal schön meinen Urin, viel Spaß damit.“ Streicheln lässt er sich von mir. Einmal hatte ich die Tür nicht geschlossen, da kam er und wollte mich wohl im Schlaf ersticken. Hat sich so auf mein Gesicht gedrückt, dass ich aufgewacht bin!..

Ich glaube, durch den Kater haben sich meine Eltern selbst geheilt. Anstatt mich heilen zu lassen, haben sie sich mit dem Kater von ihrem Sohn geheilt. Irgendwie schön, und durchaus witzig. Ich lache mich gerade tot. Vielleicht sollte ich so Therapien anbieten? Kauft euch einen Kater, liebt ihn wie euren verlorenen Sohn, und schon ist die Welt eine andere! Liebe für den Kater, Freiheit für den Sohn!

„Wieso tust du dir das an? Ich würde mich gedemütigt fühlen.“ — Es berührt mich nicht mehr. Vor ein paar Jahren fand ich das komisch und demütigend, konnte aber nicht zuordnen, warum. Jetzt hab ich es erkannt und freue mich für meine Eltern. Sollen sie „ihren Sohn“ streicheln und lieben. Es macht mich frei. Seitdem müssen sie mir ihre „Liebe“ nicht mehr aufzwingen, weil sie die scheinbar an den Kater schenken und er nimmt sie schnurrend an. Seit dem Kater tatsächlich ist alles entspannter für mich. Sie rufen nicht mehr jede Woche an. Ich rufe auch mal an, sechsmal im Jahr oder so. Sie nerven mich insgesamt weniger.

„Unsere Eltern haben ihr Bestes gegeben, trotzdem schulden wir ihnen keine Loyalität. Frage dich immer: Würde ich einem Fremden, der sich mir gegenüber so verhält, Respekt zollen? Die Antwort könnte weh tun.“ — Ich kenne die Antwort. Es schmerzt von Jahr zu Jahr weniger. Vielleicht ist dieses Erstarren hier ein Teil davon, dass auch ich mich löse von meiner „Schuld“. Ich habe keine, das weiß ich. Und dennoch ist jeder Schritt in dieser Welt, der Elternwelt, von Schuld gepflastert. Das werde ich aber auch noch schaffen zu überwinden.

Ich glaube, meine Eltern checken gar nicht, was für ein genial witziges, psychologisch wertvolles Schauspiel sie da mit dem Kater veranstalten. Sie spielen sich selbst eine heile Eltern-Kind-Welt vor. Wenn das ihr Umgang ist, dann sei es so. Ich freue mich darüber, dass sie einen Weg für sich gefunden haben. Sollen sie den flauschigen hübschen Kater streicheln, mir ist es recht. Ich liebe den Kater dafür.

„Du solltest dir zwei Hunde holen. Und sie Anne und Baba nennen.“


(1) Das Spiel geht weiter.

7. August 2019

Sonntag war ein sehr surrealer und wunderschöner Tag, gespickt mit allerlei Mysterien und seltsamen und wahrlich verrückten Zufällen. Ich glaube, dass das Leben mir mit Absicht solche Tage beschert, weil ich mich auf die Welt und auf ihre Verrücktheit einlasse und zuweilen keine Erwartungen an irgendwas stelle. Allein das überrascht mich je und je, doch war dieser Sonntag von besonders strahlender Surrealität. Ich fange mal an zu erzählen.

Am Abend zuvor, am Samstag, waren Boris und ich auf dem Kasseler Zissel, einem Jahrmarkt entlang der Fulda. Wir badeten im lichten Farbenmeer, blieben hier und da staunend stehen und beobachteten belustigt das Treiben der Menschen. Ich kam auf die Idee, dass wir unweit vom Jahrmarkt Nadja an ihrem Arbeitsplatz besuchen könnten, wenn sie zufällig da ist. Boris wollte nämlich einige meiner Freunde kennenlernen, von denen ich ihm wieder und wieder erzählt hatte. Und so lernte er Nadja kennen, und zwar genau dort, wo Marcus, nun ihr Mann, ich der Trauzeuge, sie kennenlernte vor Jahren, als ich mit ihm dort auf einem Konzert war. Spät nach Mitternacht und durch einige Erfrischungen aufgeheitert begleiteten wir Nadja zu ihrem Auto, sprachen noch eine Weile, hörten Nadja zu, wie es sonst hier ist, nachts alleine zum Auto zu laufen und von betrunkenen Männer belästigt zu werden, gerade jetzt während des Zissels; sie war sehr froh, dass wir plötzlich aufgetaucht waren. Wir versprachen, am nächsten Tag zur Mittagszeit vorbeizuschauen, verabschiedeten sie in den wohlverdienten Feierabend und schlenderten weiter über den Zissel, aßen ausgesprochen leckere und für den Moment perfekte Fischbrötchen, hörten irritiert und belustigt einem rundlichen, schwer genervten Trinkflaschenverkäufer zu, wie er mich laut per Lautsprecher beleidigte, weil er – warum auch immer – annahm, ich hätte an seinen Wagen gepinkelt. Schließlich trafen wir auf Christoph, den ich flüchtig von einem Uniseminar kenne, dessen Namen ich immer wieder vergesse und den ich sehr oft irgendwo zu sehen bekomme. Die Gespräche laufen dann in etwa so ab: „Hey du! Na? Ich hab wieder deinen Namen vergessen. Wie war er nochmal?“ – „Boah, verflixt, ich hab deinen auch vergessen. Also ich bin Christoph, und du?“ – „Ich bin sowieso.“ – „Mensch, wie oft müssen wir uns noch treffen, damit wir endlich die Namen können. Ist doch echt verrückt!“ Und so war es auch dieses Mal wieder. Wir quatschten ein wenig, Boris bewunderte seine Haare und bald trennten sich unsere Wege. Auf dem Heimweg saß ich mit Boris auf einer Parkbank im Dunkel des Aueparks und wir sprachen mit weitem Blick über die Welt und wie schwierig es zuweilen ist, hineinzupassen und zuzusehen, wie diese vom Menschen zerstört wird, die Grundlage allen Lebens, die Natur, wie es ist, ewig auf der Suche nach einem Ort für das eigene Selbst zu sein. Unsere warmen Hände streichelten sich und später das Haar und das mittlerweile in der Nacht erkaltete Gesicht des Anderen. Durch den Park gingen wir nach Hause, über eine Brücke, vorüber am Spielplatz, an dem wir vor zwei Monaten die Sterne beobachteten und einen Waschbären fütterten, der gierig und süß und freudig aus unseren Händen fraß, vorbei an der Wohnung eines Freundes, in der kein Licht brannte, und vorbei am Balkon eines anderen Freundes, der zufällig in diesem Moment eine Spinne aus der Wohnung brachte. Wie unwahrscheinlich war es, ihn so spät in der Nacht anzutreffen? Es war schon vier Uhr morgens, als Boris und ich Haut auf Haut einschliefen.

Am frühen Nachmittag, es war ein schöner, sonnig-wolkiger Tag, haben wir uns auf den Weg zu Marcus und Nadja gemacht. Unterwegs trafen wir die beiden und ihre zwei kleinen Kinder. Sie waren gerade dabei zum Jahrmarkt zu laufen, wir schlossen uns an. Sonntag nun schlenderten wir alle zusammen, begleitet von Sonnenschein, durch die Stadt und über den vollen Jahrmarkt mit seinen tausend Gerüchen und Angeboten, unser Ziel war ein Kinderkonzert. Neben den Kindern freute sich besonders Boris darüber, seine granitfarbenen Augen groß und die Lachfalten sichtbar, wohl aus beruflichem wie auch aus seinem Kindskopfinteresse heraus. Nach gute Laune machender Musik und einer köstlichen Schokobanane, nach kühlender Erdbeerbowle und Riesenradfahren mit den Kindern machten Boris und ich uns auf den Weg zu einem besonderen Ort.

Ich hatte ihm vor ein paar Wochen geschrieben, dass ich einen Ort entdeckt habe, den ich ihm unbedingt zeigen muss. So war nun endlich der Tag gekommen. Über den Ort hab ich ihm genau nix erzählt, ich wollte ihn nicht beeinflussen in seiner Wahrnehmung, Interpretation und es sollte ja auch spannend sein. Wir fuhren mit dem Bus durch die ganze Stadt, bis an ihr Ende, zum Fuße des Habichtswaldes am Rande des Bergparks. Mit uns im Vierer fuhr ein kleines Mädchen, vielleicht drei Jahre alt, zuckersüß und Freude strahlend, das uns fragte, ob wir denn schon neun Jahre alt alt sind, schon zur Schule gehen, das Boris‘ Armkette sehr hübsch, doch für ihr kleines Handgelenk zu groß fand, das meinen Rucksack gegen ihre kleine Handtasche tauschen wollte, die innen drin mit rotem und sehr frischem Kaugummi verklebt war – ein schlechter Deal für mich! Zwischendrin gab die offensichtlich geisteskranke Mitfahrerin neben uns seltsame Sachen von sich, ohne jeglichen Kontext, sprach lauthals mit nicht anwesenden Personen und schrie diese an und sagte irgendwann zu uns zwei Erwachsenen „Mit Fremden spielt man nicht!“ und zum schwarzen Mädchen: „Wage es nicht! Du bist winzig und ich bin groß, viel stärker als du!“ Zum Schluss ihres Satzes fletschte sie ihre Zähne und imitierte ein gruseliges Tiergeräusch, chchchchch! Das Mädchen lachte nur darüber. Wir waren froh als die Frau endlich ausgestiegen war, noch bevor sie das Mädchen irgendwo hinschubsen konnte. Wir hätten nicht zugelassen, dass sie dem kleinen Mädchen irgendein Haar krümmt. Noch vor unserer Zielhaltestelle stieg auch das Mädchen mit ihrer Mutter aus. „Tschühüüüß!“

Von der Endhaltestelle aus gingen wir in den Wald. Ich fragte Boris, ob er irgendeine Ahnung hat, was ihn erwartet. Er sagte, er habe sich keine Gedanken gemacht, wollte sich überraschen lassen. Er rätselte ein wenig und kam natürlich nicht drauf – mir selbst ging es vor ein paar Wochen auch so. Ich schwieg weiter über den Ort. Mitten im Wald, der uns saftig-grün und voller alter Buchen umgab, stand ein bewohntes Häuschen, ein sehr schönes, mit einem gigantischen Garten, in das sich Boris instant verliebte. „Da will ich wohnen! Oder irgendwo hier im Wald und dann einen Waldkindergarten, genau hier, das wäre mein Traum!“ Kurz nach dem Häuschen erreichten wir den Ort. Der Weg führte uns immer tiefer in das mystische und wunderschöne Geheimnis dieses Waldes, dunkelgrünes Moos bewuchs Baumwurzeln und Hügel, die den Weg einschlossen und den Eindruck eines Tunnels vermittelten. Nun standen wir selbst auf einem Hügel und blickten auf den Blauen See hinab, der ringsum von Bäumen umgeben ist. Boris kletterte direkt den nächsten Abhang hinunter, ich hinterher. Er war begeistert von der Schönheit des Sees und allen Bäumen, Sträuchern, Felsen, Steinen, Wurzeln, fand sogleich eine mit Steinen errichtete Feuerstelle und sagte, dies sei der perfekte Ort für Erfahrungen der erweiternden Art. Wir saßen am Seeufer auf einem Baumstamm und nahmen alles in uns auf, und kletterten einen anderen Hügel wieder hoch, entlang an Wurzeln, die uns als Treppe und als Halt, wie ausgestreckte Hände dienten. Dort oben wuchsen Gräser, Sträucher, Blumen, Dornengestrüpp und wunderschöner, reifer Atropa Belladonna. Während mein Blick über die Schönheit der Natur kreiste, stolperte ich und knickte heftig mit dem Fuß um. Ich setzte mich auf einen Baumstamm, damit der unerträgliche Schmerz seinen Raum erhalten und ich das weitere Vorgehen abschätzen konnte, atmen und leiden, um geschärften Verstandes eine Diagnose zu stellen und eine Entscheidung zu treffen: Bruch, Bänderriss, Amputation, Belladonna oder einfach weiter? Denn die bisherige Natur war Teil des Ortes, jedoch nicht ausschließlich der Grund für unseren Besuch. Mir liefen vor Schmerzen die Tränen in den Augen zusammen, der Fuß schwoll mächtig an, einen Bluterguss konnte ich nicht erkennen, er ließ sich auch durchbewegen und humpeln war möglich, also kein Bruch, irgendwas mit den Bändern; so ging es nach kurzer Rast weiter. Zu erklettern gab es eine Menge, wir nahmen den einfachsten Weg zurück zum Waldpfad. Meine Schmerzen schlummerten alsbald mit der Wirkung des Betäubungsmittels.

Schließlich erreichten wir die Nekropole, genau genommen das erste Grab von vielen, die im ganzen Wald verteilt sind, von denen es einmal 40 Stück geben soll. Dieser ganze Ort verbindet das ewige Leben, die Natur, den Tod des Menschen und seine Kunst auf einer wunderschöne und mystische Weise. Künstler gestalten hier ihre Grabstätte, wie sie wollen, am Ende werden sie dort beigesetzt, die Gräber werden nicht gepflegt, sondern der Natur überlassen. Am ersten Grab, das als solches nicht zu erkennen ist, rätselte Boris sehr lange. Unter einer quadratisch eingefassten Glasplatte sind Fußabdrücke zu sehen, dreidimensional aus Stahl, die Versen wie ein Trichter in das Erdreich führend. Er kam des Rätsels Lösung nahe, doch wollte ich ihn nicht weiter matern, ich löste auf: Der Betrachter sieht den lebensgroßen Abguss des Künstlers, jedoch von unten, auf dem Kopf quasi. Der Abguss ist innen hohl und dient als Urne. Eine Inschrift oder wer hier liegt ist nicht vorhanden. Ich klärte Boris über diesen ganzen Ort auf, aus seinem Gesicht las ich Faszination und unbändige Entdeckerfreude.

Weiter ging es zu einer Art Tempelanlage, quadratisch, außen vier Tore aus Holz, daran jeweils eine aus Holz gefertigte Plastik, ähnlich einem Menschenkopf, die Augen verbunden durch Stahlbänder, die die Plastik an das Holz heften. In der Mitte der Arena ein quadratisches Amphitheater mit wenigen Stufen, darin mittig ein Steinblock mit den Namen der Beigesetzten und rund herum mit je einem Wort zu jeder Seite der Satz: „Das Spiel geht weiter.“ Für mich ist dies das wundersamste Grab, gleichzeitig ein schöner Ort zum Verweilen. Das Leben als Spiel zu betrachten, das weitergeht, egal was in der Arena passiert, egal wer gewinnt oder verliert, diesen Gedanken finde ich genial. Doch würden noch weitere solche Gräber folgen. Bei meinem letzten Besuch hatte ich zwischen das Holz eines Torbogens eine mysteriöse Nachricht hinterlassen, auf der Rückseite eines Kassenzettels (Vitamin B12 aus der Apotheke), der Zettel war noch immer da und wurde scheinbar mehrmals entfaltet und wieder hineingesteckt. Wir lasen meine verrückte Nachricht an die Welt. Als nächstes kamen wir an einer gigantischen, aus Granit gefertigten, runden Vogeltränke vorbei, der Durchmesser breiter noch als die Spanne meiner Arme, in der ein goldener Hase eingefasst ist. Der Hase dient als Urne, zu sehen ist er aber nicht. Die Granitschale füllt sich von selbst durch den fallenden Regen, dafür muss es selbstverständlich auch regnen. Wir und auch die Tiere des Waldes hatten Glück, dass der Samstag ziemlich verregnet war. In der Granitschale waren seit meinem letzten Besuch rot, blau und gelb schimmernde Sterne, Monde und Sonnen verstreut worden, ähnlich Glitzerkonfetti. Es sah ganz hübsch aus und wurde behutsam und wenig gestreut, so dass nicht unbedingt von Umweltverschmutzung die Rede sein konnte, wobei diese Sonnen, Monde und Sterne womöglich niemals verrotten werden.

An einem weiteren Grab machten wir Rast, denn davor stand eine Bank, ich trank Wasser und fragte Boris, ob ihn dieses Kunstwerk berührt. Er sagte nein, er fühle sich beobachtet. So ging es mir auch angesichts eines riesigen Holzauges, das die Besucher auf der Bank anblickt und sonst nichts. Das Auge des Waldes? Ein Auge aus dem Jenseits? Für mich strahlt dieses Grab keine mystische Energie aus, muss es ja auch nicht – auch allein das Sich-Beobachtet-Fühlen war ja schon ausreichend. Ich bemerkte, dass Rast meinem Fuß nicht besonders gut tut, was für den Moment doof, für die Gesundheit des Fußes allerdings ein gutes Zeichen war. Also folgten wir dem Waldpfad weiter zu den letzten zwei Grabstätten, die es heute noch zu sehen gab.

Der Waldpfad zweigt irgendwann ab zu einer Lichtung, auf der sich zwei Grabstätten befinden. Die erste setzt sich zusammen aus 97 Marmorblöcken in scheinbar zufälliger, Dominostein-artiger Anordnung, ein jeder Block groß und quadratisch auf dem Gras ruhend. Es gibt Blöcke aus weißem Marmor und es gibt Blöcke aus schwarzem Marmor. Auf den schwarzen Steinen ist immer ein Buchstabe eingraviert und golden ausgemalt, vielleicht sogar Blattgold. Nach jedem Stein mit einem Buchstaben wechselt die Richtung des Verlaufs, es lässt sich der Satz „La vita corre come rivo fluente“ lesen, was soviel bedeutet wie: Das Leben verrinnt als fließender Strom. Dieses Kunstwerk beeindruckt mich auf Ebene der Kunst am meisten, ist es doch eine Verbindung von Mathematik und Natur, von Ewigkeit und Endlichkeit, Tod und Mensch. Nach jedem Buchstaben wechselt die Verlaufsrichtung, jeder schwarze Stein stellt eine Primzahl dar, die zufällig in der Mathematik auftaucht und keinem bisher bekannten Prinzip folgt. So ist es ja auch im Leben: Es passieren Dinge, scheinbar zufällige Ereignisse, und das Leben verändert sich, ändert seine Ausrichtung und folgt dem ewigen Mäandern, sucht sich je und je einen Weg durch die Welt, wie das Wasser, das zum Meere hin fließt, in das große unendliche Blau.

Weiter hinten auf der Waldlichtung stehen acht riesige Stahlplatten, rostrot, vier Stück bilden den äußeren und vier Stück den inneren Kreis. Die Platten stehen versetzt zueinander, sodass man in das Kunstwerk hineingehen kann. Auf jeder Platte ist eine andere feingliedrige und miteinander verschwungene Form hineingeschnitten, sodass man durch die feinen Linien hindurchschauen, das Grün der Lichtung oder weiter fern stehende Bäume oder gar das Sonnenlicht hindurch scheinen sehen kann. Sind es Gesichter, Fratzen, sind es Blumen, Bäume oder irgendwelche Symbole, all das ist nicht klar zu erkennen. Es bleibt dem Betrachter überlassen, was er dort sieht. Auch dies, so sagte Boris, sei ein Ort für Erfahrungen.

Auf dem Weg zurück zur Bushaltestelle erfragten wir Hilfe an dem Häuschen im Wald, sodann wurden mir Schmerztabletten gebracht. Der Weg zurück dauerte natürlich seine Zeit, wenn der eine humpelt und der andere Pflanzen mit einer App identifiziert. Auf den letzten 500 Metern kamen uns ein Mann und eine Frau entgegen, so unser Alter etwa, beide sehr zueinander passend und sehr freundlich wirkend. Sie fragten uns, ob dies der Weg zum Blauen See sei. Ja, das ist er. Nach einigen gewechselten Sätzen stellte Boris fest, dass er die beiden kannte, von gestern vom Frühstück im Café Hahn, dass sie neben ihm saßen. Welch ein Zufall! Die beiden erzählten, dass sie oberhalb der Nekropole in einem der Häuschen wohnten, die man mieten kann. Boris strahlte, sein Traum schien sich bald zu erfüllen. Wir wünschten beiden Besuchern noch alles Gute und gingen zur Bushaltestelle, denn ein weiterer Ort, der mir selbst unbekannt und dessen Existenz mich auf höchst eigenartige, kryptische und mysteriöse Weise die Woche über erreicht hatte, wartete auf uns.


Nationalpark.

30. Juli 2019

Ich war heute im Nationalpark Kellerwald, in einem sehr kleinen Bereich. Der Kellerwald ist gigantisch, ein wunderschöner Wald, eigentlich. Doch so vertrocknet, so viele tote Bäume, für meine Laienaugen schon offensichtlich krank, so viel Steppe. Dort gab es auch einen Tierpark. Dort werden Tiere gehalten, die vom Aussterben bedroht sind. Besonders die verschiedensten Vogelarten, Adler, Geier, Falken und ihre Unterarten, haben mich unglaublich traurig gemacht. Sie wurden in Käfigen gehalten, groß zwar, aber nicht zum Fliegen geeignet. Manche waren „im Freien“ und dennoch nicht frei, denn sie waren angekettet, sodass sie nicht wegfliegen konnten. Die Vögel in dem Tierpark wurden von Tierpflegern „Gassi“ geführt, mit so speziellen Handschuhen. Die ganze Zeit über haben die Vögel auf eine – für mich – herzzerreißende Art gekreischt. „Ich will frei sein, ich will fliegen!“ Begleitet von Menschen, Kindern, Schaulustigen. Ich hab den Trupp vorbeiziehen gesehen. Die Vögel habe ich noch eine ganze Zeit lang kreischen gehört, bis sie wieder eingesperrt worden sind. Wölfe, Füchse, Luchse; die habe ich nicht gesehen, die haben sich in der Hitze natürlich versteckt in ihren Höhlen oder hatten einfach keinen Bock auf Menschen.

Da ist mir klar geworden, dass der Mensch ein Monster ist. Er hat durch seine Produktionsweise die Lebensräume dieser Tiere zerstört, und macht das weiterhin, Hauptsache Profit und Geld, koste es, was es wolle, koste es das Leben. Das Leben derer, die gezwungen sind zu arbeiten, das Leben der Tiere und Pflanzen, der Natur, unserer wunderschönen Erde. Er zerstört die Lebensräume und hält sich dann ausgewählte Tiere in irgendwelchen Parks, Zoos. Damit man da durchgehen und sagen kann: „Ach, schau mal! Diese Tiere gibt es also in den Wäldern, in der Natur. Achnee, die gab es mal. Voll gut, dass sie hier noch am Leben erhalten werden. Voll schön!“ Er zerstört die Natur und nimmt den Tieren und Pflanzen die Freiheit. Ich hatte mich eigentlich gefreut, wieder im Kellerwald zu sein. Doch hat er mich heute so sehr traurig gemacht. Nicht der Wald an sich, nicht die Tiere, sondern was der Mensch aus ihnen gemacht hat.

Der Tierpark erfüllt eine wichtige Aufgabe, diese Tierarten am Leben zu halten. Doch zu welchem Zweck? Damit sich die Generationen nach uns diese Tiere anschauen können, die es so gar nicht mehr gibt, in der „wirklichen“ Welt? Wenn sie die Tiere freilassen, dann werden diese sterben. Weil sie nirgends mehr leben können.

Neulich habe ich ein Bild von der Erdkugel gesehen, aus dem Weltall aufgenommen, und darunter stand: „Aus Planetensicht gibt es nur ein einziges ökologisches Problem: Uns.“ – Wünschen wir ihm, dass er bald drüber weg kommt.


Mit blauem Auge davongekommen.

28. Juli 2019

Aus einem blauen Auge sah der Baum mich an, alt und blau wie der See, an dem er stand. Er sprach kein Wort, er konnte nicht sprechen, denn ein Mund war ihm nicht gegeben. Sein Auge drückte alles aus, vielmehr noch als mit Worten möglich, einen Mund brauchte er nicht. Ich stand lange vor dem Baum und habe ihn betrachtet. Er zeigte mir sein ganzes Leben auf, wie jung er am Anfang seiner Tage und Jahreszeiten war, wie er gebrochen wurde, was ihm alles zugestoßen war, was er alles gesehen hatte, wer alles an ihm vorübergezogen war, Narben hinterlassen hatte in seiner schützenden Rinde. Es wurde dunkler und dunkler um mich, bedrohlich schnell zogen Wolken auf, erst grau wie Asche, dann schwarz wie Pech. Der Wind wurde kräftiger und kühler, das Laub zitterte aus Furcht vor dem Sturm, schon tönte das erste Donnergrollen. In der schwarzen Dämmerung leuchtete nur noch das Auge mir entgegen, blau wie aus einem Zaubermärchen. Und plötzlich zwinkerte der Baum mir zu, so glaubte ich und spürte einen tiefen Schrecken, bis hinein in mein Rückenmark, ein schreckliches Aufleuchten in der dunkelsten Kammer meines Herzens. Ich lachte zweifelnd. Wie schön ich mich selbst getäuscht hatte. Das hatte ich doch, oder etwa nicht?

Nun schnell nach Hause!


Träumer.

24. Juli 2019

Ich saß heute lange am Fenster und habe auf die Straße geschaut, es war schon Nacht. Ich saß im Dunkeln, von der Straße aus gesehen wohl nur ein Schatten hinter Glas. Viele Menschen habe ich gesehen, wie sie lachten, wie sie grimmig aussahen und auch weinten, wie sie allein waren oder zu zweit, in Grüppchen, als Freunde, Familien. Ich sah sie sich umarmen, sich streiten, sah sie sich gegenseitig ärgern, sah sie betrunken, sah sie einsam. Ich sah sie sich lieben, sich halten. All das hat eine große Sehnsucht in mir entfacht. Eine Leere, die ich nicht aufgefüllt bekomme. Und nun kommt der Schlaf nicht zu mir. Er sagt, der Träumer am Fenster braucht keinen Schlaf, er träumt ja schon sehenden Auges.


Halte mich fest, ganz fest, fest.

19. Juni 2019

Ich fühle mich immer öfter zerrissen. Wie ein Granatapfel, der mit enormer Wucht auf dem Boden aufgeschlagen ist, schwer von all der Last, zersplittert in tausend blutige Teile, kein Ganzes mehr. Es ist ein seltsames Gefühl, entspringt es doch immer wieder der Erkenntnis, dass ich mein Wesen zum Wohle vieler Menschen einsetze. Was ja eigentlich schön ist.

Das, was ich mache, betrifft entweder einige wenige, mir bekannte Menschen, meine Freunde, denen ich aufgrund meiner Fähigkeiten und Netzwerke helfen kann, wenn sie meine Hilfe brauchen oder meinen Rat erfragen, oder gleich Tausende, Zehntausende, die ich niemals kennenlernen werde, die indirekt von meinen Entscheidungen profitieren und deren Leben nachweislich ein besseres ist, als es zuvor der Fall war. Ich habe mir schon oft vorgestellt, wie ich aufgrund meiner Handlungen mit all diesen Menschen verbunden bin. Abertausende hauchdünne Fäden aus weiß schimmerndem Licht, ausgehend von meinem Geist.

Die Verantwortung diesen vielen Menschen gegenüber, seien sie mir nun bekannt oder auch nicht, sie lastet schwer auf meinen Schultern. Ich nehme meine Aufgaben ernst und führe sie gewissenhaft aus. Ich weiß, ich bin niemandem etwas schuldig. Und doch erdrückt mich das Wissen, dass ich all diese Leben berühre durch das, was ich mache. In diesen Momenten weiß ich: Ich bin nicht traurig. Ich glaube, dass ich zutiefst überwältigt bin. Überwältigt von all den imaginären Verbindungssträngen. Wie viel Kraft und Energie kann ein einzelner Mensch aufbringen? Wie viel meiner eigenen Kraft kann ich zum Wohl der Menschen aufopfern? Wann ist meine Energie erschöpft? Ich bin manchmal so sehr müde, dass ich nicht schlafen kann. Sollte mich das nicht beunruhigen?

Manchmal schlendere ich durch die Straßen, auf dem Weg in eines der vielen Betten, in denen ich schlafe, wenn ich wieder einmal unterwegs bin mit dem, was ich mache. Und ich denke: Dieser Himmel, immer dieser wunderschöne Himmel mit all seinen Sternen, mal mit mehr Wolken, mal mit weniger Sternen, je nachdem, wo ich gerade bin, welche Jahreszeit gerade ist. Immer dieser Himmel, der sich scheinbar nie im Wesen ändert: Und doch milliardenfach vereinzelt wie ich. Was ändert sich schon? Warum fühle ich so? Weshalb kann ich nicht mal glücklich sein vermöge meiner Erfolge, warum kann ich sie nicht genießen, warum kann ich aus ihnen keine Kraft für mich zehren?

Heute habe ich mich gefragt, ob ich all das seit Jahren mache, um meinem Leben einen Sinn zu verleihen. Ja, sicherlich mache ich das deswegen. Oder etwa nicht? Ist das der Tatsache geschuldet, dass ich schon über die Hälfte meiner Lebenszeit den Eindruck habe, als Sohn zu versagen? Egal wie viel ich mache, egal wie vielen Menschen ich helfe, egal wie menschlich gut und menschlich erfolgreich ich bin. Egal wie stark ich werde, wie gebildet, wie strahlend schön. Und doch: Niemals wird mir das, was ich mache, diese Art der Bestätigung und Liebe geben können, die mir zu fehlen scheint, die ich mir in den Tiefen meines Herzens so sehr zu wünschen scheine. Kann es dieses Maß an Liebe überhaupt geben? Lässt sich diese meine Sehnsucht jemals real stillen? Nein?

Vielleicht ist das Ehrenamt mein Opium. Vielleicht betäube ich mich auch einfach mit all der Arbeit und den Aufgaben und der Verantwortung, um den Gefühlen und Gedanken des Versagens, der Sehnsucht und der ewigen Suche nach Liebe nicht allzuoft ausgesetzt zu sein. Manchmal platzt es eben heraus und ich spüre dann nur jene Überwältigung. Ist das eine Art von Selbstschutz? Wenn ein Mensch nicht mehr fühlen kann, als er ertragen kann, fühlt er sich dann überwältigt?

Fürchte ich die Nähe vielleicht deshalb so sehr? Die Nähe, mit der ich wahrlich tiefe Wurzeln in den Herzen der Menschen zu schlagen im Stande bin? Kommt die Angst, mich zu sehr auf einen Menschen einzulassen, daher? Fürchte ich mich deshalb davor, mich zu verlieben? Mich in den Augen, im Geist und an den Worten eines anderen Mannes zu verlieren? Muss ich deshalb meine Kraft, Energie und Liebe auf die vielen Menschen aufteilen? Um Distanz zu wahren? Und am Ende fühle ich mich doch so sehr zerrissen, stürze über all die weiß schimmernden Verbindungen zu Boden. Alles fesselt mich und nichts hält mich.

Ich habe so viel Liebe zu geben, so viel, und doch fürchte ich zu lieben. Habe Angst, fallengelassen zu werden, zu versagen, nicht zu reichen, nicht zu gefallen.

Hallo, Angst. Meine Angst, zu lieben. Komm‘ in meine Arme. Ich halte dich fest, ganz fest, fest.


Give me a reason to stay.

15. Juni 2019


Gasthermennotfallerlebnis.

9. Februar 2019

Eine meiner positiven Angewohnheiten ist es, vor dem Verlassen der Wohnung ein frisch gezapftes Glas Wasser zu trinken. Dabei ist mir heute Morgen ein seltsames Blinken an der Gastherme aufgefallen: Anstelle der aktuellen Wassertemperatur wurde in roten, wild blinkenden Lettern „E8“ angezeigt. Zusätzlich gab die Gastherme ein ungewohntes Knistern von sich. Da ich warmes Wasser zum Duschen hatte, musste der Fehler etwas mit dem Heizungssystem zu tun haben. Der ICE würde nicht auf mich warten, also öffnete ich fix die Klappe der Gastherme und blätterte im Handbuch. Ich konnte allerdings keinen Fehler namens E8 finden. Mittwoch wurde im Keller der Gaszähler getauscht, da gab es auch einen Fehler. Vermutlich, weil Luft in der Gasleitung war. Ich dachte so: Sicherlich der gleiche Fehler. Ein/Aus hatte da geholfen. Jetzt noch den Entsperrknopf drücken und dann schnell zum Zug!

Als ich zum Abend hin wieder zu Hause war, wurde das Wasser zum Händewaschen einfach nicht warm. Ach, da war doch was. Die Therme zeigte wieder E8 an. Ich öffnete die Klappe und wählte auf meinem Handy die eingeklebte Nummer vom Heizungstechniker. Kein Anschluss unter dieser Nummer. Googlen brachte nichts, also suchte ich die Nummer des 24-Stunden-Dienstes aus dem Mietvertragsordner heraus.

Hausverwaltung sowieso, wie kann ich Ihnen helfen? – Guten Abend, ich bin der Herr sowieso aus der sowieso Straße. Meine Gastherme zeigt einen Fehler an, den es im Handbuch nicht gibt. Heizung geht nicht und es gibt kein warmes Wasser. – Okay. Ich rufe den Notdienst an, der meldet sich dann gleich bei Ihnen. – […]

Wenige Minuten später klingelte mein Handy: Guten Abend, schön dass Sie so schnell anrufen. Meine… – Wer sind Sie denn überhaupt und was wollen Sie von mir? – Ähm, ich bin der Mieter mit der kaputten Gastherme. – Ja, und wie heißen Sie? Es ist üblich am Telefon den Namen zu sagen, meine Güte. Ich bin Heizungstechnikermeister sowieso. – Oh, entschuldigen Sie. Ich dachte, die Hausverwaltung hätte Ihnen meinen Namen gegeben und das Problem geschildert. Ich bin der Herr sowieso aus der sowieso Straße. Meine Gastherme zeigt den Fehler E8 an und ich weiß nicht, warum. Heizung geht nicht, Warmwasser gibt’s nicht. – Jaja, das weiß ich doch alles. Schauen Sie halt ins Handbuch. Schönen Abend noch! – Nein, warten Sie. Im Handbuch gibt es keinen Fehler E8. – Meine Güte, welches Modell ist das denn? – Moment, bitte. Modell sowieso. – Haben Sie das Gerät ein und ausgeschaltet? – Ja, das habe ich. Ich habe auch die Entstörfunktion genutzt und den Fehler im Netz gesucht, allerdings konnte ich keine Lösung finden. – Im Netz gesucht, dass ich nicht lache! Haben Sie denn genug Wasser drin? Wie viel Bar wird denn angezeigt? – Die Anzeige ist bei null, aber das kann eigentlich nicht sein. Mittwoch erst war der Schornsteinfeger hier und da waren es noch 1,5 Bar. Die können ja nicht einfach verschwunden sein. Achja, und der Gaszähler wurde auch an dem Tag getauscht. – Jajaja, das kann nicht sein, aber eigentlich ja doch. Was ist denn nun wahr? Ich sage Ihnen jetzt mal was: Sie haben da kein Wasser drin und das ist kein Notfall. – Wie kommt das denn zustande? Das Wasser kann ja nicht einfach aus dem Kreislauf verschwinden. – Füllen Sie es halt nach, ich glaub’s ja wohl nicht. Haben Sie das etwa noch nie gemacht? Himmelherrgott! Kein Wunder, dass nichts geht! Wie lange wohnen Sie da? – Drei Monate. – Dann sei es Ihnen ausnahmsweise verziehen. Es ist trotzdem Ihre Pflicht, das Heizsystem zu kontrollieren und aufzufüllen. Ganz sicher nicht meine! – Und wie mache ich das? – Das gibt’s doch nicht, alles muss man selber machen. Hat Ihnen das niemand gezeigt?! Natürlich nicht, heutzutage unterschreiben die Leute einfach. Niemand hat mehr Respekt vor solch wichtigen Handlungen! Also. Unterhalb der Therme ist ein Hahn mit einem roten Griff, da schließen Sie den Nachfüllschlauch an. Das andere Ende kommt dann da hin, wo die Spülmaschine oder Waschmaschine angeschlossen ist. 1,5 bis 2 Bar. Haben Sie das verstanden? – Äh, nein. Da sind zwei rote Hähne unter dem Gerät. – Wie zwei? Einer kommt aus der Wand, nicht wahr? Und der andere so mittig rechts aus dem Gerät? Der an der Wand ist gelb. Haben Sie noch nie Gasleitungen gesehen? Gelb sind die! – Ja, ich weiß durchaus wie Gasleitungen aussehen. Aber da ist nichts Gelbes. – Doch, doch! Ich sehe das von hier! Gelb ist das! – Nein, wirklich nicht. Ich bin doch nicht farbenblind. – Jaja, wieauchimmer. Füllen Sie das Wasser auf und dann geht der Fehler weg. Es gibt nur einen Hahn, an den Sie was anschließen können. Ansonsten komme ich nächste Woche mal vorbei und schaue mir diesen roten Hahn an, rot, haha! Das ist in Europa genormt, genormt ist das, gelb ist der! – Ja, meinetwegen. Eine Frage noch: Es ist bestimmt richtig den Nachfüllschlauch zu entlüften, wie bei einem Infusionssystem, oder? Sonst spült man ja Luft in die Venen. – Ach, sieh‘ mal einer an. Da ist wohl jemand vom Fach. Ja, machen Sie das. Und wenn der Fehler dann immer noch da ist, rufen Sie die Nummer auf dem Display an. Vielleicht ist es ja wirklich was Ernstes. Und entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit. Ich dachte, Sie sind einer dieser Idioten […] – […]

Teils verwirrt und teils schockiert nach diesem wirklich seltsamen Telefonat mit einem mürrischen Menschen legte ich den Nachfüllschlauch bereit und sah mir ein paar Tutorials auf YouTube an, die ich als viel freundlicher empfand. Währenddessen zweifelte ich an meiner Intelligenz. Vielleicht bin ich tatsächlich einer dieser Idioten? Ich hab ja wirklich keine Ahnung, wie das geht Wie in den Tutorials empfohlen drehte ich alle Heizungsventile auf, legte Handtücher und Eimer bereit. Ich entfernte den Spülmaschinenschlauch vom Wasserhahn, fixierte dort das eine Ende des Nachfüllschlauchs und an dem roten Hahn unten innen in der Gastherme das andere Ende. Vorher überprüfte ich die Existenz der Gummidichtungen an beiden Enden des Schlauchs und schaltete das Gerät ab. Das obere Ende machte ich nur locker fest, um den Schlauch zu entlüften. Vorsichtig drehte ich mit der rechten Hand den Wasserhahn auf, bis es oben zu tröpfeln begann. Mit der linken Hand machte ich den Schlauch am roten Hahn richtig fest und drehte den Hahn weiter auf. Mit den Augen beobachtete ich die Wasserdruckanzeige. Bei etwa 1,7 Bar angekommen, beendete ich den Füllvorgang und schraubte den Schlauch wieder ab. Ich schaltete das Gerät an. E8. Ich schaltete das Gerät mehrmals an und aus, drückte die Entstörtaste: Nix. Also wählte ich die Nummer des Heizungstechnikers, die vom Display.

Einen schönen guten Abend, hier ist der Herr sowieso aus der sowieso Straße. Ich bin der Mieter mit dem… – Jaja, das weiß ich doch schon alles. Haben Sie’s aufgefüllt? Geht’s immer noch nicht? Wie viel Bar? – Ja, ist aufgefüllt auf 1,7 Bar. Und trotzdem kommt der Fehler. –  Gibt’s denn sowas. Dann liegt’s wirklich nicht am Wasserdruck. Sind Sie zu Hause? Dann komme ich in der nächsten Stunde vorbei. – Ja, natürlich bin ich zu Hause. […]

Eine Stunde später klingelte es und ein sehr alter, sehr hagerer Mann kam die Treppe hochgelaufen. Er hatte ein außergewöhnlich freundlich wirkendes Gesicht und sein überaus heiteres Wesen passte genau gar nicht zu der Person am Telefon. Und doch waren diese beiden ein und die selbe Person. Einfach schizophren!

Guten Abend. Kommen Sie herein, hier ist das Problemkind. – Ach, der Hahn an der Wand ist doch tatsächlich rot. Unglaublich, ich glaub‘ die spinnen! Das kann doch nicht rot sein, das darf doch nicht wahr sein! – Ich hab Ihnen ja gesagt, dass er nicht gelb ist. So, ich mache das Ding mal an. […] Nein, das kann nicht sein!? Wie kann es jetzt funktionieren?!? Ich schwöre Ihnen, vorhin ging es nicht. Ich habe es mehrmals versucht. – Jaja, ich glaube Ihnen ja. Ich hab herausgehört, dass sie kein Idiot sind, als Sie das mit dem Infusionssystem gesagt haben. Da wusste ich: Da hat sich jemand Gedanken gemacht. So ein Heizungssystem ist wie der Blutkreislauf, wissen Sie. Und Sie haben mitgedacht, wollten den Kreislauf schützen. Sehr gut, sehr gut. Sehen Sie, hier wird der Wasserdruck gemessen, das ist aber eine Sackgasse. Sie haben durch das einströmende Wasser Verkalkungen gelöst, die haben die Messung blockiert. Wie bei einem Blutkoagel, nicht wahr? – Das ist ja dann wirklich wie im Blutkreislauf. Intravenöse Zugänge, die länger nicht benutzt worden sind, muss man auch spülen. Man erzeugt mit einer Spritze Unterdruck und zieht bisschen Blut ab, damit man das Gerinnsel nicht in den Körper schießt. Lässt sich aber nicht immer vermeiden. Deshalb werden Zugänge, die lange halten sollen, mit Gerinnungshemmern geblockt. – Ach, das ist ja wunderbar. Wunder der Technik. Aber sehen Sie, der Wasserdruck wird immer höher, je wärmer das Wasser wird. Offensichtlich ist das Sicherheitsventil kaputt, sonst würde da hinten jetzt Wasser herausfließen. Ich bestelle nächste Woche ein neues. Wir müssen jetzt aber intervenieren. – Können Sie nicht den Hahn bisschen öffnen? Darunter liegen ja drei Handtücher. – Nein, auf gar keinen Fall! Das gibt eine Riesensauerei. Wie im Krankenhaus, voller Blut! Verstehen Sie?! Reichen Sie mir den Schlauch. Wir müssen jetzt Wasser ablassen, sonst wird der Druck zu hoch. Das ist nicht gut, nicht gut! Die Rohre könnten platzen! – Das ist ja dann wie bei Bluthochdruck. Kann man ein Aneurysma von bekommen. – Ja, genau so ist es. Heizungssysteme haben so viele Ähnlichkeiten mit dem Herz-Kreislauf-System. So viele, ich sag’s Ihnen! Es ist ganz faszinierend! […]


Schillernde Sterne. (27/42)

18. Juli 2018

Mein Leben lang ist es mir schwer gefallen, gleichaltrige Freunde zu finden. Womöglich liegt es daran, dass ich Interessen habe, die in meiner Generation offensichtlich nicht besonders verbreitet sind, oder an meinem Bedürfnis nach tiefer Verbundenheit, dem bisher nur wenige Gleichaltrige entsprechen konnten. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich in meinem Leben tiefergehende Freundschaften sehr selten entwickelt haben.

Letztes Jahr im Oktober habe ich angefangen zu studieren. Die ersten Wochen war ich furchtbar überfordert mit all den Menschen, all dem Smalltalk, den Oberflächlichkeiten. Auch wenn oder gerade weil mir bewusst war, dass jede Startphase so verläuft, dass ich über die Hälfte der Leute womöglich nie wieder sehen werde, rechnete ich fest damit, auch an der Uni keine wirklichen Freundschaften zu schließen; ich wollte nicht enttäuscht werden. Dennoch habe ich die (Des-)Orientierungswochen genutzt, um Menschen kennenzulernen und mögliche Freunde ausfindig zu machen. Dass ich mit meiner Annahme selbstverständlich falsch lag, erkannte ich Anfang des Jahres. Ich habe durchaus einige Freunde gefunden, mit denen ich mich bestens verstehe; die Stärke der Freundschaften variieren natürlich.

Mit einem Menschen habe ich eine ganz besonders intensive Freundschaft entwickelt: Darius. Anfangen hat das mit einer Fahrradtour an einem der ersten Sommertage des Jahres, die uns unter eine ICE-Brücke führte. Wir schlossen unsere Fahrräder an und kletterten auf die Brücke, um auf der Versorgungsebene Rast zu machen. In etwa 20 Metern Höhe hatten wir eine phantastische Aussicht, der Fluss war direkt unter uns; die Wälder rundherum waren saftig grün, die Schäfchenwolken am Himmel strahlend weiß. Alle paar Minuten überfuhr uns ein Zug und die ganze Brücke vibrierte. Im Gespräch erst lernten wir uns richtig kennen. Ich merkte, dass ich tatsächlich einen gleichaltrigen Menschen gefunden hatte, mit dem ich wunderbar reden und teilen konnte.

Am vergangenen Wochenende, in der Nacht von Sonntag auf Montag, haben wir uns für eine Nachtwanderung verabredet. Die Idee entstand spontan: Wir wollten vom Bismarckturm aus den Sonnenaufgang beobachten. Um Mitternacht fuhr uns mein Freund zu einem Wanderplatz, von dort aus machten wir uns auf den Weg. Im Wald war es stockfinster, lediglich der schwarzblaue, mondlose Himmel, der mal mehr, mal minder durch die Baumkronen zu sehen war, gab uns Orientierung; ab und an sahen wir den Großen Wagen. Wir hatten zwar eine Lampe dabei, doch blieb diese in der Tasche; wir wollten uns der Dunkelheit aussetzen.

Kurz nach Mitternacht erreichten wir den Turm. Im Dunkeln der Nacht sah er aus wie eine riesige Schachfigur. Wir verbrachten einige Minuten davor und sahen durch hohe Bäume hinweg auf die Stadt. Zuvor hatten wir gerätselt, ob der Turm nachts vielleicht verschlossen wird. Zum Glück war er nicht verschlossen – es gab nichtmal ein Tor –, denn die Aussicht war durch die vielen Bäume und Gebüsche eingeschränkt. Wir gingen in den Turm und machten dort unsere Lampe an. Entlang der vier Wände führte eine Stahltreppe nach oben; im schwachen Licht der Lampe wirkte der Turm unendlich hoch. Vor dem Aufgang war ein Warnschild angebracht: Vorsicht, Treppe dient als Blitzableiter. Wir stiegen empor.

Oben auf der Aussichtsplattform angekommen erwartete uns im Osten der Blick auf die Stadt und ihre vielen Lichter: Von orange bis gelb war alles dabei, Autos fuhren hier und da und leuchteten rot und weiß, Einsatzfahrzeuge pulsierten blau oder orange, je nachdem, welchen Zweck sie verfolgten. Im Süden waren einige ferne Dörfer zu sehen, West und Nord waren durch den Wald gekennzeichnet; dunkle Schatten, die sich im Wind bewegten. Über uns war der wolkenlose Sternenhimmel. Die wahrnehmbare Lichtverschmutzung reichte lediglich bis zwei Finger breit über den Horizont, der sicheldürre Mond war schon längst untergegangen, sodass vielmehr Sterne zu sehen waren, als es sonst der Fall ist. Sogar die Milchstraße war zu erkennen; ein dichter, weißlicher Schleier aus Abertausenden Sternen. Besonders hell leuchteten Saturn, Mars und Wega im Süden.

Der Wind war erst angenehm, wurde dann aber zunehmend kühler. Nachdem wir einige Zeit in alle vier Himmelsrichtungen geschaut hatten, packten wir die Musikbox aus; per Bluetooth koppelte ich mein Handy daran und Darius positionierte die Box im Obergeschoss des Turninneren. Ich hatte eine Playlist vorbereitet und erweiterte sie noch um einige Titel. Mit Darius verbindet mich insbesondere der Musikgeschmack, da sind wir uns sehr ähnlich. Dann begannen wir mit der Sache, weshalb wir uns eigentlich verabredet hatten.

Wir nahmen halluzinogene Pilze ein, breiteten unsere Decken aus und legten uns auf den Boden. Die hohe Steinmauer, das Geländer des Turms, schützte uns vor dem Wind und wir konnten entspannt in den Himmel über uns schauen. Wir sahen Sternschnuppen, Satelliten und Flugzeuge und warteten darauf, dass die Wirkung einsetzt. Etwa eine halbe Stunde später begannen die Sterne zu schimmern; sie lösten sich nach und nach vom Himmel und fielen wie winzige Diamanten auf die Erde, nur um sich in Glühwürmchen zu verwandeln; über dem Turm, der Schachfigur inmitten des Waldes, hoch oben über der Stadt bildeten sie eine Kuppel aus schillernden Brillanten. Noch tauschten wir uns rege darüber aus, was wir sahen. Wenig später tauchte jeder in seine eigene Erfahrungswelt ein.

Dieses Erlebnis war ein ganz besonderes für mich. Ich konnte für eine kurze Zeit ohne jegliche Filterung fühlen, ohne direkt alles zu analysieren; mein Alltagsverstand verstummte und mein Denken wurde ersetzt durch die pure Wahrnehmung und Achtsamkeit. Ich war eins mit der Natur und eins mit allem, was mich umgab; ich empfand Glück. Ich staunte und staunte über alles, was seinen Weg in meinen Geist fand. Ich begann zu weinen angesichts der Schönheit der Welt, ich hatte schon lange nicht mehr geweint, und schon gar nicht so heftig. Augenblicke später musste ich lachen; so sehr lachen, dass mir die Zwischenrippenmuskulatur schmerzte. Manch Erfahrung war wirklich schräg, zum Beispiel dass ich kindlich wurde oder auch kurz nicht wusste, wer, wo und wann ich bin. Ich war zwischendurch nur noch ein wahrnehmendes Etwas in einem Körper, ohne Vergangenheit oder Persönlichkeit. Dieser Zustand wird auch Selbstauflösung genannt.

Als ich langsam wieder zu mir kam, zurück zu mir selbst fand, hatte ich die Angst vor dem Tod verloren. Mir war gleich, ob und wann ich sterben würde. Ich fühlte mich der Natur so nah nie zuvor; das hat mir die Angst genommen und ich verstand: Der Tod ist Teil der Natur, der Tod ist vollkommen natürlich. Ich erkannte, dass alles Physik und Chemie ist, miteinander verbunden. Dass der Mensch, für wie einzigartig oder wichtig er sich selbst auch erachtet, nur eine Ausnahme ist. Ein Nichts im unendlichen Universum, unbedeutend angesichts all der Zeit, die bereits vergangen war und noch kommen wird.

Im Nachhinein macht mich sehr nachdenklich, dass ich mich trotz all des empfundenen Glücks auch einsam fühlte. Ich wusste, ich bin nicht allein, schließlich machten wir zu zweit diese Erfahrung, dennoch spürte ich eine große Einsamkeit und Leere in mir. Sowohl in dem Zustand der Selbstauflösung, als auch danach. Ich habe verstanden, dass ich mich ganz oft im Leben einsam fühle. Einsam mit mir in meinem Kopf, gefangen im Schädel. Vielleicht ist das mein innerer Schatten, die Angst vor der Einsamkeit, die ich im Alltag nicht sehe, weil ich sie in das Schattenreich meiner Seele verdränge. Ich erkannte, dass dies meine größte Angst ist: Einsam zu sein. Ich fürchtete mich vor der Einsamkeit im Inneren, ich rief um Hilfe. Darius beruhigte mich. Es war schön, einen Freund an der Seite zu haben. Später tanzten wir im Turninneren, gingen die Treppen im Dunkeln auf und ab, sangen, lachten und weinten.

Zeit war keine feste Größe mehr, die Nacht dauerte Jahre. Dennoch ließ die psychoaktive Wirkung des Psilocins pünktlich zur Dämmerung nach. Die intensivere Farb- und Geräuschwahrnehmung blieb weiterhin. Die Musik war in der Zwischenzeit ausgegangen. Die erwachende Welt war ein einziges Farbenmeer, das Zwitschern all der unterschiedlichen Vögel ein phänomenales Konzert. Die Dämmerung verdrängte die Nacht, dem Dunkel folgte Farbe für Farbe. Violett, blau, türkis und grün breiteten sich in allen Schattierungen über den Himmel aus, die wenigen Wolken am Horizont färbten sich orange, rot, rosa. Über den Tälern bildete sich ein leichter Nebelschleier.

Und schließlich ging die Sonne auf. Das Gold ihrer Strahlen erhellte den Himmel und wärmte unsere staunenden Gesichter. Der Sonnenaufgang war der schönste, den ich je gesehen hatte; die Intensität der Farben war atemberaubend. Mit Anbruch des Tages fanden wir zurück in die Realität; wir fühlten uns wie neugeboren. Innere Ruhe machte sich breit. Wir beobachteten aus der Ferne große Kehrmaschinen, die Müllabfuhr und wie Menschen in Verkehrsmittel stiegen, um ihrem Tagewerk nachzugehen. Endlich wurde es etwas wärmer, wir sprachen über das Leben, über unsere Erfahrungen.

Wenig später setzte bei mir die Müdigkeit ein. Ich rollte mich in die Decke ein und legte mich schlafen. Darius machte Musik und sah sich noch etwas um. Er weckte mich etwa eine Stunde später und wir räumten alles auf und machten uns auf den Heimweg. Wir nahmen eine andere Route durch den Wald; eine kleine Morgenwanderung. Die Natur erschien in ihren schönsten Farben, jegliches Bunt an Sträuchern, Blumen, Schmetterlingen zog unsere Aufmerksamkeit auf sich. Der Wald duftete. Einige Male blieben wir vor gefällten Baumstämmen stehen und atmeten tief den holzig-harzigen Duft ein. Später in der Straßenbahn schlief Darius direkt ein. Ich weckte ihn an meiner Zielhaltestelle, wir verabschiedeten uns und jeder ging seinen Weg nach Hause.

Erschöpft legte ich mich ins Bett, reich an Erfahrungen, reich an Erkenntnissen. Ich schlief einen traumlosen Schlaf.


Resturlaub. (26/42)

11. August 2017

Heute habe ich an der Arbeit offiziell verkündet, dass ich am Montag meine Kündigung einreichen werde. Mein Arbeitgeber wusste bereits, dass ich ab Oktober an die Universität gehe, allerdings war lange Zeit nicht klar – auch mir selbst nicht –, ob ich komplett aufhöre oder in Teilzeit bleibe. Nun, heute dann habe ich mich entschieden, nachdem ich nach langer Wartezeit endlich erfahren habe, wie es mit meinem Stipendium aussieht.

Wenn jemand seinen Arbeitsplatz kündigt (oder wenn ihm gekündigt wird), dann stellt sich natürlich immer die Frage nach dem Resturlaub. Da es sicherlich viele Menschen gibt, die sich diese Frage stellen, möchte ich eine der gängigen Antwortmöglichkeiten hier aufschreiben.

Von den 25 Urlaubstagen, die vertraglich zwischen meinem Arbeitgeber und mir vereinbart sind, habe ich bereits 18 Tage in Anspruch genommen. Nun möchte ich Anfang September nach neun Jahren wieder Urlaub mit der Familie machen. Am 1. September beginnt das Opferfest, und die gesamte Familie und Verwandtschaft wird sich im Dorf in der Türkei treffen, um dieses zu feiern (vergleichbar mit Weihnachten). Deshalb habe ich mit meinem Chef den restlichen Urlaub besprochen – ging alles klar für ihn – und habe den Urlaubsantrag in die Verwaltung gebracht.

Die Kollegin in der Verwaltung, zu der ich ein gutes Verhältnis habe, teilte mir allerdings mit, dass ich eigentlich keinen Anspruch auf den vollen Urlaub hätte, sondern nur auf 19 Tage. Sie rechnete 25 Urlaubstage geteilt durch 12 Monate eines Jahres mal 9 Monate Erwerbstätigkeit. Nun bin ich ja ein Fuchs; ich kenne meine Rechte ganz genau. Ich erzählte ihr, weshalb ich davon ausgehe, dass ich Anspruch auf den gesamten Urlaub habe. Sie nahm die Info mit und besprach diese mit dem Geschäftsführer. Anschließend sollte ich mal beim Geschäftsführer vorbeischauen.

Die Fakten
Ich arbeite in einem Unternehmen, in dem es keinen Betriebsrat gibt und in dem kein Tarifvertrag Anwendung findet. In meinem Arbeitsvertrag sind 25 Tage Urlaub vereinbart, das heißt: 20 Tage gesetzlicher Erholungsurlaub und 5 Tage freiwilliger Zusatzurlaub vom Arbeitgeber. Ich kündige in der zweiten Jahreshälfte, bin länger als sechs Monate im Betrieb (1,5 Jahre) und war am ersten Tag diesen Jahres angestellt. Daher ist die Teilurlaubsregelung nach dem BUrlG in meinem Fall nicht anzuwenden:

§ 5 Teilurlaub BUrlG

(1)

Anspruch auf ein Zwölftel des Jahresurlaubs für jeden vollen Monat des Bestehens des Arbeitsverhältnisses hat der Arbeitnehmer

a)

für Zeiten eines Kalenderjahrs, für die er wegen Nichterfüllung der Wartezeit in diesem Kalenderjahr keinen vollen Urlaubsanspruch erwirbt;

b)

wenn er vor erfüllter Wartezeit aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet;

c)

wenn er nach erfüllter Wartezeit in der ersten Hälfte eines Kalenderjahrs aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet.

(2)

Bruchteile von Urlaubstagen, die mindestens einen halben Tag ergeben, sind auf volle Urlaubstage aufzurunden.

(3)

Hat der Arbeitnehmer im Falle des Absatzes 1 Buchstabe c bereits Urlaub über den ihm zustehenden Umfang hinaus erhalten, so kann das dafür gezahlte Urlaubsentgelt nicht zurückgefordert werden.

Das Gesetz lässt an dieser Stelle die Frage offen, was denn ist, wenn jemand in der zweiten Jahreshälfte ordentlich und fristgerecht kündigt (oder ihm gekündigt wird). Zur Klärung dieser Frage wurden schon viele Arbeitsgerichte bemüht. Der Großteil der aktuellen Urteile beantwortet die Frage so:

Kündigt ein Arbeitnehmer nach der Probezeit und in der zweiten Jahreshälfte (also nach dem 30.06.) des laufenden Jahres und ist er länger als sechs Monate und am 01.01. des Jahres, in dem er kündigt, angestellt gewesen, so steht ihm der gesamte gesetzliche Erholungsurlaub zu. Das heißt 20 Tage Erholungsurlaub bei einer 5-Tage-Woche und 25 Tage Erholungsurlaub bei einer 6-Tage-Woche. Darüber hinaus steht ihm der gesamte freiwillige Zusatzurlaub zu, wenn dies vertraglich geregelt ist, zum Beispiel im Arbeits- oder Tarifvertrag.

Tarifvertraglich ist nichts geregelt. Mein Arbeitsvertrag enthält folgenden Satz zur Resturlaubsfrage: „Im Ein- und Austrittsjahr beträgt der Urlaub 1/12 für jeden vollen Monat, in dem der Mitarbeiter mindestens zehn Tage gearbeitet hat.“ Solch eine Regelung wird im rechtlichen Jargon auch „pro rata temporis“ oder umgangssprachlich „Zwölftelregelung“ genannt.

Das bedeutet: In jedem Fall stehen mir die 20 Tage gesetzlicher Erholungsurlaub zu. Aufgrund der Zwölftelregelung kommen zu den 20 Tagen noch 5 Tage freiwilliger Zusatzurlaub geteilt durch 12 Monate eines Jahres mal 9 Monate Erwerbsarbeit hinzu. Dadurch ergibt sich ein Urlaubsanspruch in Höhe von 23,75 Tagen. Da halbe Tage nach § 5 (2) BUrlG aufgerundet werden, habe ich am Ende 24 Tage Urlaubsanspruch, wenn mein letzter Arbeitstag der 30.09. ist.

Dies habe ich dem Geschäftsführer genau so erklärt und er fand es nachvollziehbar. Nach einem Telefonat mit dem Lohnbüro bestätigte er meine Annahme: „Naja, auf jeden Fall ist es besser für das Unternehmen, wenn ich es nicht mit einem Gewerkschafter wie Ihnen aufnehme!“ Hehe.


Flughafen. (25/42)

5. August 2017

Am schlimmsten sind diejenigen Träume, die ich nicht unbedingt als Albtraum bezeichnen würde. Träume, deren inhaltliches Geschehen dem Grunde nach nicht zu einem Albtraum passen; also in denen nichts „Schlechtes“ geschieht, die aber dennoch so stark stresserfüllt sind, dass man sie einfach nur durchleidet, bis man total gerädert aus ihnen erwacht – endlich!

Heute Nacht musste ich zu einer fixen Zeit (19:22 Uhr) an einem Flughafen sein, um einchecken zu können. Wohin genau die Reise gehen sollte weiß ich nicht mehr. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich zuvor mit Kollegen aus Wien telefoniert habe und wir uns in Norwegen (?) treffen wollten.

Nun sind aber Träume so ein Gebilde aus Abertausenden einzelnen Fragmenten; in diesem Traum zumindest blieb ich überall hängen, weil plötzlich etwas anderes relevant war, weil ich von irgendwem angesprochen wurde oder irgendetwas zu erledigen hatte. Ich musste eine Ewigkeit mit jemandem telefonieren, der etwas von mir brauchte. (War es Zuspruch? Ich weiß es nicht mehr.) Dabei saß mir die Zeit im Nacken, es war schon fast Abend. Ich packte nebenbei meinen Koffer, leider war noch all die Wäsche, die ich mitnehmen wollte, auf dem Dachboden zum Trocknen; die Wäsche war noch ganz klamm, weil es die letzten Tage ununterbrochen geregnet hatte, also musste ich einige Sache fönen. Dann ging ich aus dem Haus, es regnete wie aus Strömen und der Himmel glich schwarzem Marmor. Das bestellte Taxi kam einfach nicht, ich fragte meinen Freund, ob er mich zum Flughafen fahren konnte. Leider hatte seine Mutter das Auto mitgenommen, also konnte er nicht. Das Taxi kam dann doch noch an. Der Fahrer allerdings musste die ganze Zeit mit mir quatschen, er fuhr so langsam er konnte und an den Ampeln kurbelte er sein Fenster herunter, um entweder mit anderen Taxi-Fahrern zu schwatzen oder irgendwelche Frauen zu belästigen. Die Fahrt in diesem Taxi war die Hölle für mich. Die Zeit wurde immer knapper. Plötzlich waren wir weit aus der Stadt heraus gefahren, doch konnten wir nicht über eine Brücke fahren. Diese war wegen Regen nur für Fußgänger zugänglich, also musste ich wohl oder übel mit meinem Rollkoffer durch den Regen über die Brücke. (Habe ich das Taxi bezahlt? Ich hoffe nicht!) Auf der anderen Seite angekommen wollte ich ein weiteres Taxi rufen, doch gab es dort kein Netz. Die Menschen, die ich ansprach, konnten mir auch nicht weiterhelfen. Ich war so verzweifelt, dass ich mich auf den nassen Asphalt legte; vollkommen durchnässt war ich sowieso schon. Ob sie mich in diesem Zustand überhaupt in das Flugzeug lassen würden? Es war sowieso schon 19:11 Uhr, wie sollte ich es jemals pünktlich schaffen? Zu meinem Glück fuhr dann ein leeres Taxi an mir vorbei, dem ich noch erfolgreich zuwinken konnte. Dieser Taxi-Fahrer wusste ganz genau, was ich wollte, und gab Vollgas. Nun hatte ich nicht nur Angst, den Flug zu verpassen, ich hatte zusätzlich noch eine Art Todesangst, weil ich von der Geschwindigkeit so stark in den Sitz gedrückt wurde, dass ich beinahe vollkommen darin verschwand. Und wie sollte es anders sein, wurden wir von einer Polizei-Streife angehalten wegen zu schnellen Fahrens. Jetzt war ich am Ende meiner Geduld, ich konnte meiner Verzweiflung nicht mehr standhalten.

Ich hatte die ganze Zeit unendlichen Stress in diesem Traum. Scheinbar so arg, dass ich aus Verzweiflung aufgewacht bin: Mein Körper hat die Notbremse gezogen und mich mit einem Krampf in der Schulter aus dem Schlaf gerissen. Vielen Dank und Aua!

Warum all das? Dabei hätte ich so schön ausschlafen können.

(Ich glaube, ich weiß warum: Ich warte seit Wochen auf einen Brief, doch er kommt einfach nicht. „Der Vorgang ist in Bearbeitung.“ Seit zwei Monaten schon!)


Obelisk. (24/42)

9. Juni 2017

Gestern nach Feierabend habe ich mir einen Haarschnitt gegönnt; den hatte ich auch bitter nötig. Am Königsplatz musste ich auf meine Tram warten und nutze die Zeit, um mir den Obelisken anzusehen, der zur Documenta auf dem Königsplatz in Kassel errichtet wurde. Über einen Monat hinweg wurde er in drei Einzelteilen gegossen und zusammengesetzt. Auf den dunklen Beton hat der Künstler tagelang die Inschriften graviert und anschließend golden lackiert. Auf den vier Seiten steht jeweils der Satz „Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt“ in Deutsch, Englisch, Türkisch und Arabisch. Eine starke Botschaft. Ein Mahnmal im Grunde, das aufmerken lässt und nachdenklich macht.

IMG_4794

Ich ging rundherum und sah mir den Obelisken an, und obwohl ich kein Geflüchteter in dem Sinne bin, habe ich mich selbst in dem Satz wieder erkannt. Ich dachte: Wie schön, dass ihr mich aufgenommen habt! Welch‘ Möglichkeiten sich dadurch eröffnet haben!

Als ich das so dachte, hörte ich plötzlich ein Flüstern direkt in meinem Kopf: Sprache ist ein Rätsel und doch sprechen wir sie alle. Das Flüstern irritierte mich sehr, da ich In-Ear-Kopfhörer trug und einen Podcast hörte, abgeschottet von der Außenwelt sozusagen. Als ich das Flüstern noch einmal hörte, zog ich die Kopfhörer ab und sah mich um. Das Flüstern kam aus einer Entfernung von etwa 20 Metern, eine junge Frau hatte ein kleines Mikrofon an ihrer Bluse und sprach hinein. Mit einer Art Richt-Lautsprecher zeigte sie auf einzelne Menschen und flüsterte ihnen etwas zu. Alle Menschen um mich herum schienen irritiert zu sein, denn es gab mehrere Flüsterer auf dem Platz und das Flüstern überschattete alles, obwohl es wirklich leise war. Die seltsame Geräuschkulisse war unheimlich und heimlich zugleich, da Geflüster ja eher für etwas Geheimes, Diskretes steht. Ich beobachtete die junge Frau und ging nach etwa zehn Minuten auf sie zu, mit den Händen fragend, ob ich sie ansprechen dürfte. Sie schaltete ihr Mikrofon aus und lächelte mich an. Ich fragte, ob das eine Documenta-Performance sei und wenn ja, welche. Sie erzählte mir von der Whispering Campaign (Documenta-Seite) und reichte mir eine Art Stadtkarte – wunderschön gestaltet, auf der tatsächlich auch ein Stück der Stadt zu sehen war und wo die Campaign zu finden sein wird – und erzählte mir, dass sie mehrmals in der Woche an verschiedenen Orten – innen und außen – diese Whispering Campaign (Wikipedia) durchführen.

Dabei handelt es sich um eine Art der Kommunikation, bei der vermeintlich Gerüchte gestreut werden, um Meinungen zu bilden, jemanden zu überzeugen oder schlecht zu reden. Die Gerüchte kommen dann vom Beeinflussenden selbst, der ein bestimmtes Ziel verfolgt. Ich erkenne darin Vieles von den heutigen „Sozialen Netzwerken“ wieder, insbesondere Twitter. Fake News! Durch die Nutzung dieser Methode möchte der Künstler Pope.L womöglich auf die heutige Mediennutzung aufmerksam machen und wie leicht es ist, im Alltag beeinflusst zu werden.

Mich hat diese Performance sehr berührt, und ich denke, wenn wir Menschen die Informationen nicht hinterfragen, die wir irgendwo aufschnappen, und nicht wissen, wie wir diese auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen können, dann werden wir immerzu der Bauer auf dem Schachbrett der Realität sein.


Schreiben. (23/42)

31. Mai 2017

Am Wochenende in Berlin – im Gespräch mit Glammy und seiner Nichte darüber, wie wir uns kennen gelernt haben, wie emotional aufgeladen und dramatisch das Jahr 2011 war, wie ich zu den Avataren in meiner Timeline nach und nach die Gesichter dahinter zu sehen bekam – eben da wurde mir bewusst, wie sehr mir das Schreiben fehlt.

Das Schreiben im Sinne von Aufschreiben, das Erlebte betrachten und reflektieren und in kleine bis große Texte packen, in kurzen wie langen Absätzen wiedergeben und in jedem Satz festhalten, dokumentieren und vorhalten – für mich, für Jetzt und auch für Später, für die Menschen, die bekannter- und unbekannterweise meine Gedanken verfolgen, meine Geschichten lesen. Das Leben, mein Erleben, auch nach Jahren noch greifbar und begreifbar machen; auch wenn ich selten bis nie nachlese, was ich einmal aufgeschrieben habe. Ich möchte nicht verstummen, nicht schon wieder, ich möchte schreiben und dichten und fragen, und dann auch einmal nichts sagen. Ich möchte mit meinen Fingern über die Tastatur gleiten, so wie jetzt, in einem Rutsch, und sichtbar machen, was ich denke, was ich fühle. Das Leben am Schopf packen und leise zu mir drehen, ihm in die Augen schauen, so lange, wie ich eben möchte.

Zwei Wochen zuvor in Frankfurt am Main, gemeinsam beim Karaoke mit Frau Fragmente und Frau Novemberregen, habe ich eine Sehnsucht verspürt, die ich nicht zuordnen konnte. Doch jetzt weiß ich, was es ist: Mein unbändiges Gefühlsgewusel, das entsteht, wenn ich die Gedanken und Worte nicht wenigstens in Schriftform aus meinem Kopf bekomme, weil ich zu viel mit anderen Dingen beschäftigt bin. Und ich bin schon viel zu lange mit anderen Dingen beschäftigt.

Es ist wieder an der Zeit zu schreiben. Wenigstens, um die Zahl dort oben zu vervollständigen, um das Ziel von vor zwei Jahren endlich zu erreichen. Besser spät als nie.


Vom Fliegen. (22/42)

5. Oktober 2015

Vorgestern habe ich zum ersten Mal vom Fliegen geträumt; zumindest ist es das erste Mal, dass ich mich daran erinnern kann.

Ich war mit drei mir vertrauten Personen unterwegs in dem Dorf, wo ich ausgewachsen bin. (Ähm, ja: Satzbau „in dem, wo“ lässt auf Schwaben schließen.) Wir schlenderten vorbei am Dorfbrunnen, aus dem kühles Trinkwasser plätscherte, weiter über die leere Straße zu einem abgeranzten Bushaltestellenhäuschen, hinter dem sich eine Bäckerei befand. Es war dunkel draußen, sicherlich Nacht, und leicht neblig; ein ganz feiner Sprühnebel, dessen winzig kleine Tröpfchen wie Brillanten im Licht der Straßenlaternen aufleuchteten. Dennoch konnte man die Sterne und den Mond mehr oder minder klar erkennen. Ein sanfter Wind wirbelte Laub hin und her, es war offensichtlich Herbst.

Im Gespräch zwischen den Personen und mir ging es um die beachtliche Leuchtkraft des Mondes, und da sagte ich: „Siehst du der Mond hat sich ein Fernglas gebaut, mit dem er nachts in unser Schlafzimmer schaut! Wer hätte das gedacht, dass der Mond so etwas macht?

Manchen werden die Worte bekannt vorkommen, denn die Zeilen sind aus dem Song „Die Nacht“ von Wir sind Helden. Das ist insofern witzig, denn vor dem Schlafen gehen hatte ich Stephan den Song vorgespielt, weil der Mond tatsächlich so am Himmel stand, dass man im Liegen denken konnte, er schaue bei uns ins Schlafzimmer hinein.

Nun, im Traum folgte ein weiterer Satz aus dem Song, und zwar: „Und wusstest du, dass das Sternenlicht kurz bevor es in den Himmel aufbricht auf deiner Nase sitzt und lacht, dann erst springt es in die Nacht!“ Sodann flog ich empor, ganz sanft und gleichmäßig, hoch zu den Sternen, als ob ich das schon immer gekonnt, es nur vergessen hätte.

Das Dorf wurde immer kleiner, dann das Land, der Kontinent, und plötzlich saß ich auf dem Mond und hatte ein Fernglas, mit dem ich zur Erde schauen konnte.


Glubschi. (21/42)

28. September 2015

Freitagmorgen meldete ich mich krank und verbrachte den Tag bis zum Mittag im Bett, suchte dann meinen Hausarzt auf und fuhr zu einem Fotoladen. Dort ließ ich mir das Anschreiben und den Lebenslauf meiner Bewerbung als Foto entwickeln; die Exemplare aus dem Laserdrucker entsprachen nicht ganz meinen Vorstellungen. Zufrieden packte ich die Dokumente in meine Mappe und fuhr weiter zur Arbeit, um meine Krankmeldung abzugeben und die Anlagen für die Bewerbung zu kopieren. Leider dauerte dieser Vorgang eine Ewigkeit, der scheiß Kopierer musste alle fünf Minuten neu gestartet werden, weshalb ich die Bewerbung nicht mehr persönlich dem Adressaten überreichen konnte. Also packte ich die Mappe in einen Umschlag und brachte sie zur Hauspost, denn nächste Woche bin ich nicht da.

Auf dem Weg nach Hause hatte ich plötzlich im linken Auge Schmerzen beim Blinzeln, mir muss wohl etwas hinein geflogen sein. Zuhause spülte ich mit Kochsalz das betroffene Auge und nahm die Kontaktlinse heraus und spülte auch diese. Im Spiegel konnte ich keinen Fremdkörper erkennen, aber das stechende Gefühl ließ nicht nach. Es war mittlerweile schon 19 Uhr und in einer halben Stunde sollte Chorprobe sein. Ich konnte unmöglich mit Schmerzen singen, also entschied ich mich, noch einmal zur Arbeit zu fahren und nachschauen zu lassen. Ich ging direkt auf die Augenstation und gab mich als Mitarbeiter zu erkennen, keine fünf Minuten später wurde ich behandelt. Die Ärztin konnte keinen Fremdkörper finden, meinte aber, es sei ein winziger Riss oder Schnitt auf der Hornhaut zu sehen. Ich solle vorsichtshalber für eine Woche das Auge mit einem Antibiotikum behandeln und ansonsten mit Kochsalz spülen und feucht halten. Ich besorgte die Tropfen, nahm eine Ibuprofen ein und machte mich auf den Weg zum Chor, nun fühlte sich das Blinzeln leider an, als hätte ich Sand im Auge; zumal das Antibiotikum brannte. Im Grunde heulte ich die ganze Probe über, die Tränen waren nicht zurück zu halten. Mit dem rechten Auge sah ich scharf, dort war ja noch die Linse drin. Links jedoch sah ich nur noch Bokeh. Später beim Bierchen war ich nur noch am Kühlen, mittlerweile waren Auge und Lid angeschwollen. Als ich zu Hause noch einmal meine Augen tropfen wollte, sah ich im Spiegel, dass ich ein fettes Glubschauge entwickelt hatte.

Samstagmorgen war es besonders glubschig, wurde gegen Abend aber besser. Den Tag über konnte ich kein Licht ertragen und wandelte deshalb in einer dunklen Wohnung umher.

Heute, also Sonntag, ist das Auge noch ein wenig gerötet, aber ansonsten wieder in Ordnung. Ich kann auch wieder beide Kontaktlinsen tragen; nur noch das Lid ist geschwollen, und ich hoffe inständig, dass das bis morgen auch weg ist, denn Montag bis Freitag unterrichte ich an diversen Schulen zum Thema „Rechte und Pflichten in der Ausbildung“.

Falls ich Pech habe, werde ich als Glubschauge bekannt oder als lebendiges Beispiel für die Redewendung: „Passt ja wie die Faust aufs Auge!“


Höllentrip! (20/42)

27. September 2015

Ich war heute kellnern.

Durch Marcus, der mich damals in Kassel aufnahm und bei sich wohnen ließ, der heute mein bester Freund ist und mir in allen Lebenslagen zu helfen weiß – durch Marcus jedenfalls bin ich zu Günter gekommen, der nicht weit von Kassel eine Gaststätte hat. Etwa alle zwei Monate hat er eine kleine Feier oder ein Treffen von irgendeinem Verein bei sich und ruft mich an, ob ich für ein paar Stündchen vorbei kommen könnte. Die Termine kennt er lange im Voraus und so kann ich es eigentlich immer einrichten, ihm auszuhelfen. Gibt auch jedes Mal etwas Leckeres zu essen, sodass ich nie hungrig, sondern immer wohl genährt nach Hause gehe. Auch das Geld stimmt, ganz oft ist es sogar vielmehr als branchenüblich. Freundlich ist er auch noch! Ich kellnere sehr gerne bei ihm. (Bis auf einen Termin im Jahr, wo ein bestimmter Verein eine Versammlung abhält; diese Leute sind scheinbar von Natur aus fürchterlich und betrunken noch viel schlimmer.)

Ich sollte heute um 18 Uhr da sein, mit Bus und Bahn war aber nur 16:20 Uhr oder 18:20 Uhr möglich. Ich konnte ihm nicht Bescheid sagen, da ich ihn nachmittags nicht erreichte, also entschied ich mich dafür, die frühere Verbindung zu nehmen. Zwar war es noch nie ein Problem, wenn ich später dort ankam, aber es hätte heute ja vielleicht eines sein können. „Wenn nicht“, dachte ich mir, „arbeite ich bisschen an meinem Computer“, den ich deswegen mitnahm.

Nun verpasste ich aufgrund einer unglücklichen Verkettung von Umständen die Bahn und dadurch auch den Bus. Weil ich zu faul war, noch einmal nach Hause zu laufen, fuhr ich mit der nächsten Bahn in die Stadt und setzte mich in ein Café. Zwischenzeitlich konnte ich Günter erreichen, es war kein Problem mit dem später Kommen.

Im Café bestellte ich mir einen „Doppelten Espresso Macchiato“, das hörte sich interessant an, zumal ich ein bisschen müde war. Vermutlich aufgrund eines Missverständnisses machte mir die Bedienung das bestellte Produkt in doppelt so groß, was ihr erst am Tisch auffiel. „Macht doch nichts“, dachte ich und sie ließ mir die doppelte Portion zum Preis von einer da.

Zehn Minuten vor Abfahrt des Busses zahlte ich und verließ das Café. Gleich zu Anfang der halbstündigen Fahrt wurde ich ganz hibbelig, geradezu hyperaktiv. Ich bekam eine übertriebe Körperspannung, war im Kopf ganz aufgeregt und konnte nicht mehr still sitzen, musste meine Zehen im Schuh bewegen, mit den Beinen wippen und mit meinen Fingern zur Musik trommeln. Mein Körper fing an seltsam zu zucken, als hätte ich einen Tick; nee gleich mehrere Ticks auf einmal. Ich wollte einfach nur noch ankommen und aus dem Bus steigen, mich BEWEGEN, Hauptsache nicht mehr sitzen müssen! Und genau bei dem Gedanken wurde mir bewusst, woher die wilde Unruhe kam: Ich hatte einen üblen Koffeinschock!

Noch nie war mir so etwas passiert! Das Kaffeezeugs schmeckte stark, aber ganz normal stark und nicht so, als könnte man nach der Einnahme Bäume ausreißen! Ich hatte noch nicht mal das Gefühl bisher, dass Kaffee mich wirklich wach macht.

Beim Günter dann trank ich gleich einen halben Liter Wasser, um das Koffein im Blute zu verdünnen. (Haha, so ein Quatsch!) Es dauerte etwa eine Stunde, bis ich wieder einen halbwegs normalen Muskeltonus und keinen mittleren epileptischen Anfall hatte; zumindest stelle ich mir das so vor. In der Zeit konnte ich nur eine Sache auf einmal tragen, mit beiden Händen am Glas oder Teller; viel zu groß die Angst, etwas ruckzuck fallen zu lassen.

Zusammenfassend kann ich sagen: Nie wieder!


Sterbebegleitung. (19/42)

23. September 2015

Letztes Jahr habe ich eine Weiterbildung zum ehrenamtlichen Sterbebegleiter gemacht. Dazu kam es so: In der Ausbildung hatten wir das Thema „Tod und Sterben“. Das fand ich super, endlich etwas Spannendes, nur hatte ich ein Problem mit der Themenwoche, wie überall im Leben, es ist ein Fluch: Die eine Woche war mir viel zu kurz. Ich habe sehr oft das Gefühl, egal worum es sich handelt, dass die vermittelten Inhalte zu oberflächlich und ungenau sind. Am liebsten würde ich ein kleines Studium beginnen und mich tiefergehend mit der Thematik beschäftigen. Vorgesehen war aber nur eine Woche, es ist eine Ausbildung und kein Studium, da hatte ich wohl Pech gehabt. Bis mich kurz darauf ein Freund ansprach, ob ich denn schon von der ehrenamtlichen Arbeit in diesem Bereich gehört hätte, da würde man sich lange mit der Thematik beschäftigen und mit sterbenden Menschen Zeit verbringen, ihnen zuhören und einfach da sein. Es brauchte nicht lange und ich entschied dazu, mich ein Dreivierteljahr ausbilden zu lassen. Die sehr detailreiche und einfühlsame Gestaltung der Inhalte fand ich ganz wunderbar und jetzt bin ich eben ehrenamtlicher Sterbebegleiter.

Nun. Natürlich ist die Frage, weshalb ich mich trotz oder neben meiner Arbeit als Krankenpfleger – die ganz oft nicht einfach ist, körperlich wie menschlich, und wo es auch Situationen gibt, zweimal im Jahr oder so, in denen man Gespräche führen muss, die den Tod als Thema haben –, in der Sterbebegleitung engagiere. Vor ein paar Tagen ist mir diese Frage in den Sinn gekommen und wenig später auch die Antwort, wenn auch in einem anderen Kontext.

Mit der Sterbebegleitung kompensiere ich mein Gefühl, ein schlechter Pfleger zu sein.

Im Krankenhaus habe ich nicht die Zeit, mit Patienten zu sprechen. Man unterhält sich flüchtig während der Behandlung, außer diese ist kompliziert und bedarf alle Aufmerksamkeit, und dann huscht man so schnell es geht zum nächsten Patienten, weil die To-Do-Liste ewig lang ist. Dabei ist es mir sehr wichtig, sie nicht mit dem Gefühl zurück zu lassen, ihre Lebensgeschichte wäre mir egal. Ich mag Geschichten sehr, deshalb lese ich ja auch Blogs und Twitter und folge fremden Menschen. Doch an der Arbeit ist es ein wenig anders, denn die Patienten haben das Bedürfnis, gehört zu werden. Das klingt jetzt sicher etwas esoterisch, aber dieses Bedürfnis ist sehr wichtig für die Heilung. Und dem kann ich im Krankenhaus nicht nachkommen. Das frustriert mich, und wenn ich mir dann doch Zeit nehme zuzuhören, werde ich später als lahm bezeichnet von Kolleg_innen. Ich hätte den Verband, die Infusion doch schneller wechseln können und so weiter, jetzt hätten sie alles Andere allein machen müssen. Solche Aussagen frustrieren mich noch mehr, ich nehme mir eh schon mehr Zeit für die Behandlung als andere, um keine Flüchtigkeitsfehler zu machen. Mit diesem Frust gehe ich dann nach Hause und habe das Gefühl, ein schlechter Pfleger zu sein.

Da ist es doch nur logisch, dass ich genug von der Pflege habe und es kaum abwarten kann, dem Krankenhaus nach der Prüfung den Rücken zu kehren.

Die Begleitung von Sterbenden finde ich nach wie vor sehr schön, das mache ich nach der Ausbildung auf jeden Fall weiter. Es erdet mich und ich fühle mich vom Ballast der Welt befreit, wenn die Sterbenden erzählen, das Gespräch hätte ihnen sehr gefallen, endlich hätte mal jemand zugehört oder sie seien mal eine Zeit lang auf andere Gedanken gekommen.

(Seltsam, dass ich so viel Energie aus dem Tod ziehe.)


Manieren. (18/42)

20. September 2015

Ich war letzte Woche auf einer Fortbildungsveranstaltung; im gleichen Hause, das meinen Bildungsurlaub neulich angeboten hatte. Woanders hin würde ich meine Fortbildungen auch nicht legen, denn das Seminarhaus meiner Gewerkschaft bietet die perfekte Umgebung für derlei Veranstaltungen. Die Seminarräume sind super ausgestattet, die Schlafräumlichkeiten sind okay und das Haus liegt mitten in der Pampa, sodass man abends eher nicht irgendwo hinfährt, um „gemeinsam etwas zu unternehmen“. Im Haus gibt es eine großartige Bar mit äußerst günstigen Preisen und ansonsten hat man diverse Möglichkeiten vor Ort, selbst für Spaß zu sorgen. So kommt es, dass die Teilnehmer aus den verschiedenen Seminaren die Abende miteinander verbringen und Socializing betreiben. Es ist wirklich immer sehr nett dort; Austausch ohne Ende, wenn man möchte. Die Abende sind durchaus ein Grund für mich, dieses Haus immer wieder aufzusuchen.

Aber der eigentliche Grund ist folgender: Die Verpflegung ist wirklich erstklassig. Das Essen ist auf höchsten Niveau und immer lecker und bombastisch. Die Küchendamen sind jederzeit ansprechbar in der offenen Küche, in die man vom Speisesaal aus ab dem Tresen komplett hinein sehen kann. Falls jemand irgendeine Allergie hat oder etwas nicht essen kann oder möchte, haben die Damen immer eine individuelle Lösung parat. Das sind richtige Herzmenschen. Ich glaube, ich habe schon einmal darüber geschrieben.

Nun war meine Gruppe natürlich nicht allein im Haus, parallel fanden drei andere Seminare statt. Ungewöhnlich war nur, dass das eine Seminar von einer anderen Gewerkschaft organisiert und geleitet wurde. Sie hatten sich in unserem Haus eingemietet, weil bei ihnen die Kapazitäten nicht vorhanden waren. Diese Tatsache an sich ist überhaupt kein Problem für niemanden, für unser Haus lohnt sich das finanziell sogar. Doch die Teilnehmenden dieses Seminars, sie waren ein Problem.

Es ist zu einhundert Prozent ausgeschlossen, dass jemand in unserem Seminarhaus verhungern könnte. Es ist schlicht unmöglich: Fünfmal am Tag kann man etwas essen und zwei weitere Male, falls man spätabends oder mitten in der Nacht Hunger bekommen sollte. Es herrscht das Selbstbedienungsprinzip, Buffet zu allen Zeiten. Jeder kann sich nehmen, wie viel er möchte. Nachschlag ist überhaupt kein Thema. bisher war immer genug da, auch für Schlemmeronkels wie mich.

Die Teilnehmer des eingemieteten Seminars jedoch waren von Anfang an ein Dorn in unseren Augen. Sie benahmen sich wie steinzeitliche Plünderer und schlugen zu, ohne an die Letzten in der Schlange zu denken. Ihr Verhalten hielt bis zum Ende an, trotz der Bitte, solidarisch zu sein. Beim zweiten Mittagessen schon konnte ich nicht mehr hinsehen: Sie schaufelten sich bis zu drei riesige Stücke Lachsfilet auf die Teller – eines ist für eine Person gedacht –, nur um den Fisch hier und da anzunagen und die Teller einfach stehen zu lassen. Ihretwegen gab es keinen Fisch mehr für die Letzten in der Schlage, das kam noch nie in der Geschichte des Hauses vor. Außerdem räumt hier jeder sein Geschirr ab und sortiert es am Tresen für die Küchendamen vor, damit diese es beim Spülen einfacher haben; das wird gleich am ersten Tag erklärt. Doch was diese Leute abzogen, war einfach nur asozial.

Und so etwas hasse ich. Also habe ich mir mit einer Freundin zusammen ein paar stehen gelassene Teller voller Fisch geschnappt und sie den Leuten in den Seminarraum getragen. Dort haben wir sie kommentarlos in die Mitte des Stuhlkreises gestellt und sind wieder heraus marschiert. Keiner sagte irgendetwas, noch konnte man aus ihren Gesichtern irgendeine Reaktion heraus lesen.

Genauso wenig wie das Reden oder Ermahnen hat diese Aktion nichts bei den Spacken bewirkt. Bis Freitagnachmittag haben sie die Atmosphäre des Hauses nachhaltig gestört und sich nur mit sich selbst beschäftigt. Socializing war nicht. Da wurde mir dann plötzlich klar, weshalb ich es dort immer so schön fand bisher: Als Menschen, die im Dienstleistungssektor tätig sind, haben wir kontinuierlich mit anderen Menschen zu tun. Wir lernen, freundlich und zuvorkommend zu sein – denn so kommen wir gemeinsam weiter –, und verhalten uns auch im Alltag so. Im Gegensatz dazu haben die eingemieteten Leute die meiste Zeit ihrer Arbeit mit Maschinen zu tun. (Mal so ins Blaue hinein gedeutet.)


Das Feigenbäumchen. (17/42)

20. September 2015

Letzte Nacht träumte ich unübersehbar die Fortsetzung eines Traumes, der schon lange zurück liegt. Im ersten Traum stand auf meinem Balkon ein Feigenbäumchen, dessen Früchte klein und noch nicht ganz reif waren. Das Bäumchen spielte keine bedeutende Rolle, war einfach nur ein bisschen Dekoration und machte es mir ganz behaglich in meiner Traumwelt. Vielleicht handelte es sich dabei aber auch um die bildliche Darstellung eines Wunsches, vielleicht wollte mir mein Unterbewusstsein sagen, dass ich mir ein Feigenbäumchen zulegen sollte. Das Wetter im Traum war sonnig und T-Shirt-tauglich. Ich war wegen irgendetwas auf den Balkon gegangen und dann wieder zurück in die Wohnung. Was danach geschah, weiß ich nicht mehr.

Jedenfalls tauchte dieses Feigenbäumchen letzte Nacht wieder auf, diesmal in der Hauptrolle. Auch hier war das Wetter wunderschön und das Bäumchen stand auf dem Balkon an exakt der gleichen Stelle wie im ersten Traum. Die Früchte waren nun reif und prall, hatten eine tief violette Farbe und waren riesengroß. Ihr Anblick ließ jeden Betrachter denken, dass sie vor Reife gleich platzen müssten, sollte man sich nicht erbarmen und sie vom Bäumchen nehmen. Nun war ich aber nicht allein, auf der Bank saß jemand, den ich im Nachhinein betrachtet gar nicht kennen konnte. Er war mir aber vertraut und sprach mit mir über die Feigen. Er merkte an, wie schön sie doch gelungen seien und bat mich um eine Kostprobe. Ich bot ihm eine Feige an und nahm mir selbst auch eine. Die sonnenwarme Haut zerbarst beim ersten Bissen und das Fruchtfleisch quoll heraus und ließ mir den Saft im Munde zusammen laufen. Die Feige hatte einen köstlichen Geschmack, sie war süß, dicklich und irgendwie doch flüssig. Sie schmeckte so außerordentlich gut, dass ich dachte, das kann nur hyperrealistisch sein. Da fiel mir ein, dass ich schon einmal von dem Bäumchen geträumt hatte. Ich erinnerte mich also im Traum an den ersten Traum, war mir aber nicht bewusst darüber, dass ich träume. Ich hielt die Situation für die Realität.

Das war ein sehr schöner Traum. Und ein sehr sinnlicher.


Eine schwierige Antwort. (16/42)

19. September 2015

Oft werde ich gefragt, wie sich die Beziehung zu meinen Eltern entwickelt hat im Laufe der Jahre. Ebenso oft weiß ich nicht, was ich darauf antworten sollte und sage stattdessen irgendetwas und wechsle das Thema. Ich möchte es mir mit diesem Text zur Aufgabe machen, darüber nachzudenken, denn der Grund für die fehlende Antwort ist die viel zu seltene Reflexion über diese Thematik.

Ich habe das Nest vor über vier Jahren verlassen, seitdem habe ich enorme Sprünge in meiner Entwicklung gemacht. Ich bin nicht mehr – so nahm ich mich wahr – ein einsamer, schwacher und labiler Junge. Ich bin angekommen und habe eine Heimat, in der ich mich wohl fühle, ich habe wunderbare Freunde in direkter Nähe, ich habe einen Alltag und eine Perspektive. Ich bin kaum noch traurig über die Umstände, die mich von meinen Eltern trennen. Ich bin stark und in guter Gesellschaft; meine Freunde sind allesamt Menschen, die Erfahrung darin haben, „anders“ zu sein, und das eint uns. Ich meine damit ausdrücklich alle Bereiche des Lebens, nicht nur die Sexualität. Sie geben mir Sicherheit und Selbstbewusstsein, denn ich bin nicht mehr allein wie vor vier Jahren. Mit ihrer Hilfe konnte ich mir einen Alltag aufbauen, der mir Struktur gibt und mich auffängt. Mit der Zeit erlosch die Depression und ich trauerte nicht mehr mit meinen Eltern um ihren verlorenen Sohn. Ich weiß heute, dass ich als Sohn versagt habe und erkenne gleichzeitig an, dass ich nicht nur Sohn bin.

Versetze ich mich in die Lage meiner Eltern – das kann ich nur aus meiner Sicht, und weil sie nicht mit mir über ihre Gedanken reden, kann ich nicht wissen, ob diese Darstellung ihrer Wahrheit entspricht – so sehe ich, dass sie sich einen Sohn wünschen, der mit einer Frau verheiratet und somit in ihrer Gesellschaft anerkannt ist, der vielleicht schon ein Kind hat und Verantwortung übernimmt. Was ich dabei arbeite oder studiere, was ich der Gesellschaft als Mehrwert erbringe, ist ihnen relativ egal. In dieser Vorstellung sehen mich meine Eltern als glücklich. Doch ich könnte niemals glücklich sein, würde ich mich dieser Vorstellung fügen.

Wenn ich meine Eltern besuche, fühlt es sich an, als würde ich eine Parallelwelt betreten. Plötzlich bin ich wieder ein kleiner Junge, meine Stimme ist zumeist eine Oktave höher und ich verhalte mich wie ein Kind. Nicht kindlich oder kindisch, aber als jemand, der seine Eltern achtet und ihnen Respekt entgegen bringt, indem er die Spülmaschine ausräumt oder in den nächsten Supermarkt läuft, um ein fehlendes Lebensmittel zu kaufen. Falls Besuch da ist oder wir als Familie jemanden besuchen, meistens nahe Verwandte, erzähle ich von meinen beruflichen Erfolgen und sonstigen Leistungen und beschere meinen Eltern Ansehen. Die meisten Kinder wollen ihre Eltern mit Stolz erfüllen, das erreichen sie durch Leistung, mit guten Noten zum Beispiel oder später mit einem ertragreichen Beruf. Quasi als Ergebnis guter Erziehung. Dem komme ich bewusst nach, wenn ich bei meinen Eltern bin. Aber nicht nur dort; vielleicht ist das der Grund, weshalb ich aktiv etwas für meinen sozialen Aufstieg unternehme. Und wenn ich bei meinen Eltern bin, nehme ich diese Rolle als Kind ein und fühle mich auch so: Ich muss Leistung erbringen, um geliebt zu werden. Denn ich werde nicht geliebt für das, was ich bin. Ich muss mir die Liebe durch Leistung erarbeiten, damit sie über den Makel meiner Homosexualität hinweg sehen.

Fahre ich wieder nach Kassel und bin in meiner Wahlheimat, fühle ich mich ein paar Tage extrem müde. Ist die leistungsbedingte Müdigkeit überwunden, nehme ich mental Abstand von meiner Familie. Sie tauchen nicht in meinem Alltag auf, ich frage mich nicht mehr, was sie wohl gerade tun. Ich telefoniere auch nicht oft mit ihnen, ein bis zweimal im Monat für ein paar Minuten ist die Regel. Dies alles ist wohl ein Schutzmechanismus, der sich in den letzten vier Jahren entwickelt hat. Ob es am Prozess des Erwachsenwerdens liegt oder an den zwei Jahren Verhaltenstherapie oder an meinen Medikamenten oder an meinen Lebensumständen an sich, das kann ich gar nicht beantworten.

Besucht haben mich meine Eltern bisher zweimal: Einmal stand allein mein Vater einfach vor der Tür und rief mich an, weshalb ich denn nicht aufmachen würde. Ich wusste nichts von seiner Absicht, mich besuchen zu wollen, und war auch nicht zu Hause. Aus Anstand fuhr ich nach Hause und verbrachte zwei Stunden mit ihm. Ich war sauer, dass er einfach so auftauchte und ich nicht die Möglichkeit hatte, aufzuräumen oder gar etwas Kleines zu kochen. Wir saßen auf dem Balkon, tranken Kaffee und er sprach mit mir über mein Leben. Das sähe ganz nett und geordnet aus, aber meine Homosexualität wollte er mir trotzdem ausreden. Es war ein seltsames Gespräch, eher ein Monolog seinerseits und ein Kommentieren meinerseits. Ich entgegnete allen seinen Aussagen mit Ironie, bis er sich nicht ernst genommen vorkam. Wir fuhren auf meinen Wunsch hin noch an einen Aussichtspunkt, damit er wenigstens etwas von der Stadt sehen konnte; danach fuhr er mich nach Hause und sich selbst heim. Es war schon dunkel geworden.

Das zweite Mal hatten sie sich angemeldet. Vater, Mutter und Bruder, Opa, Oma und Onkel. Ich nahm mir frei und richtete alles nett her, doch weil in der Wohngemeinschaft nicht Platz für so viele Menschen war, entschied ich mich dafür, dass ich ihnen meine WG zeige und wir ein wenig durch den Stadtpark laufen und irgendwo Kaffee trinken. Das Wetter war angenehm und Kassel zeigte sich von seiner schönsten Seite, doch irgendwie war auch dieser Besuch nicht authentisch. Es war vielmehr ein: „Wie ihr seht, lebe ich gut. Also kein Grund zur Sorge!“ Wieder war ich nur dabei, meine Lebensentscheidung zu verteidigen, anstatt mit ihnen mein Leben zu teilen.

Werfen wir nochmal einen Blick zurück zur Eingangsfrage. Fast immer antworte ich, dass wir eigentlich gar keine Beziehung haben und wechsle das Thema. Womöglich ist die Aussage gar nicht falsch, doch jetzt kann ich mir auch erklären, warum das so ist. Wir arbeiten nicht gemeinsam daran, einen Weg in eine gesundere Eltern-Kind-Beziehung zu finden. Stattdessen macht sich jeder seine Gedanken und dabei bleibt es. Ich habe schon vor langer Zeit damit aufgehört, weil es keinen Sinn für mich macht. Ich rate ins Blaue hinein.

Vor etwas über einer Woche rief mich mein Großvater an. Er hatte sich verwählt und wollte eigentlich meinen Vater etwas fragen, aber da ich ja schon dran war, teilte er mir mit, dass meine Eltern auf dem Weg zu mir sind. Ich war furchtbar sauer, ließ es mir aber nicht anmerken und legte bald auf. Dann schrieb ich meinem Bruder, er solle bitte ausrichten, „dass ich es absolut scheiße finde, dass sie wieder einfach so ohne Anmeldung vorbei kommen wollen, zumal ich an der Arbeit bin“. Ich war zu Hause und nicht an der Arbeit, aber ich wollte auch nicht, dass meine Eltern über mich bestimmen können, wann sie wollen. Ich bin erwachsen und möchte so behandelt werden, und solange sie der Meinung sind, dass ich einfach zu all ihren Entscheidungen Ja und Amen sage, werden sie mich nicht besuchen können. Sie fuhren auf halbem Wege also wieder nach Hause. An diesem Tag war ich traurig, denn ich fühlte mich wieder wie mit achtzehn. Ich musste meine Eltern abweisen, weil sie mich übergehen, obwohl ich sie durchaus an meinem Leben teilhaben lassen möchte.

Vor ein paar Tagen rief mich ein Großonkel an, der ganz besorgt klang. Ich hatte sicher fünf Jahre nicht mehr mit ihm zu tun gehabt, folglich erkannte ich ihn erst im Laufe des Gespräches. Er fragte, wie es mir geht und was ich so mache. Dann sagte er, dass es normal sei, dass Eltern und Kinder sich streiten, dass man aber deswegen nicht gleich fortziehen müsste wie ich es getan habe. Er fragte, wann ich denn wieder zurück käme. Ich antwortete, dass ich mir hier eine Heimat aufgebaut habe und mich sehr wohl fühle. Er versuchte noch ein wenig, mir die Vorzüge der räumlichen Nähe zum Elternhaus schmackhaft zu machen. Dann lud er mich zu seinem Geburtstag Ende Oktober ein. Ich sagte nicht ab, konnte ihm aber auch nichts versprechen.

Alles erschien mir so seltsam. Ich fragte mich, ob das ein Anruf aus der Vergangenheit ist. Dieser Anruf hätte exakt so vor vier Jahren stattfinden können, als verzweifelte Reaktion auf meine plötzliche Flucht. Ich dachte mir, dass meine Eltern wohl mit ihm telefoniert haben müssen und sicherlich von meiner Abweisung neulich berichtet haben. Das machte mich wütend und traurig zugleich.

In solchen Momenten „tröste“ ich mich immer damit, dass meine Eltern nichts dafür können. Sie wurden so erzogen und können wohl nicht anders, denke ich mir. Sie kommen aufgrund ihrer Kultur und ihrer Religion mit meiner Homosexualität nicht klar und haben auch keine Unterstützung dabei… Nein, ein Trost ist das in Wahrheit nicht. Warum können sie nicht wenigstens versuchen, ein Fünkchen Verständnis für meine Lage zu erlangen?

Unterstützung wollen sie nicht annehmen, da gäbe es eine Menge, aber alle, die nicht ihrer Meinung sind, wollen sie ja nur bekehren. Sie beharren auf ihrer Position, weil das aus ihrer Sicht das einzig Richtige ist. Sie hassen meine ach so freiwillige Entscheidung, ein krankes Leben als Homosexueller zu führen, und machen dies deutlich damit, dass sie mir ein unglückliches wünschen.

All diese Gedanken frustrieren mich und machen, dass ich mich noch weiter von ihnen entferne. Es findet kein Austausch statt, nur über Belangloses, und das erfüllt mich nicht. Also vermeide ich Kontakt und halte mich fern von der Gedankenspirale, die nur auf Vermutungen, gegenseitigen Beschuldigungen und verletzenden Vorwürfen basiert.

Dies ist wohl in Zukunft meine Antwort.


Bewerbungskrams. (15/42)

14. September 2015

Ich brauche mal Ihre Hilfe. Ich muss mich demnächst bei meinem Arbeitgeber bewerben und die Herausforderung besteht darin, die Bewerbung ungewöhnlich zu gestalten. Übernommen werde ich sowieso, da habe ich rechtlich einen Vorteil; die Frage ist nur: wohin? Das Haus, in dem ich mich bewerbe, ist eigentlich ganz gut besetzt. Wobei Männer in der Psychiatrie immer gerne gesehen werden. Und außerdem möchte ich nicht mehr in der normalen Krankenhaus-Pflege arbeiten. Deshalb möchte ich durch die Bewerbung auffallen. Das Gespräch wird kein Problem für mich.

Mein Text bisher lautet:

  

Hm. Ich bin einigermaßen zufrieden, aber es haut irgendwie nicht so in Pfanne, wie ich es gerne hätte. Was sollte/könnte/müsste ich ändern? Wie ist das aus professioneller Sicht? Geht das überhaupt so oder ist es too much?

(Vielleicht hat Frau @Novemberregen eine Idee?)


Über das Singen. (14/42)

13. September 2015

Seit etwa einem Jahr bin ich Teil eines Chores, der klassische Werke der Sakralmusik interpretiert. Der Chor hat den Anspruch, hochwertige und nicht nur schön klingende Musik zu machen. Alle zwei Wochen am Freitag haben wir Probe, und wir proben eigentlich immer für ein Konzert als solches oder für irgendeine Messe an Weihnachten oder Ostern. Bei vielen der vertonten Werke wirken Solisten mit, also Menschen, die beruflich im weitesten Sinne mit Musik arbeiten, zum Beispiel Kirchenmusiker, Musiklehrer oder Theater- und Opernsänger. Aus Sicht eines Konzertbesuchers stehen die Solisten im Mittelpunkt und Chor und Orchester sind „nur“ die Begleitung. Dabei organisiert der Chor die zu singenden Werke und probt wochenlang oder gar über Monate hinweg für ein Konzert, das dann meistens so um die eine Stunde dauert. Die Solisten und das Orchester werden eingekauft und kommen zur Generalprobe und natürlich zum Konzert. Der Chor erwartet von ihnen eine professionelle Leistung und dafür bekommen sie ja auch Geld. Dem Zuhörer ist das alles aber gar nicht bewusst, und das ist ja auch egal, schließlich will er die Musik genießen, ganz gleich wie sie zustande kommt. Er erwartet ein stimmiges Ganzes und möchte vielleicht mal aus dem Alltag tauchen oder einen Ohrwurm mitnehmen.

Nun ist der Chor irgendwie elitär, weil er nur große, aufwendige Sachen macht, aber eben trotzdem ein katholischer Kirchenchor, was sich immer komisch anhört, wenn ich das jemandem erzähle. Wenn ich dann noch sage, dass ich montags tatsächlich in einem Kirchenchor singe, dann schauen mich alle verstört an. Der Montags-Chor ist eine gute Übung für mich, denn dort sind die Sänger alt und die Stimmen wackelig und es ist für die Leute eher ein Zusammenkommen, ein gesellschaftliches Ereignis, als der Wunsch, Musik als Kunst zu leben. So hört es sich leider oft auch an, wenn keine tragenden Stimmen den Chor mitziehen.

In den letzten zwei Jahren habe ich mich dort ganz gut entwickelt. Anfangs konnte ich überhaupt keine Noten lesen, meine Einsätze waren falsch und zu tief und zu hoch und ich konnte nur leise mitsingen, weil ich mich nicht traute, aus Angst, es zu vermasseln. Auch hatte ich kein Air-Management, um die Töne mit der nötigen Kraft hervor zu bringen. All das hat sich enorm verbessert und nun singe ich eben im „Elite-Chor“ mit. Noten kann ich zwar immer noch nicht wirklich lesen, aber nach ein paar Mal proben sitzt das Stück im Ohr und ich kann es ganz prima singen. Bin ja auch nicht alleine, sondern habe zwei sehr begabte Tenöre neben mir, an denen ich mich orientieren kann. Also nee, ich orientiere mich eigentlich immer an ihnen.

Ich muss sagen, dass mir die Texte im normalen Kirchenchor teilweise sehr auf den Sack gehen. Sie sind oft plump und in einfacher Sprache, sodass sie jeder verstehen kann, aber mir fehlt sehr oft die Poesie oder etwas zum Nachdenken. Das ist bei dem Freitags-Chor anders. Zwar sind auch hier viele Texte auf Latein, also nicht ohne Weiteres zu verstehen, aber wir beschäftigen uns immer mit den Worten und arbeiten mit Übersetzungen, um die Musik und ihre Aussageabsicht besser zu verstehen. Die Texte sind fast immer lyrisch und erzählen Geschichten. Auch wenn hier Jesus immer Thema ist, so ist die Message oft eine tiefer gehende, weil die Umsetzung emotionaler und bedachter ist. So erlebe ich das zumindest. Dabei bin ich nicht religiös, ich mag einfach die Musik, die vor diesem Hintergrund komponiert wurde. Dazu vielleicht morgen mehr.

Von den Werken, die ich bisher mit dem Freitags-Chor vertonen durfte, ist „Fürwahr, er trug unsere Krankheit“ von Buxtehude mein liebstes. Vielleicht möchten Sie hinein hören, auf YouTube gibt es eine ganz hübsche Version. Geht insgesamt 10 Minuten und ist wirklich wunderschön.


Aufwertung. (13/42)

13. September 2015

Ich war in einem Bahnhof, ging auf eine überfüllte Rolltreppe, auf der viele Kinder und vereinzelt ein paar Erwachsene standen. Diese fuhr über einen Hügel, dann im Zickzackkurs herab zum Bahnsteig. Der U-Bahnhof war leer, nur strömten jetzt die ganzen Menschen von der Rolltreppe darauf und füllten ihn. Eine Bahn fuhr ein, sie sah aus wie eine gewöhnliche S-Bahn, gar nichts besonderes. Jedoch stand auf der Fahrplananzeige „Leerfahrt“ oder so, an das Wort genau kann ich mich nicht erinnern. Die Bahn hielt an und die ganzen Kinder standen davor, sichtlich enttäuscht, dass es die falsche Bahn war. Die Türen blieben verschlossen. Ich fühlte mich in dem Moment wie ein Aufseher, der über die Köpfe der Kinder hinweg sieht. Dann sprang ein Kind wie ein Frosch gegen die Heckscheibe der Bahn und rutschte langsam wie ein Regentropfen ab und saß plötzlich auf dem Gleisbett. Dann fuhr eine weitere Bahn ein, sehr schnell war diese, und dockte an die erste an. Das Kind saß immer noch auf den Gleisen, musste sich aber zusammenkauern, damit ihm nichts Schlimmes passiert. Niemand außer mir hatte die Szene bemerkt. Die Bahnen fuhren aus dem U-Bahntunnel und es war niemand mehr da, nur der Junge und ich. Er krabbelte aus der Mitte, war aber zu klein, um von allein auf den Bahnsteig zu kommen. Ich half ihm auf und sagte: „Ja, bist du denn wahnsinnig?! Du hättest sterben können!“ Das Kind antwortete trotzig: „Ich darf doch wohl machen was ich will?“. „Nein!“, sagte ich und hielt den Jungen wie ein Baby im Arm, denn er war geschrumpft. Mit sanfter Stimme sprach ich: „Du wundervoller Junge, hast du denn noch nichts von der neuen App gehört? Gott hat eine App in den Store gestellt, damit kann man sein Leben upgraden.“ Ich zog mein iPad hervor und zeigte ihm die App, darauf konnte man die aktuellen Gespräche, Gedanken und Handlungen einer Person sehen und Eigenschaften, Gegenstände und Errungenschaften, die eine Person besitzt. Im Hauptmenü gab es einen riesigen Kopf, auf dem Upgrade stand. Das Kind strahlte total, es war ja auserwählt. Ich hatte ihm die App gezeigt.

Und dann bin ich aufgewacht.


Utopie! (12/42)

6. September 2015

Wir sollten uns eine Utopie ausdenken, in der wir gerne leben würden. Unserer Phantasie waren keine Grenzen gesetzt und wir konnten uns aussuchen, ob wir allein, in Grüppchen oder als eine große Gruppe daran arbeiten wollen. Wir entschieden uns für die große Gruppe. Ansonsten durften wir machen, was und wie wir wollten; dafür hatten wir den ganzen Tag Zeit.

Wir überlegten fünf Minuten und jeder schrieb etwas auf einen Zettel, dann trugen wir unsere Ideen einander vor. Ich sammelte die Kategorien auf einem weiteren Zettel und am Ende glichen wir diese Kategorien mit unseren Ideen ab.

    Mensch und Natur
    Gesundheit
    Lebensmittel
    Gleichstellung
    Wirtschaft und Finanzen
    Politik und Mitbestimmung
    Industrie
    Umwelt, Wasser und Strom
    Wohnraum
    Mobilität
    Kommunikation und Medien
    Bildung und Erziehung
    Wissenschaft
    Kunst und Kultur

Diese Schlagworte schrieben wir auf eine riesige Wandzeitung und gingen sie Punkt für Punkt durch. Jeder konnte dann seine Ideen genauer ausführen oder eine Idee kommentieren. Bei den Punkten „Wirtschaft und Finanzen“ und „Politik und Mitbestimmung“ hielten wir uns am meisten auf. Hier gab es enormen Gesprächsbedarf, weil die Vorstellungen teilweise extrem auseinander gingen. Nachfolgend werde ich unsere gemeinsame Utopie stichwortartig den Kategorien nach beschreiben. Interessant finde ich, dass wir eine ziemlich reale Utopie erschaffen haben. Im Grunde schufen wir ein Gesellschaftsmodell.

Mensch und Natur

    Nachhaltigkeit und ökologische Grundprinzipien stehen bei jeder Entscheidung an erster Stelle.
    Keine Massentierhaltung, Tiere zum Verzehr werden artgerecht gehalten.
    Ressourcen werden nur auf Bestellung geschöpft.

Gesundheit

    Alle Leistungen des Gesundheitssystems sind kostenlos, zum Beispiel Behandlungen und Medikamente.
    Umfassende vorbeugende Maßnahmen.

Lebensmittel

    Nicht kostenlos, aber staatlich subventioniert.
    Bio, FairTrade, nachhaltige Erzeugung.
    Bedarfsgerechte Bestellung monatlich durch die örtliche Gemeinde, zum Beispiel werden im Winter andere Lebensmittel verbraucht als im Sommer.
    Keine Verschwendung durch Bestellerprinzip, falls Sonderwünsche.
    Genussmittel nicht subventioniert.

Gleichstellung

    Religion und Staat sind strikt getrennt.
    Absolute Meinungs- und Pressefreiheit.
    Gleichstellung Aller, zum Beispiel aller Geschlechter, Hautfarben, Nationalitäten, Sexualitäten, Religionen.

Wirtschaft und Finanzen

    Eine Kasse für alles, jeglicher Lohn und Mehrwert fließt hinein, um beinahe jede Kategorie des Lebens kostenlos halten zu können.
    Grundeinkommen. Variabel, monatlich berechnet nach gesellschaftlichem Arbeitsaufkommen. Das Grundeinkommen ist gleichzeitig der Monatslohn und beinhaltet jegliche Sozialausgaben. Jeder hat monatlich das gleiche Einkommen, egal ob Müllmann oder Politiker.
    Keiner muss arbeiten, jeder darf arbeiten.
    Arbeit steigert das Grundeinkommen aller. Niemand arbeitet nur für sich, sondern für die Gemeinschaft. Privaten Reichtum gibt es nicht, alle sind gleich reich. Ungenutztes Grundeinkommen verbleibt in der Kasse für alle, für den Einzelnen steht maximal zur Verfügung das monatliche Grundeinkommen,
    Virtuelle Währung, transparent und öffentlich.

Politik und Mitbestimmung

    Gemeinden, Basistreue Delegation, im Grunde Räte-Demokratie. Basis entscheidet und Delegierte müssen die Meinung der Gemeinde vertreten.
    Transparenz in allen Entscheidungen, öffentliche Sitzungen und Protokolle.
    Volksentscheide.
    Kritikzentrum, von uns ironisch „Zentrum für politische Schönheit“ genannt, das die Kritik am Staat anhört und verarbeitet, die Delegierten überwacht und mit dem Kritikern Lösungen entwickelt, mit dem Volke abspricht und gegebenenfalls umsetzt.

Industrie

    Konsumgüter sind nicht kostenlos.
    Produktion nach Bedarf und auf Bestellung.
    Herstellung dauert zwar länger, aber so wird Verschwendung reduziert und alles wird mit Bedacht bestellt.
    Produkte müssen hochwertig sein und haben eine tatsächliche Lebenslange Garantie mit Reparatur und allem.
    Recycling ist erstrangig.

Umwelt, Wasser und Strom

    Wasserkraft, Solar und Wind sind erstrangig und kostenlos.
    Keine Atomenergie, fossile Brennstoffe nur ausnahmsweise nach strenger Prüfung erlaubt und mit hohen Kosten für Industrie und Verbraucher verbunden.
    Keine Umweltverschmutzung, nachhaltige Kreisläufe.
    Regenwasseraufbereitung.
    Lärmarm.

Wohnraum

    Kostenlos
    Zukunftssicheres Bauen

Mobilität

    Kostenlose Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, hohe Taktung
    Autofreie Stadt, Versorgung, zum Beispiel Feuerwehr, Krankenwagen, natürlich erlaubt.
    Kostenloser Fahrservice für Schwangere, körperlich Beeinträchtigte etc.
    Elektrofahrzeuge und Carshaaring für Fernziele.
    Fahrradstraßen prägen Stadtbild.
    Verkehrsleitsystem mit Sicherheitsfunktion, Hindernis- und Pannenerkennung etc.
    Lärmarm

Kommunikation und Medien

    Kostenlose Nutzung des Internets, Glasfaser für alle, kostenloser Mobilfunk.
    Medien werbefrei und kostenlos zugänglich per Internet. Investigativer Journalismus ist Pflicht.
    Keine Werbung in Publikationen nicht erlaubt, nur im Fernsehen und auch nur zwischen den Sendungen für fünf Minuten.

Bildung und Erziehung

    Kostenlos, Kita und Schule für alle und immer.
    Sechs Jahre Grundschule, danach keine Schulformtrennung.
    Absolute Chancengleichheit, kein Leistungsdenken.
    Grundschule fördert vor allem Kreativität und gesellschaftspolitisches Denken.
    Freue Wahl der Fächer nach der Grundschule. Falls im Berufsleben Defizite erkannt werden, kostenlose Nachhilfe an den Schulen und an der Uni.

Wissenschaft

    Forschungsbedarf wird von den Unis angemeldet und von der Industrie kostenlos produziert.
    Ethikkommitee entscheidet über schwierige Forschungsfragen.
    Forschung im Bereich der Grundversorgung vorrangig.
    Unabhängig von Politik.

Kunst und Kultur

    Künstler sein ist ein Beruf, Künstler erwirtschaften durch ihre Arbeit einen Mehrwert, der wie im Bereich „Wirtschaft und Finanzen“ erklärt, der Gesellschaft zugute kommt.
    Kostenpflichtiges Angebot, Bürger suchen sich ihre Art der Unterhaltung aus und zahlen vom Grundeinkommen.

Fallout Shelter. (11/42)

6. September 2015

Nun folgt eine kleine Gesellschaftskritik, vom Hersteller sicherlich nicht beabsichtigt, aber verpackt in einem zutiefst kapitalistischen Spiel, in dem ich die Menschen nur nach Leistung bewerte und sie systematisch ausbeute. Doch von vorne…

Ab und an spiele ich Quizduell mit Freunden, das war’s aber auch schon. Zur Schulzeit spielte ich gerne „Die Sims“, ich hatte sehr viel Spaß am Bauen und Einrichten von Häusern. Die Sims an sich empfand ich als langweilig und tötete sie auf unschöne Arten und Weisen: Zimmer mit Kamin und ohne Sauerstoffzufuhr. Swimmingpool mit Sprungbrett und ohne Leiter zum Aussteigen. Herbeirufen des Sensenmannes mittels Cheat…

  

Aktuell spiele ich auf dem Handy „Fallout Shelter“. Die Welt ist einem Atomkrieg oder einer sonstigen Umweltkatastrophe im Zusammenhang mit der Atomkraft zum Opfer gefallen. Ich bin Leiter eines Schutzbunkers und habe zum Ziel, meine Bunkerstadt mit immer mehr überlebenden Menschen zu bevölkern und die Anlage zu erweitern, um die Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Die Menschen erhalten je nach Begabung eine Aufgabe, für die sie geeignet sind. Je mehr Menschen Zuflucht in meinem Bunker finden, desto mehr Arbeit gibt es und desto mehr kann ich bauen. Die Produktion von Nahrung, Wasser und Strom muss zu jeder Zeit gewährleistet sein, sonst werden meine Schützlinge krank und versterben. Außerdem kann ihre Zufriedenheit sinken, dann arbeiten sie schlecht und unzuverlässig und sind der Gesellschaft nicht von Nutzen.

Die Leistung der Menschen wird nach ihrem SPECIAL-Wert beurteilt, danach kann man sie auch sortieren und hat schnell einen Überblick über ihr Potenzial.

    S = Stärke (Strength)
    P = Wahrnehmung (Perception)
    E = Ausdauer (Endurance)
    C = Charisma (Charisma)
    I = Intelligenz (Intelligence)
    A = Beweglichkeit (Agility)
    L = Glück (Luck)

Diese Eigenschaften hat jeder, sie sind nur unterschiedlich ausgeprägt. Je nach Eigenschaft sind die Menschen für verschiedene Dinge gut:

    Stärke: Strom produzieren
    Wahrnehmung: Wasseraufbereitung
    Ausdauer: Lagerraum
    Charisma: Kinder produzieren oder Radiostudio
    Intelligenz: Klinik oder Forschungslabor
    Beweglichkeit: Nahrung produzieren
    Glück: Überall nützlich, besonders beim Kinder machen

In diesem Spiel bin ich im Grunde Arbeitgeber und verantwortlich dafür, dass alles läuft. Dies hat zur Folge, dass ich die Menschen nur nach ihrer Tauglichkeit bewerte, um mehr und mehr Ressourcen produzieren und meine Anlage stetig maximieren zu können. Doch meine Arbeitnehmer werden träge, krank und faul. Sie jammern und fallen auch um vor Erschöpfung. Dann sind sie schlechtes Human Kapital, schließlich sollen sie Leistung erbringen. Also überschütte ich sie ständig mit Drogen, dafür habe ich extra eine Klinik und ein Forschungslabor, damit sie arbeiten, arbeiten, arbeiten!

Doch was bringen mir diese Menschen, wenn sie sich nicht weiter entwickeln?! Also muss ich sie wohl oder übel fortbilden, damit sie ihre Arbeit besser und besserer erledigen. Alles nur für unsere Gesellschaft, für unseren Bunker! (Für meine Zufriedenheit!)

Nun, Fortbildungen sind doof. Es fehlt dann jemand im Wasserkraftwerk und weniger Strom wird produziert, es fehlt jemand in der Radiostation, wo Überlebende angelockt werden, und niemand zeugt Kinder, die für mich arbeiten können, wenn sie erwachsen sind. Aber es muss sein, also schicke ich eine Person in die Schule oder in den Sportraum, nur damit er nützlicher wird. Am liebsten würde ich alle fortbilden, das bedeutet nämlich Leistung!, aber wer sorgt dann für die Reproduktion der Gesellschaft? Ein Dilemma. Vor lauter Arbeiten kommen die Menschen nicht oder kaum dazu, ihre Eigenschaften zu erweitern. Weil ich es mir nicht leisten kann, den Stärksten aus der Stromproduktion in die Schule zu schicken, nur weil er so wenig intelligent ist. Er tut doch seine Arbeit dort gut! Doch was ist, wenn mein Bunker überfallen wird? Das passiert nämlich häufig. Auch Feuer brechen aus und radioaktiv verseuchte Käfer dringen ein, dann weiß dieser Stärkste nicht, was er tun soll und rennt wie die Schwangeren und die Kinder schreiend durch die Gegend. Und verteidigt nicht den Bunker! Schlimm ist das.

Es gibt übrigens noch etwas Tolles: einen Tempo-Knopf. Wenn zum Beispiel wenig Wasser vorhanden ist, kann ich in der Aufbereitungsanlage auf den Tempo-Knopf drücken. Dann wird quasi die Zeit in diesem Raum beschleunigt und die Menschen arbeiten schneller. Bevor man auf den Knopf drücken kann, sieht man die Unfall-Wahrscheinlichkeit. Je schlechter die Menschen ausgebildet sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit eines Zwischenfalls. Also liegt es in meinem Interesse, dass die gefälligst schlau zu sein haben!

Und an diesem Punkt staune ich über dieses Spiel. Es führt mir vor Augen, was eine Gesellschaft wie unsere, die sich über Leistung definiert, letztendlich ist: Ausbeutung mit Hinblick auf die Nützlichkeit mit dem Ziel der Maximierung. Mehr, immer mehr!

Ich denke, jeder kann in diesem Spiel Parallelen zu unserer Welt finden. Montagabend, nachdem wir Bildungsurlauber uns kennen gelernt haben, handelte das Gespräch unter Anderem davon, dass wir uns im Grunde alle im Kennenlern-Interview über unsere Leistungen definiert haben. Der eine ist hier und da aktiv, der andere singt in einem Chor, die eine studiert dieses hoch komplexe Fach und die andere hat schon so und so viele klassische Literatur gelesen… Diese Erkenntnis war witzig, ich musste dann an Fallout Shelter denken. Ich zückte das Handy hervor und erklärte das Spiel und wir sprachen noch bis in die Nacht über die Bedeutung von Leistung in dieser Welt.

Und wahrscheinlich rührt zur Zeit die Angst vor Fremden daher, dass ein Anderer ihre Arbeit besser machen könnte als sie, zum Beispiel ein Geflüchteter. Und deshalb sprießen die besorgten Arschlöcher nur so aus dem Boden. Getrimmt auf Leistung, angetrieben durch Unwissen und Angst, jeder hier und da gut, gerade so gebildet, um ganz normal durch das Leben zu kommen und nicht reflektiert genug, das zu erkennen und in Frage zu stellen. Natürlich haben die Angst. Hat es doch unser Bunkerleiter versäumt für Gerechtigkeit zu sorgen, sodass niemand gerade so über der Armutsgrenze leben oder sich bis zur Erschöpfung abrackern muss, um sich in seiner sogenannten Freizeit ausruhen zu können. Stattdessen besitzen ein paar Wenige allen Reichtum und die restlichen 98 Prozent müssen Leistung erbringen und arbeiten und arbeiten und arbeiten, um bestehen zu können und den Reichtum der Reichen zu mehren.

Dabei sind neue Menschen im Bunker super, sie erfüllen Arbeit und erzeugen Mehrwert. Wo ist denn für das System gesprochen der Haken? – Jeder ist austauschbar, wichtig nur sein SPECIAL-Wert. Bildung würde nur das System in Frage stellen.

Und genau hier liegt das Problem.


Nutzt die Gelegenheit! (10/42)

6. September 2015

Seit Freitagnachmittag bin ich zurück aus dem Bildungsurlaub. Es waren fünf wunderbare Tage und meine Erwartungen an ein gesellschaftspolitisches Seminar – sofern ich welche hatte – wurden mehr als nur erfüllt. Sicherlich haben die Teamer enorm dazu beigetragen – zwei sehr offene und schlaue Menschen, eine junge Frau und ein junger Mann, die voll und ganz auf unsere Bedürfnisse eingegangen und diese in das Seminar-Konzept eingeflochten haben.

Ich denke, dass auch die Gruppengröße eine wichtige Rolle inne hatte. Wir waren sechs Bildungsurlauber und zwei Teamer, insgesamt also acht Personen. Ursprünglich sollten wir zehn Personen sein, doch vier hatten abgesagt oder sind nicht erschienen. Die Teamer gaben uns sechs den Freiraum, den wir für unsere Vorstellungen und Phantasien brauchten. Wir waren sechs sehr interessierte und dabei so unterschiedliche Menschen mit verschiedenen Schwerpunkten, dass wir uns in allen möglich Themen ergänzen und auch widersprechen konnten. Aufgrund der Gruppengröße arbeiteten wir beinahe immer zusammen und lernten uns so intensiver kennen, als ich es mir mit zehn Leuten vorstellen könnte.

Von neun bis achtzehn Uhr erhielten wir Input von den Teamern und abends in der Bar oder an einem Tisch im Freien befanden wir uns in einem geselligen Austausch über die Dinge, die uns im Leben auslaugen, die Quellen, aus denen wir Kraft und Freude schöpfen, über unsere Wünsche für die Zukunft, für uns selbst, über die Geflüchtetenthematik und das erbärmliche Aussitzen der Politik, über unsere Definitionen von einem guten Leben, von Glück und Zufriedenheit…

Ich für mich kann sagen, dass mein Horizont sich tatsächlich erweitert hat. Wann bitteschön hat man denn neben Alltag und Beruf wirklich die Zeit, sich eine Woche allein mit der Gesellschaft zu beschäftigen, in der wir leben? Ich bin sehr froh über diese Gelegenheit und kann jedem uneingeschränkt empfehlen, sein Recht auf Bildungsurlaub wahrzunehmen und sich gesellschaftspolitisch weiter zu bilden. Für nächstes Jahr habe ich mir das Folgeseminar schon im Kalender markiert und freue mich, die anderen fünf wieder zu sehen; wir haben uns gemeinsam für einen Termin entschieden.


Rückblick. (9/42)

31. August 2015

Neulich habe ich einen Text wieder entdeckt, den ich am Vortag meines 18. Geburtstages geschrieben haben muss. Den letzten Absatz davon habe ich damals veröffentlicht, alles davor muss ich wohl als Entwurf gespeichert haben. Weil ich sehr müde bin und morgen recht früh aufstehen muss, aber die Wette nicht verlieren möchte, werde ich ihn jetzt verbloggen. So ist der Entwurf keiner mehr und muss nicht mehr ein trauriges Dasein im Entwürfe-Ordner fristen. Beim Lesen dachte gerade, dass sich mein Schreibstil sehr geändert hat. Ich schreibe sachlicher und bei Weitem nicht mehr so emotional wie früher. Es ist interessant zu sehen, wie sich das Leben verändert und weiter entwickelt. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben und weiter für mich gekämpft, und rückblickend habe ich mein Ziel von damals erreicht. Und mit diesem Gedanken lege ich mich nun schlafen und stelle mir vor, wie ich meinem vergangenem Ich von der Zukunft berichte.

In weniger als einer Stunde erlischt mein altes Leben, doch an dieser Tatsache kann ich mich nicht erfreuen. Nein, diese Begebenheit macht mich traurig und färbt mein Empfinden in ein tiefes, verschwommenes Schwarz, welches sich nicht vom Schwarz des Himmels unterscheidet, welchen ich sehen kann, wenn ich durch das unreine Glas des Fensters meiner Wohnhaft nach Draußen blicke.
So wie der Himmel, so ist auch meine Traurigkeit: unendlich. Ich fühle mich gefangen, still und fortwährend erdrückt, als wäre ich geboren worden, um erdrückt zu werden von allem, was meine Welt ausmacht; als wäre dies meine Bestimmung, mein Schicksal. Alles fesselt und nichts hält mich. Diese stille Seelenqual, diese tief in meinen Knochen ruhende Niedergeschlagenheit, sie ist erschreckend wie der Tod für mich.

Der Regen schlägt sanft an mein Fenster, doch ich bin gebannt von der Stille in mir, welche mich an die Option des Todes nachdenken lässt, und so kann ich dem Regen keine Aufmerksamkeit schenken, obwohl dieser sie reichlich verdient hätte. Wäre es nicht tragisch und bezeichnend, würde ich jetzt, wenige Stunden vor meinem achtzehnten Lebensjahr, wie das Grollen eines Donners innerlich zerbersten und aus dem Fenster fallen, hart auf dem nassen Asphalt aufschlagen und eines blutigen Todes sterben? Was würde mein Vater fühlen?

Und noch während ich den Gedanken meines augenblicklichen Todes kunstvoll ausmale, steigt in mir der Zorn meines Lebens empor und flutet mein Vorstellungsvermögen mit Bildern, Emotionen und Erinnerungen, welche nur das Leben in meinem Kopf betreffen. Wahrlich lebe ich, doch wirklich lebe ich nur in meinem Kopf, in meinen Gedanken und Gedankengängen, in meinen Texten und Tweets und Direct Messages. Worte waren und sind meine einzige Wahrheit.

Ich bin traurig, weil mir wieder einmal bewusst wurde, dass alles, was mir Freude bereitet, mir Kraft gibt und mich des Lebens ermutigt, größtenteils nicht wirklich ist. Meine Wirklichkeit in mir ist nicht meine Realität, obwohl sie das sein könnte, wäre ich nicht an dieses Leben gefesselt, welches mich mit der Angst vor dem Tod durch die vermeintlich verloren gegangene Ehre meiner Familie schmerzt. Noch ist es nicht passiert, doch allein der Gedanke daran, dass es passieren könnte, fügt mir himmelweite Schmerzen zu. Ich ertrage den Gedanken nicht, vor meinem Ist-Leben flüchten zu müssen, damit ich mein Kann-Leben leben kann.

Tränen besiedeln schlagartig meine Augen, wenn ich an jene denke, die mir wirklich nahe stehen. Und diese Nächsten… auch sie existieren fast ausschließlich in meiner Gedankenwelt, obwohl sie echt und wahr und wirklich sind, obwohl auch in ihnen ein Herz unaufhörlich gewaltige Mengen roten Blutes durch ihre Menschenkörper pumpt. Es gibt diese Helden wirklich und ich habe einige von ihnen schon getroffen und verehre sie in wahrsten Sinne des Wortes. Sie geben meinem Leben — mit „meinem Leben“ meine ich das Leben, welches ich in mir fühle —, so viel Anmut und Erlesenheit, wie es mein „reales Leben“ niemals können wird, solange es mein altes, reales Leben bleibt.
Es schmerzt mich, dass ich gefangen bin in der dusteren Realität meines Lebens, dass ich die Wirklichkeit in meinem Kopf (noch) nicht zu meiner Realität machen kann.

Mein Leben besteht hauptsächlich daraus, mir ein Leben mit den vielen großartigen Menschen und Figuren auszumalen, das ich haben könnte. Als wäre es meine Pflicht, von besseren Zeiten zu träumen, fühle ich mich schlecht und schuldig, wenn ich das mal nicht tue, wenn ich nicht in’s Internet schreibe, mich nicht über meine Helden und Freunde informiere und auch nicht mit ihnen kommuniziere. Es ist eine Art Zwang für mich, zu träumen. (Ich träume fast ausschließlich von und über meine Fantastic Friends.) Doch, das muss auch gesagt werden, es ist der schönste Zwang, den ich kenne.

Der Himmel scheint unendlich, genau wie meine Traurigkeit, doch ebenso unendlich scheint auch meine Zuversicht, dass alles besser, meine Wirklichkeit zu meiner Realität wird und ich am Ende glücklich sein werde.

Geburtstage waren mir nie wichtig, doch dieser, der achtzehnte, ist es irgendwie doch, denn ich komme meinem Ziel, in naher Zukunft glücklich zu sein, einen nicht kleinen Schritt näher.


Bildungsurlaub. (8/42)

30. August 2015

Ab morgen habe ich eine Woche Bildungsurlaub. Das Hessische Bildungsurlaubsgesetz ermöglicht es nämlich allen Arbeitnehmern sich fünf Arbeitstage im Jahr per bezahlter Freistellung durch den Arbeitgeber beruflich, politisch oder allgemein weiterzubilden; zusätzlich zum „normalen“ Urlaub. Hierbei ist nur wichtig, dass es sich um eine anerkannte Bildungsmaßnahme handelt, zum Beispiel von der Bundeszentrale für politische Bildung, und dass der Arbeitgeber spätestens sechs Wochen vor Beginn informiert wird, damit er den Bildungsurlaub entsprechend im Dienstplan hinterlegen oder sonst wie planen oder genehmigen kann. Und falls er ihn nicht genehmigt, kann man im Folgejahr sogar zehn Tage in Anspruch nehmen. Die Übertragung muss man wiederum auch beantragen, und die kann nicht abgelehnt werden. Mehr als zehn Tage im Jahr sind aber leider nicht möglich.

Ich fahre morgen in die Bildungszentrale der Gewerkschaft, in der ich in den letzten drei Jahren mehr als zehnmal aus beruflichen Gründen war. Zimmer und Verpflegung sind auch für den Bildungsurlaub inklusive, die Gewerkschaft übernimmt die ganzen Kosten.

Und jedes Mal ist es soso toll! Die beruflichen Inhalte werden dort von Ehrenamtlichen vermittelt und haben – und das ist nicht einfach so dahin gesagt – immer meinen Horizont erweitert, zumal sie ganz anders vermittelt werden als verwandte Themen damals in der Schule. Wer fand denn schon Unterricht in den Fächern Gesellschaft, Politik oder Wirtschaft nicht ätzend und langweilig? Wir als Seminarteilnehmer haben dort immer gemeinsam und voneinander gelernt; ein Mix aus Arbeit mit den eigenen Erfahrungen, Input durch Zuhören, Lesen und Erleben, Diskussionen und Gruppenarbeiten. Das hat mir immer sehr gefallen und ich bin gespannt, wie es mit dem politischen Inhalt sein wird, der nichts mit meinem Beruf zu tun hat.

Und die Leute! Die beruflichen Sachen werden auch nur von Menschen belegt, die sich dafür interessieren, insofern war abends immer reger Austausch bis in die Nacht oder den frühen Morgen angesagt. Trotzdem waren alle pünktlich am Morgen zum Tagesbeginn anwesend, wenn auch die erste Stunde etwas träge vonstatten ging. Aber auch das war immer im Tagesplan berücksichtigt.

Das Seminar morgen handelt von Interesse, Macht und Zukunft und die Beschreibung lautet:

Alle, die langfristig in der Gesellschaft etwas ändern wollen, brauchen ein Basiswissen über die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen wir uns bewegen. Wir werden stärker, wenn wir unsere eigene Rolle erkennen und wissen, welche politischen Handlungsmöglichkeiten wir haben.


Für junge Menschen, die verstehen wollen, nach welchen Prinzipien unser Leben in Wirtschaft, Betrieb und Gesellschaft funktionieren. Eigene Lebensvorstellungen entwickeln, Möglichkeiten, Hindernisse und Grenzen kennen lernen. Berufschancen, Interessenskonflikte, wirtschaftliche Zusammenhänge und Abhängigkeiten entdecken und durchschauen. Die Grundzüge des Wirtschafts- und Sozialsystems kennenlernen. Lebens- und Berufschancen selbst in die Hand nehmen und dabei Unterstützung finden. Das und mehr hat dieses Seminar zu bieten!

Ich bin echt gespannt und freue mich sehr auf morgen. Mit dem Mittagessen geht es los und ich schwöre: Ich kenne kein Restaurant oder etwas in der Art, das so gute und vielfältige Speisen zu bieten hat. Ich liebe das Essen dort!.. und bekomme jetzt Hunger. Vielleicht esse ich noch ein paar Cashew-Kerne.


Frankenberg. (7/42)

30. August 2015

Am Mittwoch haben wir einen Tagesausflug nach Frankenberg an der Eder gemacht. Wir wollten eine historische Altstadt besichtigen und das Städtchen wurde uns von einem Freund empfohlen.

Wir parkten am Friedhof und liefen etwa fünf Minuten in die Altstadt, bestehend aus vielen bunten und prächtigen Fachwerkhäusern. Wir suchten das Info-Häuschen auf und nahmen einen kostenlosen Stadtführer sowie diverse andere Heftchen über Reise-Tipps in Nordhessen mit. Von der Dame dort wurde uns noch das Thonet Museum empfohlen, dazu gleich mehr. Als Erstes sahen wir uns das Rathaus an: Ein Fachwerkbau im gotischen Stile mit 10 kleinen Türmchen. Man kann es betreten und befindet sich dann in einer unspektakulären, leeren Halle. Interessant ist vielmehr das Äußere. Ich fühlte mich beim Anblick wie in einem Märchen, so hübsch sah das aus. Leider hatten wir das Glockenspiel um 11:45 Uhr verpasst, und das zweite um 15:45 Uhr haben wir vollkommen vergessen.

Wir schlenderten weiter durch die Fachwerk-Einkaufsstraße, aufgefallen sind mir ziemlich viele „zu vermieten“-Schilder in den Schaufenstern. In der Yelp-App wurde das Indian King gepriesen, also aßen wir indisch und wurden nicht enttäuscht. Dort tranken wir auch je ein Glas Mongo-Lassi, bestehend aus Buttermilch und Mango-Pulp. Das war furchtbar lecker! (Leider war unser Versuch, das Getränk zu Hause nach zu machen nicht so gelungen. Falls Sie also einen Tipp haben, gerne in die Kommentare schreiben.) Gestärkt machten wir uns dann auf zum Thonet-Museum. Mir sagte der Hersteller erst einmal nichts, bis ich die Stühle sah. Auf zwei Etagen konnte man sich einmal zur Geschichte informieren und einmal zu den aktuellen Möbeln. Im geschichtlichen Bereich stehen überfall die berühmten Thonet-Stühle in tausend Formen und Farben herum und an den Wänden hingen vieleviele Bilder, auf denen Thonet-Stühle zu sehen waren: Pablo Picasso, Marilyn Monroe, der König, der Kaiser und so weiter. Viele prominente Menschen, die auf Stühlen sitzen, sich dran lehnen etc. Vielleicht kannte ich die Stühle auch von solch einem Bild, das ich irgendwo mal gesehen habe; in meinem Umfeld habe ich diese Stühle noch nie gesehen. Einen Blick ist das Museum jedenfalls wert, zumal der Eintritt kostenlos ist.

Sodann gingen wir zum Kloster St. Georgenberg, in dem die Stadtverwaltung und ein Heimatmuseum beheimatet sind. Im Museum wurden wir von einem sehr redseligen alten Herren geführt; ich zumindest konnte mich gar nicht auf die einzelnen Objekte konzentrieren. Wenn mich etwas interessiert, lese ich darüber nach. Bei der Informationsflut aber wollte ich nur fliehen. Nach einer Stunde etwa konnten wir uns endlich losreißen. In Sichtweite lag der Burgberg, also gingen wir dort hoch. Nach gefühlt tausend Stufen erreichten wir die Burgruinen und saßen ein paar Minuten auf einer Bank, um uns auszuruhen. Stephan las aus dem Stadtführer vor, während der Wind nur so durch die Haare zauste, und ich sah in die Ferne, in die Landschaft und freute mich schon an die Mufflons, die wir später noch besuchen wollten.

Neben den Ruinen ragte die Liebfrauenkirche (evangelisch) in den Himmel empor. Wir sahen uns darin um, während jemand Orgel übte. Das Gewölbe war wunderschön mit floralen Mustern geschmückt und im Licht der untergehenden Sonne erstrahlten die Bleiglasfenster. Wer sich gerne Kirchen anschaut, dem sei die Liebfrauenkirche empfohlen.

Zum Abschluss setzten wir uns in einen Biergarten vor das Rathaus – wobei Biergarten falsch ist, mir fällt das passende Wort gerade nicht ein – und schrieben Postkarten. Zwei davon gingen an die Freunde, mit denen wir über mögliche Ausflugsziele sprachen. Für beide hatten wir den gleichen Text, nur die Anrede war jeweils anders. Weil das aber langweilig gewesen wäre, teilten wir den Text auf: Jedes zweite Wort kam auf die Karte, sodass der Text nur Sinn ergeben konnte, wenn die Empfänger die Karten zur nächsten Chorprobe mitbringen. Daran saßen wir bestimmt eine Stunde. Hat aber Spaß gemacht.

Während des Lesens merke ich gerade, dass man denken könnte, Frankenberg sei eine weitläufig. Nein, das Städtchen ist es ganz und gar nicht; Frankenberg ist winzig und sehr pittoresk. Alles ist prima zu Fuß zu erreichen. Ein schönes Ziel für einen Tagesausflug, die Sehenswürdigkeiten sind höchstens zehn Minuten voneinander entfernt, wenn man ganz in Ruhe geht.

Dann fuhren wir heim. Aber nicht, ohne den Wildpark zu besuchen. Denn dort konnte man neben Mufflons auch Bergziegen, Schwarz-, Rot- und Damwild sehen. Der Park ist jederzeit in jeder Jahreszeit kostenlos begehbar. Hat man die Ziegen hier sich, steht man quasi mit allen anderen Tieren in einem Gehege. Riesige Hirsche standen wenige Meter von uns entfernt und starrten uns gelangweilt an, weiter hinten war ein Truppe Damwild, das dabei war zu speisen. Sie rannten erst einmal weg, als wir näher kamen, und tippelten dann wieder unbeeindruckt zu ihrem Futter. Wir sahen ihnen ein wenig dabei zu und suchten die Mufflons, meine absoluten Lieblingstiere. Ich kann gar nicht genau sagen, warum sie das sind, sie sind es einfach. Die Mufflons waren aber schüchtern und flohen immerzu vor uns. Dabei auch ein ganz ein weißes, ein Albino-Mufflon! Wie süß! Es war leider schon sehr dunkel geworden, also fuhren wir wirklich nach Hause. Den Wildpark möchte ich auf jeden Fall noch einmal besuchen.

Frankenberg. Geht da mal hin, wenn ihr einen ruhigen Tagesausflug machen wollt. Wir fanden es sehr schön.


Nie wieder Kater. (6/42)

23. August 2015

Gestern waren wir im Münsterland auf der Hochzeit von J. aus unserem Chor. Mit den angereisten Mitgliedern sangen wir während der kirchlichen Trauung und haben später auf der Feier noch ein paar weltliche Stücke zum Besten gegeben. Bis auf fünf Personen – einschließlich Stephan und mir – fuhren alle am Abend wieder zurück nach Kassel; wir hatten uns nachmittags schon in ein Hotel eingebucht. Zum Heiraten war das Wetter perfekt gewesen: wolkenloser Himmel, angenehme Wärme, ohne dass man im Anzug schwitzt, eine leichte Brise hier und da.

Wir feierten, tranken und tanzten bis in die frühen Morgenstunden. Während die Sonne langsam den Himmel lichtete, fuhren wir zu fünft mit dem Taxi zurück in unser Hotel. Frühstücken konnte man ab halb zehn und die Zimmer sollten kurz nach elf geräumten sein. Das war schon ziemlich sportlich, wenn man bedenkt, wie viel wir getrunken hatten. Es war sicherlich sechs Uhr morgens, als wir in den Zimmern verschwanden.

In weiser Voraussicht hatte ich uns übernachtenden Gästen Elektrolyte eingepackt, das sind im weitesten Sinne Mineralien, also: Natrium, Kalium, Calcium, Magnesium, Bicarbonat, Chlorid, Phosphat und Sulfat. Sie steuern in unserem Körper unter anderem den Wasserhaushalt, und der ist nach ordentlichem Alkoholkonsum ziemlich aus dem Gleichgewicht. Vereinfacht gesagt sorgt Alkohol dafür, dass die Niere „trunken“ wird und übermäßig Flüssigkeit ausscheidet und dabei nicht mehr kontrolliert, welche Elektrolyte der Körper noch braucht und welche nicht. Deshalb ist man nach so einer Nacht auch verkatert, weil man erstens dehydriert ist und zweitens weil die Mineralien fehlen.

An der Arbeit würde ich einer alkoholisierten und verkaterten Person eine Sterofundin-Infusion anhängen, also eine fertige Elektrolytlösung. Da ich uns aber sicher keine Nadel legen wollte, und das hätte ich in dem Zustand auch gar nicht gekonnt, habe ich Elektrolyte zum Auflösen in Wasser mitgenommen. Nennt sich Elotrans Elotrans und gibt es rezeptfrei in der Apotheke. Auf der Packung steht zwar, dass Mittel sei für Durchfallleiden gedacht, aber als Anti-Kater-Mittel ist es unschlagbar! Man fühlt sich höchstens müde, wenn man zu wenig schläft, aber verkatert ist man nicht. Zusätzlich zu den Elektrolyten ist noch Zucker enthalten, der ein bisschen Kraft spendet.

Zweieinhalb Stunden Schlaf haben sich bei uns natürlich bemerkbar gemacht, ich war bis eben noch ein wandelnder Winnie Pooh. Doch von einem Kater keine Spur; höchstens noch der Rest-Alkohol im Blute, der sich langsam über den Tag abbaute.

Ich kannte die Wirkung natürlich schon, die vier noch nicht. Sie waren überrascht, wie gut das wirkte. Falls Sie also mal vorhaben viel zu trinken, aber keinen Kater wollen, dann holen Sie sich so ein Päckchen aus der Apotheke. So als kleiner Tipp.

Und immer schön Wasser trinken!


Über die Liebe. (5/42)

22. August 2015

Ich lese ja immer gerne etwas über die Liebe„, sagt Frau Fragmente.

Definiere Liebe: Ein extrem starkes Gefühl, welches die Gedanken, das Verhalten und die Handlungen einer Person einnimmt und bestimmt. Körper und Seele lechzen nach Befriedigung, wie bei einem Suchtkranken, und tun alles dafür, diese Befriedigung zu erhalten; auch wenn der zu zahlende Preis einen in den Ruin treibt.

Bisher habe ich Liebe als etwas Schmerzhaftes erlebt. Aus meinem Erfahrungsschatz purzeln auch zu allererst bittere Erinnerungen hervor, erst viel später folgen ein paar wenige schöne Momente, in denen ich sehr glücklich war. Aber der Großteil der Gedanken ist mit Schmerz verbunden. Deshalb wohl auch meine eher zynische Definition der Liebe.

Meinen ersten Freund habe ich im Internet kennen gelernt, da war ich 17. Zu einer Zeit, in der ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten habe. Nachdem ich R.H. zweimal besucht hatte, musste ich mich bei meinen Eltern outen, da war ich 18. Ich hatte mehr Angst vor einem unerfüllten Leben, als vor den möglichen Konsequenzen. Rückblickend war die Zeit um das Outing ein nicht zu bändigender Prozess, befeuert durch die Unterstützung von Freunden für ein freies Leben.

Ich war sehr verliebt in ihn. So sehr, dass ich auf der Fahrt zu unserem ersten Treffen vor Angst um das Danach weinte. Ich war verliebt, ohne ihn jemals zuvor gesehen zu haben. Über ein halbes Jahr haben wir nur geschrieben. Text ist mächtiger in seiner Wirkung als gesprochene Sprache. Deshalb war ich wohl so schwer verliebt, ich fühlte mich verstanden und beachtet, da interessierte sich jemand für mich. Wort um Wort. Es war ein Leichtes mich zu verlieben.

Ich konnte weder die Zeit bei ihm genießen, noch mein Herz mit heilender Liebe erfüllen, dabei brauchte ich nichts mehr als das. In der ersten Nacht weinte ich so sehr an seiner Brust, wie ich noch nie zuvor weinte. Es war alles voller Schmerz.

Es hielt nicht lange. Heute kann ich sagen, dass ich wohl eine helfende Hand brauchte, die mich aus dem Abgrund zieht. Dieser Jemand war mein erster Freund. Es tut mir leid, dass er das mit mir durchmachten musste. Ich hoffe nur, dass auch er diese Zeit für sich zu nutzen wusste (wie das klingt…).

Die große Liebe meines Lebens war mein zweiter Freund, er folgte direkt auf den ersten. In dieser Beziehung war der Schmerz noch viel größer, wenn auch aus anderen Gründen. Alles war zersetzt von Eifersucht und Hass, von sexueller Begierde und dem Wissen, dass niemand aufrecht aus der Sache gehen würde. Und dennoch haben wir es uns fast ein Jahr lang angetan. Es gab ja auch die zuvor genannten Momente vollen Glückes, das wiegelt viel auf, denkt man.

M. lernte ich via App kennen. Was für mich damals überhaupt nichts Sexuelles hatte, unser kleiner Chat, liest sich aus heutiger Sicht wie ein sicheres Daraufhinwirken. Gleich beim ersten Date haben wir miteinander geschlafen. Dreimal. Dann bin ich nach Hause gefahren und wir haben uns einen Monat nicht gesehen, aber miteinander geschrieben und geschrieben und geschrieben. Und wieder war ich verliebt. Aber: M. hatte einen festen Partner, das wusste ich von Anfang an. Und dennoch ließ ich mich darauf ein. Unstillbare sexuelle Begierde war die Grundlage dieser Beziehung, Ekstase in Reinform. Irgendwann wünschte ich mir mehr als das, denn der Mensch in M. war ein ganz besonderer. Doch es sollte nicht sein. Es hatte alles seine Gründe, die rückblickend sehr vernünftig waren.

Aus dieser Beziehung habe ich enorm viel für mich mitgenommen. Ich entwickelte ein Selbstbewusstsein, ein Selbstwertgefühl für mich als Menschen. Ich habe viel gelernt und erfahren, was Liebe auch sein kann: eine illusionäre Erwartung an eine Person oder Beziehung, die niemals sättigt. In sexueller Hinsicht war ich vollkommen glücklich mit M., aber das kann ja nicht alles sein.

Mit Stephan bin ich seit zwei Jahren in einer festen Partnerschaft. Wir wohnen zusammen, wir haben einen gemeinsamen Alltag, gemeinsame Familie und Freunde; ich bin glücklich und zufrieden. Da ist kein Schmerz, kein Bedauern, kein Schatten aus der Vergangenheit. Eine normale Partnerschaft ohne extreme Spitzen. Die Gefühle sind hier nicht am Anschlag, niemand brennt aus, läuft leer. Vielleicht ist das der Grund für die Stabilität. Und vielleicht ist das die Art von Liebe, die zu mir passt. Ich denke, Zufriedenheit steht über der Liebe.

Es fällt mir schwer, ihm die Worte „Ich liebe dich“ zu sagen – nicht, weil ich ihn nicht liebe, ich liebe ihn sehr –, sondern weil diese Wortfolge eine Myriade an bitteren Erinnerungen in mir hervor ruft. Viel zu oft habe ich diese Worte benutzt, obwohl mir beim Aussprechen immer etwas in der Brust zerplatzte. Jedes Mal ein bisschen mehr, bis ich nichts von der Liebe übrig war.

Ich möchte nicht, dass mir das mit Stephan passiert. Ich will, dass ich mit der Zeit lerne, Liebe anders zu definieren als oben. Durch ihn und mit ihm. Dass ich glücklich bleibe, dass wir weiterhin eine Partnerschaft führen, in der nicht die Bitterkeit, sondern die Zufriedenheit die Hauptrolle inne hat. Auch wenn es holpert, denn das tut es manchmal.

Aber jetzt ist alles gut. Und das soll es auch bleiben. :)


Nachts auf der Straße. (4/42)

18. August 2015

Es war kurz nach 23 Uhr, wir gingen nach Hause. Etwa hundert Meter vor uns neben einem geparkten Auto und fünf Meter vom Eingang des Nachbarhauses entfernt stand etwas auf dem Bürgersteig, das auf den ersten Blick aussah wie ein Pinguin. Natürlich konnte es kein Pinguin sein, die sind in Nordhessen nicht gerade in freier Wildbahn anzutreffen. Wobei wir in einer Stadt wohnen, die von Waschbären beherrscht wird, insofern ist hier so einiges sehr skurril. Jedenfalls bastelte mein Gehirn sich in der Dunkelheit irgendetwas zusammen, es muss ja alles verarbeitet und zugeordnet werden, und so kam mir der Pinguin in den Sinn. Je näher wir kamen, desto seltsamer wurde dieses Etwas. Plötzlich sah ich keinen Pinguin mehr, sondern drei Katzen: zwei große mit hellem Fell, die brav wie eine Sphinx nebeneinander auf dem Bürgersteig saßen, und eine kleine mit eher dunklem Fell, die auf dem Boden lag, alle vier Extremitäten von sich streckend. Alle sahen sie zu uns ‚rüber, so dachte ich. Je näher wir kamen, desto unsinniger wurde auch der Gedanke mit den Katzen. Wieso sollten sie da auf dem Bürgersteig eine Versammlung abhalten?! Ich zog mein Handy hervor und leuchtete das Etwas an, aber von den mutmaßlichen Katzen strahlte nichts zurück. Also konnten es auch keine Katzen sein. Mein Partner blieb auf Höhe unseres Hauses stehen und ich ging langsam an das Etwas heran. Nun sah ich, dass dort drei Tüten standen. Fein säuberlich in einer Reihe. Zwei große aus Papier und eine kleine, transparente Plastiktüte mit rötlichem Inhalt. Sofort dachte ich an Sprengstoff (rot, typische Böller-Farbe) und Explosionen (Tianjin, Bangkok). Ich sorgte mich und gleichzeitig ärgerte ich mich wegen der Gedanken, wollte aber auch nicht näher an die Tüten heran. Wer stellt schon einfach so Tüten auf die Straße? Offensichtlich war es kein Müll, und es sah auch nicht aus, als wäre jemand aus dem Auto ausgestiegen und hätte mal eben die Tüten abgestellt, um leichter aus der Karre zu kommen; der Öffnungswinkel der Tür hätte sie beim Schließen umgeworfen. Ich nahm einen kleinen Stein von der Wiese und warf ihn zu den Tüten. Es passierte genau nichts. Trotzdem war mir mulmig zumute, ich traute mich nicht an die Tüten heran. Wieso sollte jemand drei Tüten in Reih‘ und Glied mitten auf den Bürgersteig stellen? Dieser Jemand muss doch etwas im Schilde führen! Ich ging zurück und dann gingen wir ins Haus. Leider nahm ich die Tüten in Gedanken mit und grübelte lange. Wir überlegten gemeinsam, ob es übertrieben ist wegen so etwas die Polizei anzurufen, entschieden uns aber dafür. Auch für solche Sachen ist sie doch da, die Polizei, der Freund und Helfer. Ich wählte die 110 und berichtete, was wir gesehen hatten. Ich fragte, ob es in Ordnung ist, wegen so etwas anzurufen. Der Mann am Ende der Leitung sagte, das sei vollkommen in Ordnung und sie würden sich das anschauen.

Während ich meine Zähne putzte sah ich aus dem Badezimmerfenster zur Straße hinunter. Keine fünfzehn Minuten waren seit dem Anruf vergangen, da war die Polizei auch schon da. Sie hielten schräg vor dem Objekt an und leuchteten es mit dem Auto aus. Dann stieg ein Polizist aus und ging langsam mit einer Taschenlampe zu den Tüten. Er leuchtete sie an und hob mit einem Hebeldings die kleine Tüte hoch zur näheren Betrachtung. Dann gab er seinem Kollegen ein Zeichen, der daraufhin ausstieg und sich die anderen beiden Tüten ansah. Aus ihren Gesichtern konnte ich nichts heraus lesen, also fragte ich vom Fenster aus, was das denn nun sei. „Ich hatte angerufen, weil das alles sehr suspekt aussah. So etwas gab es noch nie auf unserer Straße.“

Der erste Polizist leuchtete mit seiner Taschenlampe in meine Richtung und sagte mit tiefer Bärenstimme: „Das sind scheinbar Schaumwaffeln von der Kirmes.“

SCHAUMWAFFELN! So viele Gedanken und unnötige Ressourcenverschwendung wegen ein paar verkackten Schaumwaffeln! Ick glaub es hackt!

Ich entschuldigte mich für die Überbesorgnis, Mensch war mir das peinlich. Die Polizisten packten die Tüten in den Wagen, sagten, dass es schon in Ordnung sei und führen hinfort.

Schlimm, wie viel Angst die Medien schüren können. Hätte niemals von mir gedacht, dass ich mal so in solch einer Situation reagieren würde.

ANGRIFF DER KILLERSCHAUMWAFFELN!!!


Mit Aug‘ und Ohr. (3/42)

16. August 2015

Vor fünf Jahren noch hörte ich viel Musik (Rock, Pop, Türkisch, Klassik) und ein paar Podcasts. Zeit dafür hatte ich genug, fuhr ich doch dreieinhalb Stunden am Tag zur Schule und wieder zurück. Am Wochenende las ich durchschnittlich zwei Stunden in Büchern (Romane, Fantasy, Science-Fiction) und in der Woche täglich am Abend meinen Feed-Reader (Technik, Design, Prosa- und Befindlichkeitsblogs, Erotik). Fernsehen schaute ich schon damals nicht mehr, Nachrichten waren mir egal und Zeitungen zu unhandlich.

Die Podcasts waren in dieser Zeit sehr techniklastig; sieben verschiedene waren es zu Spitzenzeiten, jeweils mehrere Stunden pro Folge. Trotz des hohen Zeitaufwandes konnte ich mithalten; vielleicht auch, weil ich sehr introvertiert war und lieber Zeit alleine verbrachte als mit Anderen (Freunde, Familie). Für Serien und Filme nahm ich mir kaum Zeit. Lesen von Büchern fiel mir schwer, das ging bis Ende des letzten Jahres so. Blogtexte waren ideal, da sie relativ kurz und episodenhaft sind; auch heute noch lese ich sie lieber. Außerdem waren sie eine Möglichkeit der Teilhabe am Leben von interessanten Personen, von denen einige zu meinen Freunden wurden.

Heute sieht es anders aus. Musik höre ich nur noch selten, und falls doch, nur nebenher zu anderen Tätigkeiten. Die Genres lauten nun Ambient, Klassik und Neo-Classic, damit kann ich prima lesen, lernen und duschen.

Die oben genannten Bücher-Genres lese ich kaum noch, mein Regal besteht mittlerweile zum Großteil aus Sachbüchern, denn scheinbar habe ich mich zu einem sonderbaren Schwamm entwickelt, der nur Wissen aufsaugen möchte.

Das zeigt sich auch anhand der Podcasts, die ich heute höre. Technik musste weichen und Platz für Gesellschaftspolitik und Tagesgeschehen machen. Meine neue große Liebe ist „hr2 – Der Tag“ des Hessischen Rundfunks, eine Hintergrundsendung zu jeweils einem Thema. Die Sendung behandelt nicht unbedingt tagesaktuelle Themen wie der Name vermuten lassen würde. Seit einer Woche zum Beispiel geht es um verschiedene Städte und Kulturen auf der ganzen Welt, ist das nicht herrlich?! Auch höre ich viel vom Deutschlandfunk (Politik, Hintergrund, Forschung, Umwelt und Verbraucher). Auf meinem Arbeitsweg oder beim Einkaufen ist das ideal, so spricht mich keiner an und ich kann mich im Nu weiterbilden. Außerdem habe ich mir angewöhnt, alles in doppelter Geschwindigkeit zu hören, das spart extrem viel Zeit! Das klappt erstaunlich gut, sobald man sich daran gewöhnt hat; ich brauchte eine Woche für 1,5x und dann zwei Wochen für die doppelte Geschwindigkeit. Der Nachteil ist, dass ich Menschen aus dem Alltag nur noch ungeduldig zuhören kann, wenn es in dem Gespräch um Informationsaustausch geht. Das trifft zum Glück nicht meine Freunde, die sprechen aber auch so schnell wie meine Podcasts. Und mit Freunden spricht man ja auch viel über Erlebnisse und Gefühle, da ist es etwas Anderes. Da achte ich auf Stimme, Gesichtsausdruck, Wortwahl. Bei Informationen ist mir das Drumherum nicht so wichtig.

Fernsehen schaue ich nach wie vor nicht, stattdessen hat sich mein Serienkonsum enorm gesteigert. Beim Kochen und Speisen läuft eigentlich immer etwas, ich kann gar nicht mehr ohne. Dass das ungesund ist, weil man sich nicht mehr auf das Schmecken und Genießen konzentriert, ist mir bewusst. Aber auch egal, weil ich fast nie Zeit habe, in Ruhe zu essen. Schlimm ist das… Filme schaue ich eigentlich gar keine mehr.

Zeitungen sind mir immer noch zu unhandlich und per se schon veraltet, wenn ich sie in der Hand halte. Tagesgeschehen beziehe ich eh per Audio. Im Feed-Reader tummeln sich nur noch Befindlichkeitsblogs und ein Design-Magazin. An dieser Stelle muss ich Frau Novemberregen sehr danken, dass sie viele der verstummten Blogs durch ihre Wetten reaktiviert hat. So auch meines.

Ich muss sagen, dass ich das Schreiben sehr vermisst habe. Gleichzeitig fällt es mir schwer über meine Gefühle zu schreiben wie früher, dabei gibt es viel zu erzählen. Aber da kommen wir in 42 Tagen bestimmt wieder hin.


Der Kassetten-Player. (2/42)

14. August 2015

Wenn folgende Geschichte ein Witz wäre, würde ich ihn so erzählen:

Es war einmal ein kleiner türkischer Junge, der mit seiner Familie im Schwarzwald lebte. Seine Eltern kauften einen VHS-Player und von den Nachbarn durfte er sich Kassetten ausleihen, derer hatten die Nachbarn nämlich ganz viele. Er sah das Regal durch – von oben bis unten, von A bis Z – und suchte sich einen Disney-Film und „Ein Schweinchen namens Babe“ aus. Doch Letzteren musste er wieder zurück legen, weil darin ein Schwein die Hauptrolle spielte. Und die sind bekanntlich haram für Muslime.

Meine Eltern habe ich damals nicht verstanden, ich war Grundschüler in der ersten oder zweiten Klasse. Ihre Gründe sind mir heute allzu klar, aber das soll jetzt kein Thema sein; sondern der erwähnte Disney-Film.

„Ein Schweinchen namens Babe“ durfte ich also nicht sehen und „Dumbo“ habe ich aus Trotz nach ein paar Minuten ausgeschaltet. Ich redete mir ein, dass Dumbo ganz dumm sein muss, schließlich wird er schon so genannt. Dann kann er ja nur blöd sein! Brauche ich ihn doch gar nicht zu sehen! (Beide Filme nie nachgeholt.)

Heute noch habe ich ein sonderbares Gefühl, wenn ich an Dumbo denke. Ich empfinde Zorn, dass ich ihn aufgrund seines Namens verurteilt und ihm keine Chance gegeben habe, meine Vorurteile aufzuklären. Schlimmer noch, dass ein Unbeteiligter den Trotz ausbaden musste, hatte er doch nichts mit dem Auslöser zu tun. Es mag verrückt klingen, dass ein Kinderfilm Derartiges bei mir auslöst; zumal diese Szene schon mehr als 15 Jahre her ist. Ich weiß natürlich, dass Dumbo nur eine Zeichentrickfigur ist, ein Phantasie-Gebilde, und dass ich über ihn denken kann, was ich will. Dennoch denke ich immer wieder an dieses Ereignis zurück: Immer dann, wenn mir Vorurteile im Alltag begegnen. Immer dann, wenn ich heraus finden möchte, ob ich selbst in einer Sache voreingenommen bin oder welchen Auslöser meine Voreingenommenheit hat.

Ich finde es spannend, dass so eine Kleinigkeit derartig tief gehende Verhaltensänderungen in einer Person bewirken kann. Vielleicht hat gerade dieses Ereignis mein Gefühl von Gerechtigkeit und Solidarität maßgeblich geprägt.


Wetten, dass … (1/42)

12. August 2015

Tja, da pöbelt man hier und da und zieht seltsame Schlüsse, strickt sich Verschwörungstheorien und Mafiazugehörigkeiten zusammen und schon hat man eine Wette am Laufen.

  • Wettpartner: Frau novemberregen und Frau fragmente.
  • Bedingungen: Dreimal die Woche drei Monate lang jeweils 300 Wörter schreiben und veröffentlichen, also bloggen. (Ich muss hier ein paar Füllwörter einbauen, versteht sich.)
  • Laufzeit: Drei Monate, also 12. August bis 11. November. Ingesamt 14 Wochen beziehungsweise 42 Tage. Zweiundvierzig! Ist das nicht schön!?
  • Wetteinsatz: Essen gehen und Karaoke.

Zu klären wäre noch, ob dieser Eintrag mitzählt und ob es unter den genannten Bedingungen auch Joker gibt. Ach, die erste Frage beantworte ich mir selbst, indem ich die 300 Wörter einhalte.

Ich bin seit kurz vor neun wach und habe es bisher nur geschafft, mir einen Kaffee zu machen (Knopf drücken) und mir die Kontaktlinsen einzusetzen (auf die Augen drücken). Ich habe heute frei und morgen mündliche Prüfung. In der Sache bin ich ganz entspannt, weil ich die zu lernenden Themen vor geraumer Zeit schon einmal zusammen gefasst und gelernt habe und sie mir nur noch einmal durchlesen müsste. Dazu habe ich aber keine Lust und noch ist der Zeitdruck nicht hoch genug. Stattdessen spiele ich mit dem Gedanken, den Vanille-Joghurt aus dem Kühlschrank mit einem gehäuften Esslöffel Zimt zu mischen und hierfür einen Apfel klein zu hacken. Danach mache ich mich fertig und gehe einkaufen, schließlich gilt nur heute der 10fach-Payback-Coupon. Ich werde mir eine Emaille-Aufbackform kaufen und Krams für Hackbällchen Toskana. Bekanntlich liebe ich ja Tomaten, obgleich meine Balkontomaten noch nicht errötet sind angesichts der tropischen Hitze und Hautkrebs-erregenden Sonneneinstrahlung. Vielleicht ist es ja nächste Woche so weit. Für die Hackbällchen hatte ich am Samstag schon Büffelmozzarella gekauft, denn den liebe ich auch. Auch dürfte allseits bekannt sein, dass mit leerem Bauch keine Revolutionen zu erwarten sind. Deshalb schiebe ich das Lernen wohl so vor mich her, aber ich muss ja alles nur nochmal lesen. Gelernt hatte ich all das schon einmal. Wie gut auch, dass ich um fünf zu unserem Gewerkschaftertreffen gehe, als hätte der Tag heute flexible 28 Stunden.


Nachträge.

31. Januar 2014

Ich warte gerade auf die Bahn nach Hause, freue mich, dass ich früher als geplant Feierabend habe, da schreibt mir Stephan, dass seine Mutter mich zum Mittagessen an Nikolaus eingeladen hat. Es ist die erste Einladung, ein Schritt auf mich zu seit Stephans Outing. Ich lese die Nachricht und freue mich, freue mich so sehr, dass ich laut „JA!“ rufe und auf der Stelle springe. Die alte Dame neben mir schaut mich verwundert aus ihrer Echthaarperücke an und ich sage zu ihr „Heute ist einfach ein schöner Tag!“ und steige breit vor Glück lächelnd in die mittlerweile angefahrene Bahn ein, setze mich an einen Fensterplatz und genieße die Sonnenstrahlen.

Ich besuche meine Nachbarin und wünsche ihr ein frohes neues Jahr. Sie schenkt mir ‚was ein und wir sprechen ein wenig über Weihnachten und noch ein wenig mehr von der letzten Nacht des Jahres. Irgendwie kommt die Sprache auf lange Zungen und ich erzähle von dem Kinde eines Freundes, das meiner Meinung nach die längste Zunge der Welt hat. „Die hab‘ ich aber auch!“, sagt meine achtundsiebzigjährige Nachbarin und berührt mit ihrer Zunge ihre Nasenspitze. Daraufhin lachen wir beide und ich fühle, dass dies ein sehr schöner Moment zwischen uns ist.

„Einmal Chips&Chicken mit Ketchup und Mayo“, sage ich, als das Mädchen hinter der Theke dem Kunden vor mir zwanzig Cent Rückgeld auf die Ablage legt. Der Kunde nimmt hastig sein Geld in die Hand und brüllt die Bedienung an, wie sie sich nur anmaßen konnte, das Geld auf die rechte und nicht auf linke Ablage zu legen. Aus Courage sage ich „Sorry, mein Fehler. Ich habe mich wohl vorgedrängelt!“ und der alte Mann schreit genervt: „Sie haben damit nichts zu tun!“ Er zeigt mit dem Zeigefinger auf die Bedienung und brüllt, dass sie Schuld sei, schließlich wäre sie Ausländerin. Daraufhin das Mädchen hinter der Theke: „Entschuldigen Sie, aber wie sprechen Sie mit mir? Haben Sie keine Manieren?!“ Der Mann: „Ich rede mit Ihnen, wie es sich für Sie gehört, Ausländerschlampe!“ Mich packt die Wut, ich werde immer wütend, wenn unschuldige Menschen wegen irgendwelchen Überzeugungen angefahren werden, und brülle zurück: „Jetzt hören Sie mal auf! Was soll das denn?!“ Der Mann: „Halten Sie sich ‚raus!“ Ich: „Nein! Sie scheiß Nazi!“ Alter Mann, rückwärts davon laufend: „Aha, Sie sind wohl auch Ausländer!“ Ich, sehr laut: „Ja, das bin ich! Und Sie sind ein Nazi! NAZI!“ Ich brülle noch etliche Male, viele Besucher des Einkaufszentrums bleiben stehen oder drehen sich um und der alte Mann hastet roten Kopfes durch die Menge. Das Mädchen hinter der Theke hat glasige Augen und fragt noch einmal nach meiner Bestellung, entschuldigt sich. Ich sage, dass der Vollidiot sich zu entschuldigen hat und nicht sie. Sie stimmt zu und meine Bestellung geht auf’s Haus.

Wir sitzen gemütlich auf dem Sofa und schauen eine Folge „Downton Abbey“, Stephan, seine Mutter und ich. Es folgt eine Szene, in der Lady Mary mit verzweifelter, beinahe weinerlicher Stimme zu ihrer Mutter sagt: „Oh Mamá, ich bin verloren! Ich habe mir einen Geliebten genommen genommen, ohne an Heirat zu denken. Einen Türken!“ In dem Moment muss ich mich tierisch zusammenreißen, um nicht in Lachen auszubrechen. Denn die Situation ist durchaus lustig: auf dem Sofa sitzt Frau Mutter, links von ihr der Sohnemann und neben ihm sein Geliebter, der Türke.

Ich habe neulich am Bahnhof Rodriguez kennen gelernt, er macht hier ein Auslandssemester und kommt aus Brasilien, studiert Deutsch, ist 20. Er fragte mich in einem sehr klaren Deutsch nach dem Weg und sieht gar nicht wie ein Brasilianer aus, zumindest entspricht er nicht meinem Brasilianer-Stereotyp. Er hat rote Haare und sieht aus, wie ich mir Christopher Robin immer vorgestellt habe. Jedenfalls sprachen wir ein wenig und tauschten Nummern aus für den Fall, dass er in Kassel nicht zurecht kommt. Letzte Woche trafen wir uns und er erzählte mir, dass er noch nie in seinem Leben Schnee gesehen habe, weil er in Brasilien auf so einer Insel lebt mit Strand und Palmen und dauerhaft warmer Sonne. (Neid!) Nun hat es hier ja über Nacht zehn Zentimeter geschneit und er hat sich total darüber gefreut, Namen in den Schnee getippelt und so. Durchaus nachvollziehbar. Lustig daran finde ich, wie mir das kalte Wetter und der Schnee solange auf den Sack gingen, bis mir ein Fremder von seiner Faszination diesbezüglich berichtete und mir damit verdeutlichte, wie schön das auch sein kann. Wie könnte ich das nur jemals vergessen? Dennoch wünsche ich mir nichts sehnlicher als bunt und Frühling und ganz viel grün und Fahrrad fahren im T-Shirt und auf dem Balkon sitzen ohne zu frieren. Ich kann dieses GRAU nicht mehr ertragen.

Es ist bestimmt schon eins und wir hätten schon lange in den Federn liegen sollen, aber ich wollte ja unbedingt einen Mutterkuchen backen. Nach der Arbeit kommt bekanntlich das Vergnügen, und so sitze ich mit Stephan im Wohnzimmer und wir lesen uns gegenseitig Details über die Charaktere unserer aktuellen Lieblingsserie vor. Den ganzen Tag schon trage ich „God Rest Ye Merry, Gentlemen“ als Ohrwurm in mir herum. Ende Januar. Um mein Leid zu lindern oder um es vielleicht zu beenden, verbinde ich mein iPhone mit der Bluetooth-Box und lasse den Song laufen. Wir sitzen uns gegenüber in Sesseln, seine Beine zu mir ausgestreckt und meine zu ihm. Erst summen wir, jeder in sein Smartphone vertieft, und dann singen wir; zwar nicht ganz textsicher, aber dennoch stimmig an den wichtigen Stellen. Am Ende des Songs beuge ich mich zu ihm vor und küsse ihn, werfe ein weiteres winterlich-weihnachtliches Lied an. Wie es dazu kam, dass wir aufgestanden sind, weiß ich nicht mehr so genau. Jedenfalls stehen wir plötzlich im Raum und tanzen zu „It could be a wonderful World“ in der Version von Leon Bibb, Ronnie Gilbert und Robert De Cormier, halten uns, lächeln uns an, küssen uns. In diesem Moment fühle ich mein Glück stärker als jemals zuvor. Und nicht ein Zweifel.


Mein lieber Stephan.

26. Dezember 2013

Es ist gar nicht so lange her, dass wir uns in einer Bar gegenüber saßen und uns kennen lernten. Wenn ich unser kleines Wir betrachte, das seitdem gewachsen ist, sehe ich eine Schatzkiste voller funkelnder Brillanten. Für mich bist du ein einmaliges Geschenk und ich kann bei Gott mein Glück nicht fassen, dass ich an deiner Seite sein darf. Jedes Mal, wenn ich dich ansehe, mit dir rede oder dich fühle, bewundere ich deine Schönheit; die deiner Seele wie auch die deines Körpers.

Ich weiß, es wird dir schwer fallen, die nachfolgenden Zeilen zu lesen, weil du bescheiden bist und voller Selbstzweifel, doch ich möchte dir sagen, was ich in dir sehe. Du bist schlau, gesprächig, wortgewandt, witzig, charmant, phantasievoll, wissbegierig, intelligent, bedacht, reflektiert, demütig, vergebend, friedliebend, vorausschauend, achtsam, ehrlich, aufgeschlossen, aufrichtig, emotional, emphatisch, feinfühlig, mutig, poetisch, herzlich, liebevoll, begehrenswert, männlich, sinnlich, geil, saugeil, leidenschaftlich, verspielt, fürsorglich, sanft, weich, flauschig, auf wundersame Art verrückt, lebhaft, voller Freunde und schlicht wundervoll. Du bist aber auch verletzlich, zerbrechlich, zögerlich, manchmal melancholisch.

All diese Eigenschaften machen dich zu dem Stephan, der du bist. Zweifelsohne ist diese Aufzählung nicht komplett, denn das wird sie niemals sein können, und ich freue mich, mehr von dir kennen zu lernen.

Du bist mir sehr wichtig. Du machst mich glücklich und bringst mich zum Lachen, du redest mit mir, auch über schwere Themen; das bedeutet mir viel. Ich DANKE dir. Ich danke dir für das, was du bist. Nimm diese Worte an. Du hast sie verdient.

In diesem Sinne wünsche ich dir frohe Weihnachten. Welch’ ein Glück, dass ich dich gefunden habe!.. Ich küsse dich.

In Liebe
dein Attila


Outing².

26. Oktober 2013

Es passierte heute, am Samstag kurz vor zwei. Wir waren gerade sehr zärtlich zueinander, als seine Mutter kam. Sie stand vor verschlossener Tür, weil das Sicherheitsschloss eingehängt war. Er sprang entsetzt auf und zog sich an, ich versteckte mich unter der Bettdecke, war nicht fähig mich zu bewegen; zwischen Schock und Embryonalstellung.

Er öffnete die Tür und sagte: „Oh mein Gott…“ Sie fragte besorgt, was los sei. Er sagte: „Ich habe jemanden kennengelernt.“ Sie antwortete: „Das habe ich mir fast schon gedacht.“

„Es ist ein junger Mann.“

Sie sagte, „Aber das ist doch nicht schlimm“ und „Hier zwei Berliner für euch“ und „Dann bis später“ und ging.

(OH MEIN GOTT!)


Zeugen Jehovas.

21. September 2013

Gerade standen Zeugen Jehovas vor meiner Wohnungstür. Ein Junge, vielleicht 12 oder 13, und vermutlich sein Vater. Der Junge war mitten im Stimmbruch, hatte viele Pickel und Sommersprossen und war noch ziemlich klein. Der Junge sagte, während sein Vater ein paar Schritte hinter ihm auf der Treppe stand: „Ich bin zu Ihnen gekommen, um Ihnen ein Heft über das Leid in der Welt zu schenken.“ Der Junge versuchte auf eine schrullige, fast schon niedliche Art selbstbewusst zu wirken. Ich bat um einen Moment und suchte meine Brille; wunderte mich dabei über den Satz des Jungen. Wieder an der Tür nahm ich das Heft dankend an mich, der Junge lächelte. Dann sind die beiden Zeugen gegangen.

Auch wenn das Heft jetzt ungelesen im Müll liegt, wollte ich den Jungen nicht vor seinem Vater blamieren oder mit Fragen verunsichern, die sich zwischen Tür und Angel nicht klären lassen; mit irgendwelchen Sätzen und Meinungen, die man als Uninteressierter in Momenten wie diesen parat hat. Ich wollte keine Diskussion anzetteln oder unhöflich werden, nur weil ein anderer Mensch andere Ansichten hat. Der Junge sah stolz aus, dass er sein Heft los geworden ist, und nichts schien mir in diesem Moment wichtiger als ein Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen.

Wenig später habe ich einer Freundin von diesem Ereignis erzählt. Sie sagte, dass sie früher als Jugendliche auch bei den Zeugen Jehovas gewesen und von Tür zu Tür gegangen war. Sie fand es ganz schrecklich. „Dich hätte ich sofort in meine Wohnung gelassen!“, sagte ich und wir lachten. „Wir hätten Kaffee getrunken und Musik gehört, wären bestimmt Freunde geworden.“

Und genau das wünsche ich dem Jungen. Dass er sich treu bleibt und viel liest und an seiner emotionalen Reife arbeitet, dann findet bestimmt auch er jemanden, der ihn zu sich lässt. Ich hoffe, er glaubt an sich und nicht an Dinge, die ihm auferlegt werden. Denn mich wiederum verunsicherte die Vaterfigur; der Mann, der hinter ihm stand, der den Jungen genau beobachtete.


Wehlheider Kirmes.

17. August 2013

Ich wohne ja ziemlich ruhig und idyllisch: abseits von Straßen, auf denen viel Verkehr ist; mit Garten und vielen Bäumen rundherum, die möglichen Lärm fern halten; bei Nachbarn, die großen Wert auf Ruhe legen und guten Geschmack beweisen, sollten sie mal die Musik lauter drehen.

Dieses Wochenende aber findet auf der Straße schräg gegenüber eine Kirmes statt, die seit Jahrhunderten zelebriert wird. Hierfür wurden am Freitag fleißig Vorkehrungen getroffen, inklusive vierstündigem Stromausfall: z.B. sind die umliegenden Straßen gesperrt worden, damit etliche Stände darauf hausen und ihre Waren oder Speisen oder Spiele oder Dienstleistungen anbieten können. Zusätzlich gibt es mehrere Musikstationen, meistens in Fressbuden oder Bierzelten oder Bars, die für Stimmung sorgen sollen. (Dieses Wirrwarr! Warum, warum nur?!)

Der Altbau, in dem ich wohne, liegt mitten im Kern des Geschehens. Daher wäre es mir möglich, an jedem Fenster der Wohnung einer anderen „Musik“ zu lauschen, sofern ich die Torheit dafür besäße.

Stattdessen halte ich mich bei geschlossenen Fenstern im Kern der Wohnung auf und lasse wider Willen mein Trommelfell von allen Seiten durch die abartig laute, unerträglich oberflächliche Partymukke beschallen, die immer wieder einen widerlichen Zorn in mir aufkochen lässt.

Gerade eben hatte dieser Zorn meinen persönlichen Siedepunkt erreicht. Ich war so sehr wütend, dass ich beinahe den Gedanken zu realisieren wagte, meine Sachen zu packen und bei einem Freund unterzukommen, bis dieses Sauffest vorüber ist. (Ich dachte sogar an eine Überdosis Tavor, die mich bis in den Nachmittag des nächsten Tages hätte ausschalten können, doch dann wäre dieser Kack ja immer noch nicht vorbei gewesen und ich hungrig oder gar tot.)

Interessanterweise folgte dem Wutausbruch die Belustigung darüber, dass ich mich wegen zwei Tagen des Lärms derart habe aufregen lassen. Dabei ist es an allen anderen Tagen des Jahres das perfekte Wohnen hier, und dafür bin ich trotz Zorn unendlich dankbar.

Wer weiß das schon: vielleicht soll dieses Straßenfest auch die Zufriedenheit der Anwohner steigern, wenn sie es erfolgreich oder auch mit kleinem Nervenzusammenbruch überlebt haben.


Die Ernte.

30. Juli 2013

Einem besten Freund, der in der schwierigsten Zeit meines Lebens für mich da und immer verlässlich war, ging es die letzten Tage nicht gut. Wir schrieben miteinander, ich habe ihm meine Unterstützung zugesichert und gesagt, dass ich für ihn da bin wie er es einst für mich war. Ein paar Tage war ich besorgt und fragte nach seiner Befindlichkeit, es schien aufwärts zu gehen. Gestern hatte ich ein ungutes Gefühl und habe ihn aufgesucht. Er war nicht da. Wir haben uns verabredet und getroffen. Er erzählte mir ausführlich, was passiert war und brach daraufhin und immer wieder in Tränen aus. Währenddessen habe ich ihn getröstet und gehalten; es war das erste Mal, dass er in meiner Gegenwart derart emotional wurde und über seine Gefühle sprach — obwohl wir sehr viel miteinander reden und nah zueinander stehen.

Nach vielen Worten wurde er klarer und es schien ihm besser zu gehen. Es war später Abend als er mein Angebot, in meiner Wohnung zu übernachten, annahm und wir nach Hause gingen.

In der Nacht dachte ich darüber nach, wie ich mich nach meinem Outing fühlte: vollkommen hilflos. Trotz allem Übel hatte ich Menschen an meiner Seite, die mir Unterstützung verschiedenster Art boten: Unterschlupf, Geld, Hilfe bei der Bewältigung von Papierkram, Fahrten in verschiedene Städte zur Klärung der Zukunft, Sachgegenstände und Kleidung, doch vor allem aufmerksame Ohren, zuversichtliche Worte und warmes Herz.

Meine Situation lässt sich objektiv nicht mit der des Freundes vergleichen, subjektiv gab es aber viele Gemeinsamkeiten, hier einige: die Annahme, es könnte keine Besserung geben, keine Auswege, nur schlechte Kompromisse. Erstklassiger Totalschaden.

Für mich war es interessant zu sehen, dass ich nun in einer Stellung bzw. Verfassung bin, Hilfe und Wärme zu geben. Dass ich Liebe spenden kann, wo sie bitter benötigt wird, und eine Schulter zum Anlehnen. Nie hätte ich das für möglich gehalten, dass ich, der kleine, schwache Junge, jemals Hilfe in Not- und Ausnahmesituationen leisten könnte.

Natürlich war das, was dem Freund passiert ist, nicht gut. Dennoch hat es mir gut getan, zu sehen, dass ich stärker geworden bin. Stark genug, um emotionale Extremsituationen abfedern zu können. Ein Hafen auf einer Insel, an der man getrost anlegen kann.

Solche Ereignisse haben ein ungeheuerliches Bindungspotenzial. Freundschaften werden stärker, man steht sich näher und entwickelt ein besseres Verständnis füreinander. Das hatte ich schon oft mit dem Freund erleben dürfen, bisher jedoch auf meine Probleme bezogen.

Es macht mich glücklich zu erkennen, was Freundschaft schaffen kann. Meine Stärke ist das Ergebnis der Wärme der Menschen, die zu mir standen und die an mich glaubten.

(Dem Freund geht es heute besser, seine Probleme scheinen sich tatsächlich zu lichten.)


Der kleine Junge.

28. Juni 2013

Als ich abends auf dem Balkon saß und mich auf den Besuch von Gustav freute, musste ich unweigerlich an den letzten Sommer denken. Ich war schwer verliebt in einen Mann und davon unabhängig frustriert über die Tatsache, dass ich in meiner neuen Wahlheimat einfach keine Freunde fand. Dann kam Gustav und wir wurden Freunde, verbrachten viel Zeit miteinander, reisten nach Berlin. Zum ersten Mal fühlte ich mich wohl mit einem Gleichaltrigen. Wir gingen Arm in Arm durch die Straßen Berlins, getragen von tiefer Freundschaft und einem Lebensgefühl, das mich hätte glücklich machen können. Ich hingegen war wegen gebrochenen Herzens den ganzen Sommer über traurig, trotz der schönen und guten Momente abseits der Liebe, von denen es rückblickend zahllose gab. Der Schmerz hatte alles Gute in meinem Leben verdeckt und erstickt. Ich war blind vor Liebe.

Zwanzig Sekunden lang hatte ich einen Heulkrampf auf dem Balkon, es überkam mich schlagartig. Es muss wohl an der Erkenntnis gelegen haben, dass ich damals trotz eines guten Lebens kein Glück empfand, mir still und leise ein anderes wünschte, nur weil ein fremdes Herz nicht wollte wie meines. Ich habe erkannt, dass ich im Bann einer einzigen Person stand und dass mir sonst nichts von Bedeutung gewesen war. Wie schade, dachte ich. Und wie traurig.

Ich habe sofort versucht zu verstehen, weshalb ich so heftig weinen musste, anstatt das Gefühl einfach da sein zu lassen und es zu akzeptieren. Ich dachte Sätze wie „Jetzt heulst du schon wieder, sei mal erwachsen“ oder „Du bist eine Klette, du kannst einfach nicht loslassen“. In der Verhaltenstherapie habe ich gelernt solche automatischen Gedanken zu unterbrechen, die direkt auf mein Selbstbewusstsein abzielen. Als ich merkte, in welcher Schleife ich schon wieder gelandet bin, habe ich mir gesagt, dass jetzt der kleine Junge dran ist und nicht die Vernunft; dass die eingetrichterte Vernunft den Jungen unterdrückt und bevormundet und dass sie wenigstens einmal die Fresse halten sollte. Ich habe meine Gefühle zugelassen und noch mehr geweint.

Es hat gut getan, denn ich habe begriffen, dass mein Leben so viel schöner ist, so viel leichter und ehrlicher seit dem letzten Sommer. Ich habe Freunde gefunden, mir ein Zuhause geschaffen und mich verliebt in einen Menschen, der mich nicht zurückweist. Ich habe klar gesehen, wofür ich zuvor zu blind war.

Nach dem Weinen war ich erleichtert und sogar stolz auf mich, dass ich dem kleinen Jungen in mir erlaubt habe zu fühlen was er fühlen will. Ich weiß nicht genau, was die Trauer in mir auslöste. Wichtig ist nur, dass ich mittlerweile merke, wann es wichtig ist meine Gefühle zuzulassen und den denkenden Teil des Kopfes abzuschalten.

Mehr fühlen, weniger denken!


Unangekündigter Besuch.

28. Mai 2013

Ich war gerade bei Daniel, als mich mein Vater anrief. Er grüßte mich und fragte, ob „Grüß Gott“ über dem Eingang des Hauses stünde, in dem ich wohne. Ich bestätigte das verwirrt und fragte ihn, weshalb er das wissen wolle. Mein Vater antwortete, dass er seit drei Uhr nachmittags dem Haus sei und gerne einen Kaffee mit mir trinken wolle. Dann fragte er, ob ich denn nie das Haus verlasse, er warte schon seit fünf Stunden auf mich. Ich war entsetzt, denn es war acht Uhr abends und ich hatte kurz nach drei mit Daniel das Haus verlassen. (Ob er uns verfolgt hatte?) Ich war genervt — er hatte weder geschrieben, noch angerufen — und erfreut zugleich. Ich sagte ihm, dass ich in zehn Minuten zu Hause sei.

Da stand er wirklich, an sein Auto gelehnt. Auf dem Heimweg dachte ich, dass er mich auf den Arm nehmen möchte, aber er war tatsächlich da. Ich umarmte ihn und wir gingen in’s Haus. Ich hatte mir seinen ersten Besuch in meiner Wohnung anders vorgestellt, doch nun war es wie es war. Ich schloss Haus- und Wohnungstür auf und hieß ihn willkommen in meinem Zuhause. In der Küche war mein Mitbewohner mit seiner Freundin am Kochen und ich grüßte sie mit dem Satz: Wir haben Überraschungsbesuch! Die Verwunderung stand ihnen buchstäblich in’s Gesicht geschrieben, als sie meinen Vater sahen. Ich stellte meinen Vater vor und sie gaben ihm die Hand. Dann folgte eine kleine Führung durch die Wohnung: Küche, Bad, Flur, Philipps Bereich bestehend aus Wohn- und Schlafzimmer, und zu guter Letzt mein Zimmer. Es war etwas chaotisch. Überall lagen Schulsachen und Ordner und auf dem Boden türmte sich ein Berg Wäsche, den ich eigentlich an dem Abend in die Maschine stecken wollte. Er sah sich die Bilder, Poster und Gemälde an den Wänden an, begutachtete die Möbel und Raumnutzung. Mein Zimmer gefiel ihm, das freute mich. Dennoch war ich wütend darüber, dass er ohne Ankündigung auf der Matte stand und ich nicht einmal Kuchen zu bieten hatte; alle Bäcker unterwegs hatten bereits geschlossen.

Wir saßen auf dem Balkon, tranken Kaffee und aßen Kekse, im Garten wehte die Wäsche an den Wäscheleinen, die Abendsonne schien direkt auf uns. Ich erzählte ihm, was ich an dem Tag alles unternommen hatte, und fragte ihn, weshalb er sich denn nicht eher gemeldet hatte. Wir hätten den Tag sinnvoll nutzen können und er hätte nicht fünf Stunden warten müssen. (Oder mich verfolgen?) Einerseits war es unglaublich, dass er mehr als 300 km hergefahren war um mich zu sehen, andererseits fühlte es sich wie Kontrolle an. Ich war wütend, aber es wäre nicht richtig gewesen, meine Wut auf ihn zu richten; schließlich war er mein Gast, wenn auch unangekündigt. Also sparte ich mir das.

Wir sprachen viel und lange über alles Mögliche und irgendwann kam er zu seinem Punkt und sagte er, er sei gekommen um mir in’s Gesicht zu sagen, dass er meine Art zu leben nicht richtig fände. (Also dass ich auf Männer stehe, an Wohnung, beruflicher Planung und auch sonst an nichts Anderem hatte er nichts auszusetzen.) Das war nichts Neues für mich, ich sagte meine zwei, drei Sätze dazu. Er fragte mich, ob ich glücklich sei. Ich antwortete deutlich mit einem Ja. Er sagte, dass könne nicht stimmen. Und siehe da: Aussage gegen Aussage. Ich zog die Geschworenen heran und bot ihm an: Papa, hinter dieser Glasscheibe in der Küche sind zwei Menschen am Werkeln, die mich bestens kennen, weil sie mit mir zusammen wohnen. Wenn du magst, kannst du sie fragen, ob ich glücklich bin.

Er wollte sie nicht fragen. Nun, dann halt eben nicht. Er wünschte mir, dass ich den richtigen Weg finde. Ich lächelte, denn an dem Wunsch gibt nichts auszusetzen, und bedankte mich.

Wir tranken noch eine Tasse Kaffee und dann wollte er auch schon wieder fortfahren. Ich sah mir die Situation von oben an und musste lächeln, denn wir saßen in einem Paradies, das in Grün und in Ruhe gelegen war und in dem es alles außer Kuchen zum Kaffee gab, und er sagte mir, er fände meine Art zu leben falsch. Das ist doch lustig! Ist das nicht lustig? würde jetzt der kleine Junge in mir fragen.

Ich wollte ihn nicht einfach gehen lassen, also fuhr ich mit ihm auf die Wilhelmshöhe. Wir standen über der Stadt unter dem Herkules und sahen der Sonne beim Untergehen zu. Er sollte sehen, wie schön es in Kassel ist und wie lebenswert. Dann fuhr er mich nach Hause und machte sich auf den Weg.

Wieder in der Wohnung sprach ich mit Philipp und seiner Freundin über dieses Geschehnis. Wir fanden es skurril, aber gut, denn es zeigte deutlich, dass mein Vater sich für mein Leben interessiert und dass da Potenzial ist. Und nun hat er auch die Gewissheit, dass ich nicht unter einer Brücke bei drogenabhängigen Homosexuellen im HIV-Endstadium wohne.

—– —– —– —– —–

Das war an einem Freitag. Am Dienstag darauf wurde ich von Oma, Opa und Onkel, Vater, Mutter und Bruder heimgesucht.

Immerhin angekündigt. Ich konnte aufräumen und alles in Glanz erstrahlen lassen. Es gab wieder eine kleine Führung durch die Wohnung, ein paar Einblicke auf meinen grünen Daumen (die Tomaten!) und kalte Getränke. Als Gastgebergeschenk wurde ich mit Paprikapflanzen und Petersilie, einer Packung „Merci“ und etwa einer Tonne an selbst gemachten Backwaren und Gekochtem beehrt.

Kritik gab es fast nur positive, meiner Oma z.B. gefielen vor allem die funktionellen Aspekte (erster Stock, Balkon, Garten), die sonnige Lage und die hohen Decken der Wohnung. (Okay, Oma wollte wissen, wo Mekka ist, damit sie gen Mekka beten kann, aber ich wusste das nicht.) Lediglich meine Mutter sagte etwas, das ich als negativ empfand, und zwar: In der Wohnung sähe es sehr studentisch aus. Ich habe es heruntergeschluckt und habe kein Wort dazu gesagt, denn es gibt einen entscheidenden Grund, weshalb es hier „studentisch“ aussieht. Erster Teil: Philipp legt sein Geld in Weltreisen an. Zweiter Teil: Ich wurde finanziell nicht von meinen Eltern unterstützt und musste mir Geld von Freunden leihen, um überhaupt ein Bett, ein Regal und einen Kleiderschrank zu haben. Die Schulden mussten abbezahlt werden, allein schon aus Gewissensgründen, und bei meinem Gehalt als Freiwilligendienstleistender bzw. Auszubildender hat es entsprechend lange gedauert. Seit diesem Monat bin ich endlich schuldenfrei; ich habe eineinhalb Jahre gebraucht. Es war nicht einfach für mich. Aber egal, ich möchte nicht weiter darüber aufregen.

Als wir gerade dabei waren, das Haus zu verlassen und in die Aue zu gehen, kam die Nachbarin mit Philipps Hund vom Gassi gehen zurück. Sie war erstaunt, dass so viele Menschen im Wohnungsflur unterkommen konnten. Ich stellte die Familie der Nachbarin vor und sie sagte: „Sie haben einen sehr freundlichen jungen Mann erzogen, so sollten alle Nachbarn sein. Er ist neben mir der einzige Mensch in diesem Haus, der die Treppen kehrt, und er schaut auch nach mir, ob ich denn tot in der Wohnung liege. Immer freundlich, immer zuvorkommend. Sie können stolz auf ihn sein!“ Diese Worte haben den Zorn in mir gelindert und in den Ohren der Familie Vieles bewirkt.

In der Aue waren wir etwa eine Stunde, dann gab es Kaffee und Kuchen in der Orangerie. (Traumhaft für Gäste!) Zum Schluss fuhren wir allesamt zum Herkules. Die Stadt unter uns, zu Füßen quasi; Eindruck vorprogrammiert. Das war’s auch schon, sie fuhren fort.

Dieser Besuch ist sehr gut verlaufen. Ich habe ihnen mein Leben vorgestellt und sie haben es angenommen. Ihnen hat gefallen, was sie gesehen haben, und letztlich haben sich ihre Sorgen und Bedenken aufgelöst. (Wobei man wissen muss, dass nur mein Vater und meine Mutter wissen, dass ich schwul bin, und dass alle Anderen denken, ich sei irre und deshalb aus dem Schoß der Eltern abgehauen.) Ich führe ein anständiges Leben in einer sauberen, grünen und sonnigen Stadt. So können sie mich in Erinnerung behalten. Das finde ich gut.


It get’s better.

1. April 2013

Die Arbeit mit den alten Menschen hat mich unglaublich geduldig gemacht; sie sehen die Welt anders, gelassener als die jungen, weil sie gelernt haben während ihres Lebens, dass man alles gelassen nehmen muss aber bedacht. Sie haben gelernt und verstanden, dass Ruhe die Erlösung ist, die Grundlage zur Lösung einer jeden Aufgabe.

So musst auch du es sehen, so musst auch du es fühlen: alles wird gut, wenn du dafür sorgst. Und das werden wir tun.

It get’s better. Weißt du, als ich von zu Hause abgehauen bin und keine Kraft mehr für nichts hatte, habe ich immer gedacht: it get’s better. Das war das Einzige, an das ich mich geklammert habe und an das ich mich klammern konnte, als ich völlig allein war. Ich hatte nichts Anderes. Und schau‘ jetzt: es ist so viel besser, mein Leben. Klar, Probleme gibt es immer, große wie kleine, aber es geht immer weiter, es wird immer besser. Alles im Leben formt uns, wir lernen das Leben. Und stolpern und weinen und stehen auf und lächeln und gehen weiter. Wie wertvoll das ist. Ohne Sorgen hätten die guten Dinge doch keinen Wert. Dadurch erst lernen wir zu leben. Demut ist vielleicht das Wichtigste im Leben.


Tiefblau.

25. März 2013

Ich erfahre, dass du in Kassel bist, du hattest einen Unfall und liegst auf meiner Station. Du bist auf die Fresse gefallen, Nase gebrochen, irgendetwas am Gehirn. Du sollst operiert werden. Ich habe dienstfrei, fahre aber trotzdem zur Arbeit, um dich zu sehen. Ich kleide mich ein und gehe auf Station, lese deine Akte nach und bin auf dem Weg in dein Zimmer, als ich dich im Flur mit deinem Holger und einem Freund sehe. Du sitzt im Rollstuhl. Ich starre dich entsetzt an, dein Gesicht ist zerfetzt und blutig, doch du erkennst mich nicht wieder. Holger blickt mich lange und böse an, bis ich weiter gehe. Ich bin sehr traurig und verlasse das Krankenhaus. Nach ein paar Stunden, es ist bereits Abend, schaue ich wieder nach dir. Du bist mittlerweile auf der Intensivstation, dein Kopf ist in Watte gepackt, nur deine Augen sind frei, sie schauen blau und traurig wie immer. Ich gehe ganz nah an dein Gesicht, mir steigen Tränen in die Augen und dir genauso. Ich glaube, dass du mich erkennst, aber der Zweifel bleibt. Du kannst dich weder rühren, noch bewegen. Ich setze mich neben dich und halte deine Hand, sie ist ganz weich, du hast keinen Druck darin. Du bist gelähmt. Ich weine und lasse dich los. Dabei hätte ich so gerne deine Hand gehalten.

Ich wache auf und schaue aus dem Fenster, weit in das Blau hinein, tiefblau. Was für ein Morgen.


Auf dem Balkon.

20. März 2013

Gestern saß ich nach einer langen Zeit wieder einmal auf dem Balkon und habe an den letzten Sommer gedacht. Auf dem Tisch waren weder Salzstangen, noch Oliven, am Geländer wuchsen keine Tomaten heran und im Garten lag Schnee. Alles war und ist anders, alles nicht Sommer, und dennoch fühlte es sich gestern an, als ob Marc bei mir säße. Dieser kleine Balkon – auf dem man nicht anders kann als zusammen zu rücken – ist wohl auf Ewig mit ihm verbunden.

Ich habe einen Jungen kennengelernt!, sagte ich zur Nacht. Aber warum fällt es mir so schwer, mich in ihn zu verlieben? Ich denke, es liegt an der Dichte und der Intensität, die ich in der Beziehung mit Marc hatte. Eine Beziehung gebaut auf Ferne und einer weitreichenden Lüge, denn Marc hatte einen Partner. Vielleicht liegt es auch daran, dass wir uns nur ein paar Mal im Monat sahen, wenige, kostbare Tage, jede Stunde ein Geschenk, jedes Mal ein besonderes Ereignis. Das große Warten und dann das Gehört werden meiner kurzfristigen Wünsche, das Befeuern meiner lächerlichen Hoffnung, dass er eines Tages, ganz bald, auf mich zu gehen würde und seinen langjährigen Partner, den er monatelang belogen hat, für mich verlassen würde. (Ich rede mich schon wieder um Kopf und Kragen.) Mit jedem Ich liebe dich!.. seinerseits gab ich der trügerischen Hoffnung mehr und mehr Platz in meinem Herzen.

Damals Liebe und heute Tumor?, fragte ich die Nacht.

Marc war ein äußerst gefühlvoller, emphatischer Kerl, und wenn es etwas gibt, mit dem man mich ködern kann, dann sind es Gefühle. (Vielleicht, weil ich selbst so bin.) Er war ein schöner, reifer Mann. Nunja, und er war bisher auch der einzige Mensch, mit dem ich meine Musik ohne Zweifel und mit großer Freude teilen konnte. Ich habe mich in seinen Augen und in seinem Herzen verstanden gefühlt, und auch wenn ich heute denke, dass es nur teilweise so war, hat es mich sehr glücklich gemacht damals. (Es: der Gedanke, dass…)

Daniel hingegen ist eher sachlich. Er fühlt seine Umgebung nicht, er analysiert sie nach objektiven Kriterien. Ein hübscher Junge mit farbenfrohen Augen und einer tollen Mundpartie. In seiner Freizeit beschäftigt er sich mit Dingen, die ihn zum Lachen bringen. Gefühlsbeladene, eher traurige und melancholische Sachen lassen ihn erst einmal kalt, dabei kann er auch romantisch sein in dem Sinne, was romantisch für mich bedeutet. Meine Musik kann er nicht nachempfinden. Ich denke ganz oft, dass meine Gefühle nicht zu ihm durchdringen. Ich frage mich dann, ob ich nicht genug Gefühl zeige.

Und ich frage mich, ob ich noch zu sehr an Marc hänge, aus welchen hoffnungslosen Gründen nun auch immer. Ob ich zu viel erwarte von einem Jungen meines Alters, ob das normal ist, ob er nicht einfach so gefühlvoll ist und ich verwöhnt und verdorben bin, was diese Sache anbelangt. Kann ich erwarten, dass es so wird wie mit Marc? Ist es nicht würdelos den Freund mit den ExPartnern zu vergleichen? Mache ich etwas falsch oder passen wir nur auf der Oberfläche zusammen? Ich möchte doch so sehr in die Tiefe gehen. Sollte ich es langsamer angehen, wo ich es doch kaum erwarten kann, mich in’s Meer zu stürzen?

Nun, gestern saß ich auf diesem Balkon und habe mich nicht getraut bzw. habe es mir untersagt, Marc zu schreiben, dass ich dort draußen sitze und an ihn denke. Welchen Sinn sollte das haben?, dachte ich. Lass‘ ihn in Ruhe, am Ende weinst du wieder.


https://twitter.com/fragmente/status/313400977506054144


23:49 Uhr.

7. März 2013

Lieber Abdu,
ich bin bewusst still. Auch an unserem Jahrestag und auch an deinem kommenden Geburtstag. Die synapsen brauchen Zeit. Ich dachte nur deine. Aber auch meine. Ich freue mich wenn Du jemanden gefunden hast. Ich hoffe er ist gut zu Dir und besser als ich es war. ich wünsche dir dass es gut wird. Wenn sommer kommt werde ich gelb tragen und rot hören. wenn sommer kommt werde ich mich immer noch erinnern so wie ich es jeden tag tue. an kassel. an hund und gelb und rot und fahrrad und park und see und lila und wasser. und an sofa ikea kartons transporter lampe bild kuss und jauchzen und weinen und jauchzen und so vieles mehr. ich weine gerade. und wollte das doch nicht mehr. ich möchte dass du nicht mehr weinst sondern glücklich bist. dass er Dir das gibt. du bist ein so guter mensch. besser als ich. viel besser. ich lasse jetzt los. voller gedanken. voller träenen. nichts im vergleich zu deiner trauer. es tut mir so leid.
der mann mit dem weissen ring


06.03.2012.

6. März 2013

Mein lieber Marc,

Es war kurz vor neun als die ersten Blicke fielen, als unser Wunder zu wachsen begann; ich habe es noch glasklar vor Augen. Diesen Anfang werde ich niemals vergessen, und auch wenn es kein schönes Ende nahm, danke ich dir für diese Zeit. Du hast mir sehr geholfen; ich habe viel gelernt von dir und durch dich.

Du bist noch oft in meinen Gedanken, doch es wird weniger werden. Ich bin froh, dass da keine Wut mehr ist, dass die Enttäuschung nachlässt.

Deine Musik trägt mich durch die Tage, mir geht es gut. Ich bin dabei, mich neu zu verlieben; in einen Jungen, wie du ihn mir immer gewünscht hast: in meinem Alter, hübsch und klug. Jemand, mit dem ich eine gemeinsame Zukunft aufbauen könnte. Mal schauen, was das Leben für mich vorgesehen hat.

Ich wünsche dir einen schönen Tag, das Wetter zumindest verspricht viel. Ich hoffe, dir geht es gut.

Wohlan, dein kleiner Achdu.


20. Februar 2013

(Nur für die Statistik.)


Heute.

23. Januar 2013

Der Kaffee aus meiner kleinen Espressokanne schmeckte heute ausgesprochen gut. Bus und Bahn waren pünktlich. Zwei Patientinnen bedanken sich für die „liebevolle Pflege der letzten Wochen“ mit einer – wie sie es nannten – „kleinen Aufmerksamkeit“, die ich kaum anzunehmen wagte, so hoch war für mich die Summe in dem kleinen Umschlag. Der Herr aus dem Zimmer sieben reichte mir zum Abschied seine Visitenkarte und sagte, dass ich mich unbedingt wegen der Nachttischlampe melden solle, denn er wolle mir dabei helfen, meinen Traum zu verwirklichen. (Er sagte: Ohne diese kleinen, persönlichen Ziele wäre ich niemals 82 geworden. Ich möchte Ihnen dabei helfen, mindestens genauso alt und genauso zufrieden mit sich und Ihrem Leben zu werden! Er war dem Tod mit letzter Kraft entkommen, und auf eine meiner Kennenlernfragen vor zwei Monaten, was er früher in seinem Leben beruflich gemacht habe, antwortete er: Ich habe, und das werde ich nach meiner Entlassung wieder tun, Instrumente gebaut. Vorrangig Orgeln, aber auch Klaviere und Harmonika.) Ich war den Tag über ein klares und helles Kerlchen, die Müdigkeit würdigte mich keines Blickes. Im Bus schleckte mir ein bildschöner Hund die Hand ab. Die Waschmaschine beendete gerade den Schleudergang, als ich durch die Haustür kam. In der ganzen Wohnung roch es nach Waschmittel. Das Abendessen von gestern schmeckte als Nachmittagessen von heute noch viel besser. Bene freute sich sehr über meine Ankündigung, dass ich ab morgen wieder mal im Ländle bin. Im Waschsalon an der Querallee hatte ich plötzlich Herzklopfen beim Anblick der wild und elegant wirbelnden Wäsche in all den Trocknern. Die Brezelfrau am Bahnhof schenkte mir die dritte Brezel, weil ich – wie sie sagte – so schön rote Bäckchen hätte. Die Deutsche Bahn machte wegen der Witterungsverhältnisse aus meinem „20 Euro, dafür vier Stunden Fahrt mit zweimal Umsteigen, ich werde mein Ziel nie erreichen“-Ticket ein ICE-Ticket, mit dem ich schneller und ohne Umstieg fahren konnte. Einer meiner Lieblingsmenschen schrieb mir, dass ich wunderbar sei. Im Ruheabteil war es tatsächlich ruhig. Am Zielbahnhof überkam mich eine schier unerträgliche Schmerzwelle, weil die erloschene Liebe zum Greifen nah und doch so weit in der Ferne lag. Die Umarmung meines Vaters war ehrlich und tröstlich. Die Katzen meiner Mutter sind nicht mehr nur Sohnersatz, sondern ein richtiger Teil der Familie geworden. Die kleine Katze schnurrte mich in den Schlaf. In der Nacht träumte ich von düsteren Feldern und allzu bekannten Gesichtern, die ich vor langer Zeit schon vergessen glaubte.


Untitled.

16. Januar 2013

Es ist so leicht für mich, dich zu lieben, dass es mir Angst macht. Ich war nie besonders gut in irgendetwas, aber ich habe ja auch noch nie etwas so sehr gewollt wie dich zu halten, sobald du wach bist, und in jeder Nacht, während ich schlafe. Die Frage lautet nicht mehr: Wie nur kann ich dich lieben?! Sie lautet nun: Wie nur würde ich jemals damit aufhören können?

(Es begann des Nachts, und so begann es auch zu enden: Momentaufnahme.)


Geduldsspiel.

4. Januar 2013

Großeinkauf bei ALDI in der Innenstadt, der Wagen ist bis oben hin voll. Endlich bin ich an der Reihe und packe mein Zeug sowie den Pfandbon auf das Band, alles wird schön eingescannt. Mangels Bargeld möchte ich mit Karte zahlen, das Gerät aber sagt: Karte verfallen, denn seit drei Tagen ist 2013. Ist mir in dem Moment sehr peinlich. Ich lasse meine Einkäufe hinter der Kasse stehen und verspreche der Kassiererin, dass ich wieder komme. Ich fahre mit dem Bus nach Hause, tausche alte gegen neue Karte aus, hänge schnell noch die Wäsche auf, führe im Treppenhaus ein Gespräch mit der Nachbarin und fahre mit dem Bus wieder in die Stadt. Im ALDI angekommen gehe ich direkt zur Kassiererin, die mich verwundert ansieht und sagt, ich solle kurz warten, bis sie fertig mit dem aktuellen Kunden ist, danach sei die Kasse geschlossen. Der Kunde ist fort, ich bin an der Reihe. Die Kassiererin versucht den Bon über meine Einkäufe zu stornieren, das klappt aber nicht. Sie klingelt und eine Frau in blau kommt angelaufen und sagt, ich solle mit zu einer anderen Kasse und meine Einkäufe dort noch einmal auf das Band legen. Auch sie versucht den Bon von vor einer Stunde zu stornieren. Sie vermutet, dass einer Stornierung wohl deshalb nicht statt gegeben wird, weil Pfand auf dem Bon ist. Weitere Kunden haben bereits hinter mir eine Schlange gebildet. Sie klingelt und ein großer Mann im Anzug kommt angelaufen und sagt, ich solle die Sachen wieder in den Wagen packen und warten, er müsse jetzt an einer anderen Kasse Diebstahl aufklären. Ich packe mein Zeug ein und stelle mich in eine Ecke und beobachte mit der Frau in blau, wie der Mann ein wirklich sehr verdächtig aussehendes Ehepaar beim Klauen ertappt. Die Frau in blau sagt, dass es nun noch länger dauern würde. Ich sage: Kein Problem, ich habe Zeit. Frau in blau und Mann im Anzug verschwinden mit dem Junkie-Ehepaar im Laden. Ich lächle die Kassiererin an, sie sagt: Heute ist wirklich alles verrückt! Wenige Minuten später kommt die Polizei und verschwindet auch im Laden. In der Schlange steht nun ein Junge meines Alters, verdammt sieht er freundlich aus! Moment, den habe ich mal im Bus gesehen; er ist mir damals schon aufgefallen. Auch er versucht zu bezahlen, jedoch: Karte verfallen. Die Kassiererin lacht und sagt: Kann doch nicht wahr sein! Das hatten wir noch nie! Ich lache ebenfalls, aus anderen Gründen, aber leider hat der Junge genug Bargeld bei sich und muss nicht mit mir in der Ecke warten. Wir werden keine Freunde und ich sehe wieder einen Menschen davon ziehen, den ich gerne kennengelernt hätte. Kurz darauf kommt die Frau in blau und versucht noch einmal den Bon zu stornieren, klappt auch diesmal nicht. Ich schlage vor, Bargeld zu holen, damit die Differenz in der Kasse ausgeglichen ist. Beide Frauen fassen sich an die Stirn. Ich gehe zur Bank und laufe zurück zum ALDI und möchte bezahlen, jedoch ist der Kassenzettel nicht aufzufinden und noch einmal alles auf das Band zu legen würde die Differenz nicht ausgleichen. Die Kassiererin klingelt und die Frau in blau kommt angelaufen und sagt eine Summe. Ich bezahle und bedanke mich für die Umstände und die Frau in blau sagt, dass sei gut so gewesen, denn nun könnten sie einen Fehler im Kassensystem melden. Die Kassiererin lächelt mich an: „Hätte nicht gedacht, dass Sie wieder kommen. Die meisten Leute lassen ihre Einkäufe stehen und wir dürfen das alles dann wieder einräumen. Aber so sehen Sie auch nicht aus.“ Ich bedanke mich: „Freut mich, dass ich nicht so aussehe. Ehrlich gesagt hatte ich keine Lust, noch einmal einkaufen zu gehen, aber ich wollte auch nicht, dass irgendwer die Sachen wieder einräumen muss.“ Wir lächeln uns an.

Im Nachhinein bewundere ich meine Geduld in der ganzen Sache. Ich habe über eine halbe Stunde in einer Ecke gewartet und war weder frustriert noch wütend darüber, im Gegenteil: es hatte sogar etwas Beruhigendes, die Menschen und ihre Einkäufe an mir vorbei rauschen zu sehen, zudem hatte mein Abend mal einen anderen Inhalt. Sicherlich hat es mir gut getan, nicht den immer gleichen Gedanken in meinem Kopf nachzuhängen, sondern einfach mal die Umgebung zu beobachten.

Vermutlich hätten Freunde den selben Effekt.


Dinge tun.

2. Januar 2013

Ich verbringe wesentlich mehr Zeit damit, mir Dinge auszumalen, als dass ich mich dafür entscheiden würde, sie zu tun. So verhält es sich mit dem Lesen und Schreiben, mit Hobbys und Freunden. Mir ist vor einiger Zeit aufgefallen, dass ich mich mit der Vorstellung einer Handlung zufrieden gebe, zumindest für kurze Zeit; danach stellt sich erwartungsgemäß ein Gefühl der Unzufriedenheit ein.

Folglich muss es wohl an diesem Verhalten liegen, dass ich mich seit beinahe einem Jahr „dumpf“ fühle; vergleichbar mit dem Gefühl, trotz Sehschwäche keine Brille oder Kontaktlinsen zu tragen. Im Nachhinein frustriert mich dieses Verhalten immer, nur leider merke ich noch nicht, welch dumpfer Prozess in meinem Köpfchen abläuft, während ich mich gegen eine Aktivität entscheide, die mir gut tun oder die ich gerne tun würde. Ein gutes Buch lesen, in Ruhe einen Text schreiben, etwas mit Freunden unternehmen – eigentlich spricht nichts dagegen. Es ist auch nicht so, dass ich still stehen und mein hart erkämpftes Leben nicht genießen könnte; mir fehlt es sicher nicht an Antrieb oder Kraft. Vielleicht sind es auch die Sorgen, die ich hatte und habe – Geldmangel, Zukunftsängste, Liebeskummer –, die mir das Gefühl geben, ein dumpfes Kerlchen zu sein. Ich möchte so nicht sein, ich will das ändern. Ein guter Freund gab mir den Rat, mir darüber nicht so sehr den Kopf zu zerbrechen. Wenn mir danach sei, dann würde ich schon ein Buch lesen, mich an das Programmieren heran trauen, Freunde treffen.

Seit geraumer Zeit habe ich den Wunsch, eine kleine Nachttischlampe zu bauen. Der Wunsch kocht immer mal wieder auf und verschwindet dann, weil ich ihn mir aus diversen Gründen (sprich: Ausreden) nicht erfülle. Gustav zum Beispiel hat letzten Sommer einen Tisch gebaut, als er bei seinen Großeltern war. Mittels Photo Stream konnte ich die Entstehung des Tisches mitverfolgen, und ich bewundere heute noch die Zielstrebigkeit, mit der er sich von der Idee über tausend Skizzen bis zum fertigen Produkt durchgehangelt hat. Das habe ich mir als Vorbild genommen und der offenen Werkstatt in meiner Stadt eine Mail geschrieben, ob es denn möglich sei, dass ich dort an einem Projekt arbeiten könnte.

Mal sehen, was daraus wird. Es wäre schön, wenn ich es schaffen könnte, mir einen kleinen Wunsch zu erfüllen. Die Erfüllung der großen Wünsche sehe ich noch nicht kommen, und ein bisschen Zufriedenheit und Durchhaltevermögen würde mir ganz gut tun. Es liegt allein in meiner Hand, ob ich mich mit der Situation zufrieden gebe oder nicht, und ebenso kann nur ich etwas daran ändern.


Ein Traum.

15. Dezember 2012

Geträumt, dass bulgarische Flüchtlinge an meinem Fenster stünden. Sie waren allesamt schmutzig und hatten eher dunkle Haut, doch ihre Augen waren hell, klar und ehrlich. Sie bettelten nach Geld, doch ich hatte nur Schmerzmittel in meinen vier Wänden. Das reichte ich ihnen, daraufhin zogen die Erwachsenen fort und zwei Kinder blieben übrig, sie weinten bitterlich und sahen sehr traurig aus. Sie sahen zu mir auf und kletterten durch das Fenster in mein Zimmer, schutzsuchend vor der Kälte, denn ihre Kleidung war sehr dünn, fast wie Papier. Sie sind in mein Zimmer eingedrungen und beschmutzen nun mein Bett, dachte ich, aber weinende Kinder wollte ich nicht von mir stoßen. Mein Mitbewohner war zu Hause und ich rief ihn zu mir, weil mich die Situation überforderte. Am Ende könnten das organisierte Kriminelle sein, dachte ich. Zusammen trösteten wir die Kinder und sagten ihnen, dass die Welt schlecht und kalt sei. Ich gewann langsam Vertrauen in die Sache und streichelte dem Jungen das Köpfchen, während ich gerührt meinem Mitbewohner dabei zusah, wie er dem kleinen Mädchen die Tränen aus den Augen fischte. Kurz darauf halfen wir den Kindern wieder aus dem Fenster nach draußen, anscheinend fehlte es ihnen nur an Zuwendung. Noch am selben Tag kamen die Vermieter in die Wohnung und sagten, dass wir nun weniger Miete zu zahlen hätten.


Melone.

5. November 2012

Ich schreibe ihm: „Die Melone hätte dir sicher geschmeckt. Reif, nicht zu süß, genau wie sie sein sollte.“

Ich schreibe ihm nicht: Mit dir hätte sie noch besser geschmeckt. Mit dir hätte auch das Abendessen besser geschmeckt, dein Rezept, der Wein, den du mal mitgebracht hast. Der Tag wäre – wie jeder Tag mit dir – ein Tag gewesen, an den ich mich gerne erinnert hätte, er wäre gut gewesen und alle schlechten Nachrichten hätten ihre Schwere verloren. Ich hätte in deine Augen gesehen und gewusst: das Leben ist seltenseltsamschön. Mit dir an meiner Seite wäre kein Platz für die scheinbar allgegenwärtige Traurigkeit gewesen, ich hätte nicht wieder und wieder die selben Musikstücke gehört, die mich mit jedem Mal noch trauriger machen, weil sie mich an dich und mich und an all die Träume in der Wolke über meinem Zimmer erinnern. Wir hätten uns stattdessen jene wunderbare Musik vorgespielt – handverlesen und voller Liebe – und hätten Geschichten dazu erzählt. Ich hätte in deinen Armen gelegen und wäre nicht alleine eingeschlafen, nicht noch eine einsame Nacht voller Träume, die ich nicht verstehen kann. Ich hätte dich wachgeküsst und wäre nicht mit der schmerzenden Angst aufgewacht, dich im Herzen zu verlieren, nach und nach. Mit dir hätte ich gelächelt, wäre schön und glücklich gewesen. Du auch, du auch, du auch, du auch, auch du.

Ich schreibe ihm: „Du hast alles hier vergessen. Die Melone, den Joghurt, die Joghurtmilch, dich.“


19:41.

30. Oktober 2012

Wir sind in einem Kaufhaus. Die Jacken und Mäntel, die er mir zum Anprobieren ausgesucht hat, sind zu groß oder zu lang für meinen zierlichen Körper, und auch die Verkäuferin konnte mir kein passendes Kleidungsstück reichen. Ich probiere einen Mantel an, den ich selbst ausgesucht habe und von dem ich glaube, dass er zu mir passen könnte. „Wow, steht dir wirklich gut!“, sagt er. „Hätte ich jetzt nicht gedacht.“ Die Verkäuferin mustert mich und sagt schließlich: „Steht ihm ausgezeichnet! Da sieht man mal wieder: Kinder haben meistens einen anderen Geschmack als die Eltern.“ Ich blicke ihn an und wir müssen beide plötzlich lachen. Ich kann ihm aber nur kurz in die Augen sehen; ich schaue zu Boden, bin verlegen und traurig über diesen Moment, doch ich lächle, um es zu überspielen.

Im Laufe des Tages lachen wir mehrmals über diese Situation, denn er ist nicht mein Vater, er ist mein Freund. „Dabei sehen wir uns nicht einmal ähnlich. Aber du könntest natürlich mein Adoptivkind sein, oder ich dein Stiefvater.“ Er macht kurz Pause und sagt leise: „So jemanden suchst du doch auch, nicht wahr?“ – „Einen Daddy? Nein, also das wäre nichts für mich…“ – „Das meinte ich nicht. Jemanden, der sich um dich kümmert.“ – „Ah, ich verstehe. Ich kann mich ganz gut um mich selbst kümmern, aber es wäre schön, wenn da jemand wäre. Jemand, der ‚da‘ ist für mich, der Vertrauen, Sicherheit und vor allem Ruhe ausstrahlt, alles andere ist variabel. Ich mache das nicht am Alter fest, nur scheint es niemanden in meinem Alter zu geben, der das bieten kann… Es ist auch unmöglich, all das mit zwanzig schon zu haben. Muss man sich ja erst aufbauen, indem man reifer wird.“

Der Tag verstreicht, die negativen Gefühle der letzten Wochen spielen nur noch eine Nebenrolle, wir werden wieder zärtlicher zueinander, doch immer noch können wir uns nicht küssen. Nach einem unerwartet schönen Abend sitzt er am Rand meines Bettes. Wir sprechen über unsere Beziehung und ob und wie es weitergehen sollte, inwiefern es überhaupt weitergehen kann mit uns. Ich frage ihn: „Du hast einmal gesagt, selbst wenn es deinen Partner nicht geben würde, wäre ich nicht die zweite Wahl. Was bedeutet das?“ Er atmet tief ein und sagt mit brüchiger Stimme: „Du wirst die Antwort nicht verstehen, aber bitte glaube mir, ich kenne sie.“ – „Bitte sag‘ sie mir trotzdem.“ Er sieht lange zu Boden, Tränen laufen ihm über das Gesicht. „Weil du gehen wirst.“ – „Nein, ich…“ – „Ich weiß, das ist wieder so ein blöder Satz, aber du wirst es verstehen, wenn du älter bist. Ich habe es selbst erlebt. Du bist noch so jung, gerade erst in’s Berufsleben eingestiegen; wenn du nur wüsstest, was das mit einem macht! Du hast noch so viel vor dir, ein ganzes Leben! Vor zwanzig Jahren war ich ein vollkommen anderer Mensch. Ich bin so froh, diese ganze Scheiße nicht noch einmal durchmachen zu müssen, dieses ganze Leid.“ Ich höre zu, kann nichts antworten. Nach einer kurzen Pause sagt er leise: „Schau‘ mal, die Sache heute im Kaufhaus: so würde es immer sein. Hat mich so sehr getroffen, dass ich in dem Moment überlegt habe zu gehen. Stattdessen habe ich versucht es mit Humor zu nehmen.“ – „Ich weiß, wir haben so sehr darüber gelacht, weil es so tragisch war. Ich habe den ganzen Tag darüber nachgedacht. Es tut mir so leid.“ Ich drücke ihn an meine Brust und streichle ihm über den Kopf, wir weinen beide. Im Hintergrund läuft Die Nacht, sein zweites von insgesamt sieben Mixtapes für mich. Ich atme in seinen Nacken und spüre seinen Herzschlag. Ich flüstere die drei Worte in sein Ohr, die ich ihm seit Wochen nicht schreiben konnte, und sage: „Du bist so perfekt. Ich werde nie wieder jemanden treffen, der so ist wie du. Es ist unmöglich.“ Er schaut auf zu mir, die Augen gerötet. Ich werde niemals jemanden treffen, der solch blaue Augen hat, denke ich, mit weißen Ringen darin, von denen du sagst, ich hätte sie entdeckt. Alle nach dir werden sich an dir messen müssen, du wirst unerreichbar sein, weil du genau das für mich bist. Er antwortet: „Ja, du hast leider Recht. Du wirst viele Menschen kennenlernen, aber niemals jemanden wie mich. Ich weiß es doch selbst. Noch heute, zwanzig Jahre später, tut es weh, wenn ich meiner ersten großen Liebe begegne. Du weißt, vor drei Wochen habe ich ihn getroffen, nach Jahren wieder. Ich konnte ihn nicht einmal ansehen… Ich verstehe dich und ich weiß: alles, was ich sage, macht es weder einfacher, noch besser für dich. Es hilft nicht weiter. Nicht dir, nicht mir. Du wirst es verstehen, wenn du so alt bist wie ich.“

In der Nacht küssen wir uns, wie habe ich seine Lippen vermisst, wir lächeln uns an. Ich flüstere, die Trauer auf meinen Lippen: „Ich habe die Liebe meines Lebens verloren, aber nicht dich.“ Ich schlafe in seinen Armen ein und träume von einem Kaufhaus, in dem es anscheinend alles zu haben gibt, was ich mir wünsche. Ich schaue mich um und erkenne viele Träume und Ziele wieder, doch was ich mir am meisten wünsche gibt es dort nicht. Ich verlasse den Laden mit leeren Händen.

Jim Croce: Photographs And Memories.


Ist mir wichtig.

26. September 2012

Das Konzert ist vorbei, der Abend war großartig, die Nacht voller Worte und Zuneigung; jetzt putzen wir uns die Zähne. Das haben wir noch nie gemacht, du und ich. Ich sage: „Bei Menschen, die mir egal sind, traue ich mich eher, sie Dinge zu fragen, die zu nah gehen könnten, denn ich habe nichts zu verlieren. Bei Menschen, die mir wichtig sind, muss ich mich sehr überwinden, denn hier habe ich viel zu verlieren; gleichzeitig gewinne ich dazu.“ Und ich traue mich und frage dich: Wollen wir heute in einem Bett schlafen?

Ich habe dich in den Schlaf gefaselt, das merke ich an deiner Atmung und darüber muss ich lachen. Ich liege noch lange wach, kann nicht einschlafen, so viele Gedanken in meinem Kopf, so viele Sätze und Sorgen. Aber es ist schön, neben dir zu liegen und zu wissen: Das ist die engste Freundschaft, die es geben kann. Vertrauen und Geborgenheit, Spaß und Tiefe, alles ist da. Wir liegen hier beide nackt und es ist kein Problem, nicht anzüglich, nicht sexuell. Wir schlafen in einem Bett, wie es am gemütlichsten ist.

In der Nacht habe einen Traum. Mein Onkel schlägt mich mit meinem Gürtel, dem aus Stoff mit dem Metallende. Ich sehe aus der Extrospektive wie ich geschlagen werde und kann meine Gedanken hören. Es tut mir im Traum nicht weh, ich höre mich denken: „Es hört bald auf und dann ist sein Frust fort und er glaubt, mir weh getan zu haben. Gleich ist es vorbei, gleich ist es vorbei.“ Dann wache ich auf, bin total erschrocken, aufgewühlt und verschwitzt. Ich weine ein wenig, bis ich begreife, wo ich bin: neben dir. Das schlechte Gefühl ist sofort weg, ich höre auf zu weinen. Ich weiß, ich bin sicher. Hier kann mir nichts passieren.

Manchmal habe ich ein Gefühl, ich nenne es meine kleine Schachtel. Das kommt immer dann zu mir, wenn ich mich sehr sicher und geborgen fühle; wie in Watte gepackt. Ich mag die Vorstellung, dass ich in einem weich gefütterten Sarg liege; und jetzt musst du sicher lachen, denn genau so fühle ich mich, wenn ich neben dir liege. Danke, mein Marcus.


Der Vollständigkeit halber.

26. August 2012

(Sonst fehlt mir etwas.)


Ich bin in deinem Kopf.

31. Juli 2012

Ja, du wohnst dort. Penthouse. Dein Coupé parkst du in der Garage, steigst in den Aufzug und fährst nach oben. Am Herzen machst du Halt und küsst mich, dann fährst du weiter und streichelst meine Seele. Im Köpfchen angekommen, lächelst du zufrieden. Die Aussicht gefällt dir. Du flüsterst: Ich liebe dich.


Festhalten und leben.

20. Juni 2012

Heute hatte ich den bisher anrührendsten Moment meines Lebens.

Einer Frau ist in der 24. Schwangerschaftswoche die Fruchtblase geplatzt, Kind muss per Not-Kaiserschnitt gerettet werden. Der Fötus ist so groß wie meine Hand; der Junge ist so winzig klein, ich habe so etwas noch nie gesehen. Bei derartigen Eingriffen ist keine Zeit für eine anständige Narkose da, zu kurz ist die Spanne zwischen Leben und Tod. Der Kaiserschnitt wird bei fast vollem Bewusstsein und Schmerzempfinden der Frau durchgeführt. Ich höre die Frau im OP-Saal wimmern, während im Nebensaal, in dem auch ich mich befinde, versucht wird, das kleine Wesen am Leben zu halten. Erst sieht die Lage sehr schlecht aus, der winzige Junge will oder kann nicht atmen, seine Lunge scheint nur teilweise entwickelt zu sein. Dann steigt der Sauerstoffwert im Blut langsam an, die bläuliche Färbung geht zurück, das Kind hat wieder mehr Rot als Blau auf der Haut. Nach der Intubation wird es von einer Maschine beatmet und bekommt vom Arzt sogenanntes Surfactant, das die Entwicklung der Lunge unterstützen soll. Als die Lage stabil und das Team entspannter ist, wage ich mich in die Nähe des Kleinen, bisher habe ich nur zugesehen. Ich schaue mir ganz genau die Haut an, erkenne fast unsichtbare Härchen; die Finger und Zehen sind beinahe durchsichtig, die Knochen und Knorpel trüb, aber nicht einmal im Ansatz weiß; der Schädel ist weich und wie aus Gummi, leichter Flaum. Ich bekomme ein Mützchen gereicht, dieses ziehe ich sehr vorsichtig über den Kopf des Jungen. Ich reiche ihm anschließend meinen kleinen Finger, er bewegt seine eigenen schon ganz fleißig, und plötzlich hat er meinen Finger fest in seiner klitzekleinen Hand; nun, so fest, wie es ein Fötus in der 24. Woche eben kann. Dieser Moment rührt mich sehr, dieser Junge hält sich fest an mir.

Der Junge kommt auf die Intensivstation, die Mutter in den Aufwachraum. Erst hier bekommt sie schmerzausschaltende und entspannende Substanzen. Sie weint leise vor sich hin, bald wird sie nicht mehr weinen und danach wird sie schlafen. Ich warte den richtigen Moment ab, der Anästhesist ist fertig und zeichnet irgendwelche Werte auf. Ich beuge mich vor zu ihr, nehme meinen ganzen Mut zusammen und sage: „Ihr Junge hat sich an diesem Finger festgehalten, sehen Sie mal!“ Sie blickt auf meinen kleinen Finger, den ich hochstecke, weint noch immer. „Er hat sich am Leben festgehalten.“ Ich streiche ihr mit dem kleinen Finger Tränen aus dem Augenwinkel, die Narkose wirkt bereits, sie wimmert nur noch. Ich streichle sie so lange, bis sie eingeschlafen ist. Dann kommen mir selbst die Tränen.

Der Anästhesist legt seine Hände auf meine Schultern und flüstert: „Das hast du schön gesagt.“ Ich lächle und wische mir Tränen aus den Augen.


Momentaufnahme.

27. Mai 2012

Mein Kopf lehnt an seiner Schulter, sein Kopf lehnt an meiner. Ich weine vor Rührung und er flüstert meinen Namen, wir halten uns. Ich glaube er weint auch. Er streicht mir durch das Haar, ich über seinen Rücken. Wir halten uns und lassen nicht mehr los. Das ist Liebe, das ist Glück.


Amsterdam.

27. April 2012

Zusammen mit anderen Freiwilligendienstleistenden bin ich für eine Woche nach Amsterdam gefahren. Die Stadt hat mir äußerst gut gefallen: klein, dicht bevölkert, großes Angebot an Kunst und Kultur. Die Grachten und diese seltsam-schief aneinander gereihten, niedlichen Häuser, das viele Grün und die Fahrräder überall, die Beleuchtung bei Nacht: wunderschön. Eine durch und durch tolle Stadt, die man gesehen haben sollte.

Am Montag, dem Tag der Anreise, habe ich morgens noch überlegt, ob ich nicht einfach im Bett liegen bleiben und mich später krank melden soll, nachdem der Reisebus auf jeden Fall schon unterwegs ist. Ich wusste genau, was mich erwarten würde: eine Woche unter mehr oder minder Gleichaltrigen, für die ich unsichtbar bin und mit denen ich nichts zu tun haben möchte. Die Angst vor Einsamkeit und Isolation war größer als die Freude auf eine erlebnisreiche Woche in einer Weltstadt. Ich wollte viel lieber arbeiten. Das alte Nähe/Distanz-Problem. Doch wie es bei mir immer so ist, bin ich letztlich doch aufgestanden, denn das Auslandsdatenpaket war schon gebucht und der Koffer bereits gepackt, und auf Ausräumen und Stornieren hatte ich keine Lust. Form follows function.

Nun saßen wir also im Reisebus und fuhren nach Amsterdam. (Etwa 150 Personen, zwei Reisebusse.) Dort angekommen hatte ich eigentlich schon keine Lust mehr auf die anderen Mitreisenden. Immerhin durfte ich mir die Menschen aussuchen, mit denen ich mein Zimmer teilen sollte; das war gut. Als Gruppe von etwa zwanzig Personen, die ich alle nicht kannte, haben wir uns am späten Nachmittag aufgemacht und die Stadt erkundet, sprich: die Anderen haben einen Supermarkt gesucht, in dem man Alkohol kaufen konnte, und danach einen Coffeeshop, in dem man Zeug rauchen konnte. „Na super…“, dachte ich und habe mich aus dem Staub gemacht, um allein die Stadt kennenzulernen.

Ich bin durch die Straßen Amsterdams gelaufen, über die vielen Brücken und Grachten und habe mich genau umgesehen. Überall tolle Architektur, an jeder Ecke etwas, das ich interessant oder schön anzusehen fand. Und dann wurde es auch schon dunkel, und ich wurde melancholisch.

Ich habe viel über unglückliche Dinge und über mich nachgedacht, als ich alleine durch die Nacht ging, meinen ganz eigenen Stadtrundgang im Dunkeln machte. Ich wollte nicht mit den Anderen sein, ich wollte mir die Reise nicht mit Alkohol und Drogen verderben, doch allein sein wollte ich auch nicht. Also machte ich mir Gedanken. Ich habe an meine gescheiterte Beziehung gedacht, ich dachte an Freunde, die mir nach wie vor fehlen, an meine Eltern, die mir fern sind, an die Familie, die mir immer fremder wird. Ich dachte daran, wie ich mir alles anders vorgestellt hatte. Und zu guter Letzt dachte ich, dass ich einsam bin, dass ich niemanden habe, der mich begleitet auf meinem Weg. Ich stand allein auf einer Brücke über der Amstel, der Wind war kalt, das Wasser unter mir rauschte nur so vorbei. Ich sah den Fluss hinauf und hatte tatsächlich Tränen in den Augen, als in der Ferne ein Schiff aufleuchtete, in schillernden Farben, ganz bunt. Es kam immer näher auf mich zu, es war farbenfroh und irgendwie niedlich, weil es bei näherer Betrachtung doch nicht so groß zu sein schien wie ich vermutet hatte. Es fuhr vorbei und nahm all meine dunklen Gedanken mit sich. Und zurück blieb etwas wie Glück in meinem Herzen, eine tiefe Zufriedenheit, ein starkes Selbstbewusstsein. Fortan dachte ich an die guten Dinge in meinem Leben, an den Mann, den ich vor ein paar Wochen kennengelernt habe, an seine Augen, seine starke Seele. An die vielen Menschen, die bei mir sind, auch wenn ich sie nicht oder selten sehe. Ich dachte an das vergangene Wochenende, den Geburtstag meines Vaters und meinen Überraschungsbesuch, den Abschied am Bahnhof, das Herzklopfen in Stuttgart, die Umarmung in Frankfurt, das Gewitter auf dem Maintower, das ich mit einem besonderen Menschen erleben durfte, hautnah. Ich dachte an meinen Lieblingsmitbewohner und seine Freundin, an die verkuppelten Fahrräder vor dem Fenster, an die Kinder, an meine Eltern, die mich lieben, an meine teuren Freunde, die da sind für mich, die mich anrufen, anschreiben, sich mit mir treffen, mit mir reden. Ich dachte an mich und welch‘ Glück ich doch habe, und dass ich glücklich sein sollte. Und ich war es, ich war glücklich auf dieser Brücke, in dieser Nacht, in der ich mich einsam fühlte. Ich ging durch Amsterdam und lächelte. Ich bin allein gewesen, aber ganz sicher nicht einsam. Ich habe Liebe im Herzen, Träume für die Zukunft, Ziele in Nah und Fern. Ich bin nicht einsam, ich bin höchstens etwas verwirrt und gerade dabei, erwachsen zu werden. Alles gut.

Morgen mehr.


Ein paar Sätze.

8. April 2012

Ich bin seine größte Hoffnung und seine größte Angst zugleich.

„Nicht aufgeben, kleiner Heartcore, durchhalten.“

„Du bist 18 und gehst einen schweren Weg auf die schwerste Art.“ — Das ist der Satz, der mich nicht mehr loslässt.

Ich ziehe den Rollkoffer die Straße hinauf und blicke erst an der Kreuzung zurück und sehe ihn noch immer dort an der Tür stehen, aufrecht und treu. Ich winke ihm ein letztes Mal und gehe meinen Weg weiter, einen langen Weg, bei dem es kein Zurück, sondern nur ein Voran gibt. Ich zähle meine Schritte bis zum Wasserturm und weine mehr Tränen, als ich zählen kann.

Ein Kranich kreuzt meine Wege, landet unmittelbar vor meinem Schatten. Wie geschmeidig sich die Federn um den Rumpf falten, wie anmutig und edel dieses Tier doch ist.

Das Kind ist winzig, wenige Minuten auf der Welt, das Haar ein Flaum, die Finger klein und zerbrechlich. In der Akte steht, dass es wahrscheinlich nicht länger als eine Woche leben wird. Ich lege meine Hand ganz sanft auf dessen Kopf, streiche noch sanfter über den Haarflaum und sehe in die Augen des Kleinen, das kaum blinzeln kann. Es blickt mich an, wir sind uns ganz nah, dann schließt es die Äuglein und schläft ein. Mach’s gut, denke ich. Schade, dass du schon gehen musst.

„Das Tolle an ihm ist…“, sagt meine Chefin zu ihrer Kollegin und massiert mir die schmerzende Schulter, „…er macht das alles und lächelt am Ende immer noch!“

„Ich sehe das in deinen Augen“, sagt er. „Du bist so sehr traurig, dass es mir das Herz bricht, dich anzusehen.“

Bene, Jes und ich, wir sitzen in einem Restaurant und schlagen uns die Bäuche voll. Glückskekse fahren vorbei, jeder nimmt sich einen. Jes‘ Spruch handelt von Geduld, meiner davon, dass ich bald Erfolg haben werde. In der Packung von Bene, äußerlich nicht von unseren zu unterscheiden, befindet sich nur Luft. Kein Keks, kein Spruch. Armer Kerl.

Wir liegen in meinem Bett, der Morgen ist nahe und Bene sagt: „Du bist immer freundlich und du bist immer nett.“ Ich widerspreche und er sagt: „Nein, gar nicht! Red‘ keinen Scheiß zusammen, du bist ein guter Freund. Du kümmerst dich.“

Ich gehe nach Hause, es ist ein wundervoller, sonniger Tag; der erste Frühling im neuen Leben. Die Sonne wärmt mir das Gesicht, ich lächle und freue mich, weil ich bald meine ersten Tomaten züchten werde: in Blumenkästen auf dem Balkon. Ich lächle so arg, dass es sich dabei um ein Lachen handeln könnte, und dann macht es KLACK und ich werde schlagartig traurig. Ich weiß nicht warum.

An der Wand im Wohnzimmer hängen noch die zwei Papierbögen, die zusammen eine Art Plan bilden, den wir damals mit ihr entworfen haben. Erst heute fällt mir der Schwung in ihrer Handschrift auf, diese Wucht und Zuversicht zwischen den Zeilen, als wolle sie sagen, dass alles seinen Weg finden wird. Ich erkenne, wie arg sie sich für mein Wohl eingesetzt hat, und ich gräme mich, dass ich nicht schon lange zuvor Danke gesagt habe. Ihr und all jenen Menschen, denen ich die Veränderungen zu verdanken habe. Würdevoll, rechtzeitig.

„Ich kenne diesen Blick“, sagt er. „Entweder er weiß es bereits oder er ist sich noch nicht ganz sicher.“ Ich schaue den Jungen an und wünsche mir, ihm helfen zu können. Und dann sind wir auch schon ausgestiegen.

Ich vermisse die Kinder, schreibe ich ihm. Und sie fehlen mir wirklich, als wären sie schon immer meine Jungs gewesen.

Am Bahnhof lächle ich der Sonne entgegen, sie scheint warm und ich spüre Wärme auf Lippen und Lidern. Eine kleine Dame, zierlich und irgendwie süß, sitzt auf der Bank gegenüber und glaubt, dass ich sie anlächle. Der Wind ist mild und riecht nach Erde.

„Nach 20 Jahren der Überzeugung habe ich meine Stimme einer anderen Partei vergeben“, sagt mein Großvater. „Wie kannst du nach all der Zeit einfach eine andere Partei wählen?!“, fragt sein Gesprächspartner. Mein Großvater antwortet: „Ich wähle jene Menschen, die meiner Meinung nach etwas verändern und verbessern können. Mir ist nicht die Partei, sondern das wichtig, was sie bewirken. Und sobald ich merke, dass die gewählte Partei Interessen verfolgt, die nicht in meinem Sinne sind, wähle ich bei der nächsten Gelegenheit etwas anderes.“ Sein Gesprächspartner zeigt sich verständnislos, während ich mich freue, dass mein Großvater für Veränderung ist und nicht auf alten Pferden sitzen bleibt.

„Ich komme zu dir. Diesen weiten Weg. Damit du in meinen Armen zittern kannst.“

20120408-024930.jpg „So schön. Und doch so traurig.“


Liebe Mutter.

6. April 2012

Anneciğim, daha kaç kere söylemem lazım, BEN ATEİST DEĞİLİM diye? Ne zaman bunu anlayacaksınız? Ne söylesem zaten inanmıyorsunuz. Yok ki güven, kalmadı bitti. Önceden de yoktu ki. Bir azıcık olsun sevinin benim için. „Zorunu seçti, ama ne olursa olsun gidiyor kendi yolunu“ diye. Bir kere görün, hiç kolay olmadığını benim için, inadıma yılkılmadığımı, güçlü olmaya çalıştığımı, hayatın zoruna katlandığımı. Bıktım şu ateş, ölüm, korku dolu mesajlardan. Bir kere olsun siz yazın bana, başkaların yazdığını göndermeyin. Yeter artık. Korku ile hiç bir yere varılmaz. Kıyamet, günah, cehennem, beni bunlar ilgilendirmiyor. Ben hayatımı doğru ve dürüst yaşamaya çalışıyorum, en iyisini, en güzelini yapmaya çalışıyorum. Kime zararım var benim? Boş yere üzülüyorsunuz. Ama insan dediğin böyle işte: bir gün gülüyor, uç gün ağlıyor. Hep kötüyü görüyor, hep siyahi. Bazı şeyleri farklı görüyorum, bazı şeylere farklı inanıyorum diye ateist yapıyorsunuz beni. Kendi kendinize keder. Bunu iyice bir düşünün. İyi geceler.


Des Nachts.

31. März 2012

Gestern Nacht habe ich die ganze Zeit an dich gedacht. „Wie wäre es, wenn er plötzlich da wäre?“ Mein Herz ist stehen geblieben, so schnell schlug es, Schlag auf Schlag. Meine Hände sind erstarrt, als ich an das Gefühl deiner Haut dachte. Wie sehr ich es gewollt habe, wie ein Wahnsinniger, wie sehr ich deine Wärme fühlen wollte, deine Augen, deinen Blick. Dein Atmen. Oh komm‘ und hab‘ mich lieb. Umarme mich, ich vermisse deine Hände, deine Haut, deinen Geruch und Geschmack. Komm‘, umarme mich, ich will dich bei mir haben. Ich weiß nicht wieso und weshalb, aber ich vermisse dich. So sehr, das kenne ich gar nicht von mir. Ich wusste bisher nicht, dass ich das kann. Ich will dich so sehr halten und fühlen und umarmen. Das ist keine Vorstellung mehr, ich kann es nicht mehr leugnen: Ich liebe dich, falls du möchtest. Wirklich möchtest. Komm‘ zu mir, komm‘ her. Dein Geruch an meiner Haut, in der Wohnung, deine Stimme in den Wänden, dein Herzschlag an mir. Komm‘ und geh‘ wie du möchtest, du bist willkommen. Immer. Ich bin da. Ich höre dir zu und ich sehe dir gerne zu, wenn du mir zuhörst. Ich bin da, bin da für dich. Für dich und was du heute schreiben wolltest. Was du gefühlt hast, was auch immer dich berührt hat. Ich bin da.


Mitbewohnerhund.

23. Februar 2012

Der Hund meines Mitbewohners schnüffelt an meinen Beinen und steigt dann auf mein Bett und schnüffelt an meiner Decke und an meinem Seitenkissen. Er schaut mich lange mit einem herzerweichenden Hundeblick an und macht es sich rechts von mir gemütlich. Er sucht nach der besten Liegeposition, rückt näher an mich heran und legt den Kopf so, dass er mit seiner feuchten Nase meinen linken Arm berührt. Ich spüre jeden seiner sanften Atemzüge auf meiner Haut. Er sieht mich an und hebt schließlich den Kopf und leckt meine Arme und Hände ab, als wolle er damit ausdrücken, dass es wieder besser wird. Ich bewundere das Timing und frage mich, was der Hund neben mir fühlt und woher er weiß, dass ich gerade sehr traurig bin. Ich bewundere das Feingefühl und die Gründlichkeit, mit der er seine Zunge über meine Haut gleiten lässt, ganz sanft und langsam. Und gleichzeitig bestaune ich die Ruhe, die er in mir auslöst; eine sehr angenehme, friedliche Ruhe. Das ist Balsam für meine Wunden.

Nach etwa einer Minute senkt der Hund seinen Kopf und legt ihn wieder so, dass er mit seiner Nase meinen Arm berühren kann. Er sieht mich wieder lange an, und atmet dann mit einem Mal so tief und voller Friedlichkeit aus, dass ich ergriffen von dem Gefühl auf meiner Haut und in meinem Herzen erstarre.

Glück liegt manchen Lebewesen auf der Zunge, denke ich.


Kein Verrückter, nein.

1. Januar 2012

Ich weiß nicht, was sie meiner Großmutter erzählt haben, aber es macht mich wütend, dass Oma schluchzend zum Abschied sagte, sie trauere um mich. Ich sei doch gar kein Verrückter, nein. Ein anständiger Sohn sei ich, schon immer gewesen, einer der guten Menschen, der richtigen und guten.

Wäre in diesem Moment nicht mein Onkel gekommen, hätte er nicht gesagt Weshalb sollte der Junge wieder kommen, wenn ihr ihn jedes Mal so verabschiedet?, hätte auch ich geweint. Nicht, weil ich traurig bin oder etwas bereue, vielmehr aus Wut und Verzweiflung; weil ich nicht weiß, wie ich die Tränen all jener verhindern kann, die mir etwas bedeuten. Dabei kenne ich das Problem, ich weiß, dass jeder in der Kultur meiner Familie, der seinen eigenen Weg gehen möchte, als verrückt oder bösartig abgestempelt wird. Letztendlich, nach all den Monaten meines Outings, bin ich wie zuvor der Verlierer, der fremde und schlechte Sohn, weil ich mache, was ich möchte. Weil ich mich keinen Regeln unterwerfe, die andere entworfen und für richtig erklärt haben, und weil ich die Erwartungen nicht erfülle. Ich gehe meinen eigenen Weg, mache also das, was sich im Grunde alle Eltern von ihren Kindern wünschen, und dennoch werde ich dafür verurteilt.

Tatsächlich frage ich mich, ob ich noch einmal zu meiner Oma fahren möchte, wenn das Ende immer gleich ist, so schön die zwei Tage dort auch waren. Mit meinen Eltern ist es ja nicht anders, nur dass ich dort schon während meines Aufenthalts mit unerfüllten Erwartungen, Krankheit und Selbstsucht beschuldigt werde. Ich frage mich, ob es gut für mich ist, dass ich auf dem Rückweg immer traurig bin und nicht weiß, wie ich das unterbinden kann.

Als ich zuletzt bei meinen Eltern war, gab es einen kleinen Autounfall. Ich war abends mit meiner Mutter in der Stadt, und auf dem Rückweg ist sie gegen einen Leitpfosten gefahren. Viel ist nicht passiert, lediglich der linke Seitenspiegel wurde abgerissen. Meine Mutter ist entweder eingenickt oder ihr Blutdruck ist in den Keller gefallen, jedenfalls hat sie sich enorm erschrocken und war wie gelähmt, als das Auto zum Stehen gekommen ist. Ich bin ausgestiegen und habe auf der Wiese die Teile des Seitenspiegels zusammengesucht und den Pfosten an seine ursprüngliche Stelle gelegt, dann sind wir nach Hause gefahren. Und zu Hause sagte mein Vater, dass dieser Unfall meine Schuld sei, wie es auch alle anderen zukünftigen Unfälle und Pannen sein werden. Und obwohl ich genau weiß, dass das Schwachsinn und purer Nonsens ist, gibt mir das zu denken. Es lässt mich nicht mehr los, dass ich der Sündenbock und an allem Schuld bin. Das ist auch der Grund, weshalb ich nicht vorhabe, meine Eltern zu besuchen, solange es nicht nötig ist. Das letzte Mal war ich dort, weil ich meine Aufenthaltserlaubnis verlängern lassen musste. Ich möchte nicht jedes Mal geknickt zurückkehren, und solange ich die Rolle des Sündenbocks habe, will ich nicht in der Nähe meiner Familie sein.

Was ich will, ist einfach nur als der Sohn geliebt werden, der ich bin. Ich will keine Bedingungen erfüllen müssen und als das angenommen werden, was ich bin. Ich will mich nicht länger verstellen müssen, weil man es so von mir erwartet. Und falls das nicht ehrenwert ist, dieser schlichte Wunsch, falls das nicht für mich spricht, bleibt mir nichts anderes übrig, als lebenslang der schlechte Sohn zu sein, weil ich mich nicht der Familie annähere.


Hoch oben.

24. Dezember 2011

Wir befinden uns tausend Meter oberhalb des Meeresspiegels, der Schnee vor der Glasfront ist um weitere zehn Zentimeter gewachsen und das Wasser im Becken hat eine Temperatur von dreiunddreißig Grad Celsius erreicht. Es ist zwei Stunden nach Mitternacht und wir sind ganz allein in einem Hallenbad auf den Bergen. Niemand ahnt, dass wir dort sind und unerlaubterweise Tore und Türen aufgeschlossen, das Licht eingeschaltet und Musik eingelegt haben. Keiner kann uns sehen, denn wir sind die einzigen Menschen im ganzen Feriendorf. Nur der Schnee draußen, der groß angesagte Sturm — nur er allein kennt unser Geheimnis.

„Spring!“ ruft Bene und ich sehe zu ihm hinab in das himmelblaue Wasser, das fünf Meter unter mir Wellen schlägt. „Spring!“ sagt er und winkt mit den Armen. „Ist tief genug, vertrau‘ mir!“ Ich habe schon Schlimmeres überlebt und bin weitaus tiefer gefallen, denke ich und springe vom Balkon des zweiten Stockwerkes, weil es keinen Sprungturm gibt. Ich tauche kerzengerade in das Wasser ein und berühre mit den Händen den Boden, tauche schnell wieder auf und schwimme zur blauen Matte, an der sich Bene fest hält. Ich sage lächelnd „Wow!“ und wir schauen uns lange in die Augen, treiben wortlos mit der Matte im Wasser umher, das nach meinem Sprung wieder zur Ruhe gekommen ist.

Wir sprechen nicht viel, wir lächeln die meiste Zeit und geben einander Halt. Wir lassen nicht los, gehen nicht unter, stehen aber auch nicht still, bleiben immer in Bewegung. Irgendwie glücklich und dennoch rastlos treiben wir durch das Wasser. Wir halten fest an unserer seltsamen und seltenen Freundschaft und singen beide fehlerfrei den Text zu „Mad World“ mit, während der Schneesturm die Welt außerhalb der Glaskuppel unter sich begräbt.

Wir sind beide noch auf der Suche nach Antworten, für die es keine Fragen gibt, denke ich und flüstere: „Going nowhere, going nowhere.“ Aber hier kann uns nichts passieren, hier sind wir sicher. Hier gibt es weder Furcht, noch Reue, Probleme oder Sorgen. Hier gibt es keine „Anderen“, weil sie hier und jetzt vollkommen unwichtig sind. Hier gibt es nur diesen Moment und dich und mich. Und nur das zählt. Das allein.

Kurz vor Tagesanbruch — Die Haut an uns beiden ist vollkommen faltig und verschrumpelt, und wir sehen ein bisschen aus, als wären wir soeben zur Welt gekommen — steigen wir aus dem Wasser, verwischen all unsere Spuren und verlassen das Hallenbad. Wir kämpfen uns durch den meterhohen Schnee zur Wohnung hindurch und tragen dabei lediglich Badehose und Badeschlappen, sind im Grunde nackt, weil wir Stunden zuvor nicht mit derartig krassem Schneefall gerechnet haben und des drolligen Gefühls wegen nur mit Badehose bekleidet ‚rübergelaufen sind.

„Schlaf‘ gut!“ sagt Bene später im Bett und dreht sich auf den Bauch. „Gute Nacht!“ sage ich und denke: Danke, dass es dich gibt! Danke für die tollen Tage und den Urlaub mit dir. Was für ein Glück, dass ich dich kenne und bei dir sein kann! Schlaf‘ gut, Bene, mein bester Freund.


Skarlet.

14. Dezember 2011

Eine Freundin aus der Heimat befindet sich derzeit in der Psychiatrie. Wir sind sehr gut befreundet, sie liegt mir sehr am Herzen, und dennoch haben wir in den letzten Monaten kaum voneinander gehört. An dem Tag, an welchem ich das Haus meiner Eltern verlassen und mich für ein neues Leben entschieden habe, war sie für meine Familie da und hat abends während des ersten aufklärenden Telefonats zwischen mir und meiner Familie vermittelt. Monate später haben wir einen ganzen Tag damit verbracht, auf einer Parkbank im Nirgendwo zu sitzen und miteinander zu reden. Diesen Tag zähle ich zu den schönsten und wichtigsten meines Lebens.

Nun, Skarlet habe ich zuletzt vor meinem Umzug nach Kassel gesehen, zwei flüchtige Stunden am Morgen. Dabei erzählte sie mir, dass es ihr nicht gut ginge, sie sich traurig fühle und keine Lust mehr auf ihr derzeitiges Leben habe. Sie bewundere die Kraft, mit der ich alles schultere, und sie sei auf der Suche nach psychologischer Hilfe, habe sogar schon die fünf von der Krankenkasse bewilligten Erstgespräche bei fünf verschiedenen Stellen verbraucht. Jemanden gefunden, bei dem sie sich wohl fühlen konnte und der ihr vielleicht hätte weiterhelfen können, habe sie nicht.

Ich wohne nun seit vielen Wochen in Kassel, und in dieser Zeit habe ich nichts von Skarlet gehört; mich bei ihr gemeldet habe ich aber auch nicht. Dann klingelt an einem Sonntag mein Handy und es ist Skarlet. Sie sagt, dass sie nur ganz kurz mit mir reden kann, und fragt mich, wie es mir geht. Ich antworte und frage, weshalb sie so traurig klingt. „Meine Hausärztin hat mich in die Psychiatrie eingewiesen“, sagt sie. „Ich hatte einen Zusammenbruch und seitdem bin ich hier. Bekomme Medikamente, darf einmal pro Woche mit einer Psychologin reden. Was ich bescheuert finde, aber das hier ist im Moment besser als mein Leben.“ Das Telefonat dauert keine drei Minuten und endet damit, dass Skarlet sich panisch verabschiedet und auflegt, und dass ich den Tränen nahe und ziemlich verwirrt bin.

Nach zwei Wochen Funkstille schreibe ich ihr eine SMS.

Hey Skarlet, ich weiß nicht, ob ich mich derzeit einfach so bei dir melden kann. Ich hoffe, es geht dir gut. Ich denke oft an dich und würde mich sehr freuen, von dir zu hören. Aber fühl‘ dich nicht verpflichtet. Ich will nur, dass du weißt, dass du dich immer bei mir melden kannst. Pass‘ auf dich auf. Dein Attila.

Keine Antwort. Heute habe ich dann der Mutter geschrieben:

Hallo, hier ist Attila. Ich erreiche Skarlet schon seit einer Woche nicht, geht es ihr gut? Darf ich sie am Freitag in der Klinik besuchen? Grüße aus Kassel!

Wenige Minuten später schreibt die Mutter zurück.

Es geht ihr schlecht. Sie will auch keine Besuche. Uns antwortet sie auch selten, sie hat mich heute auch wieder weggeschickt. Nimms nicht persönlich, sie ist total durch den Wind und ist mit allem überfordert. Echt heftig! Ich glaube sie braucht einfach jetzt Zeit für sich. LG

Ich mache mir große Sorgen, weiß so gut wie nichts und frage mich, ob ich Skarlet nicht trotzdem besuchen sollte. Ob sie sich freuen würde, mich wieder zu sehen, ob ich eine Stütze für sie und keine Belastung wäre.

Ich werde zwei Tage in Baden-Württemberg sein, muss Fingerabdrücke abgeben, damit ein neuer Ausweis ausgestellt werden kann. Und am Freitag würde ich Skarlet gerne besuchen. Denn eigentlich beunruhigt es mich, dass ich in der letzten Zeit nicht für sie da sein konnte, dass ich auch in den nächsten Jahren kaum in BW sein werde. Wenn ich sie jetzt nicht besuche, oder es nicht versuche, würde ich mich noch schlechter fühlen, als ohnehin schon. Es ist nicht Pflichtbewusstsein oder ein schlechtes Gewissen, das mich treibt. Ich möchte sie nur nicht noch mehr hängen lassen.

Was ist euer Rat?


Knopfaugen.

19. November 2011

Ich lege meine Jeans auf den Ladentisch und frage freundlich: „Haben Sie vielleicht einen passenden Knopf für meine Hose?“ Die kleine Dame hinter dem Tresen schiebt ihre Halbmondbrille zurecht und blickt dann an die Stelle, an der einst ein Knopf zu sehen war. „Natürlich haben wir das!“ sagt sie und führt mich zu einem Tisch, auf dem zahlreiche Knöpfe fein säuberlich nach Form, Farbe und Funktion sortiert sind. „Dieser hier müsste passen!“ sagt sie strahlend und legt mir einen schlichten, silbernen Knopf in die Hand. „Ähm…“ frage ich. „Haben Sie vielleicht auch einen Knopf, den man einfach mit ’ner Zange anbringen kann? Also einen, den man nicht annähen muss?“ – „Gewiss haben wir das!“ sagt die alte Dame mit den bewundernswerten Lachfalten. „Aber wissen Sie: Knöpfe zum Annähen sind die besseren! Sie halten länger und sitzen auch fester, wenn man’s richtig macht.“ – „Hm, okay.“ sage ich. „Und haben Sie auch Faden und Nadel für mich?“ – „Natürlich!“ sagt die Dame wieder und führt mich zu einer Wand, an der es hunderte Fadenrollen in verschiedenen Farben und Stärken gibt. Sie nimmt zwei Rollen von der Wand und vergleicht sie mit den Fäden und Nahtstellen meiner Jeans. „Diese Rolle!“ sagt sie nach kurzer Überlegung und lächelt mich an. „Und hier eine Packung Nähnadeln für Sie!“

„Ähm…“ frage ich wieder. „Und wie nähe ich den Knopf nun an? Muss ich dabei etwas Besonderes beachten?“

„Sagen Sie mal, junger Mann…“ scherzt die alte Dame schließlich. „Haben Sie denn keine Mutter?!“

(Ich lächle traurig, bezahle meine Besorgungen und verlasse den Laden.)


Liebe Sue.

18. November 2011

Erst einmal möchte ich mich für die verspätete Antwort entschuldigen. Seit dem 10. November hat sich viel ereignet, und es fühlt sich für mich an, als ob sich in dieser einen Woche mein Leben mehrmals geändert hätte. Nicht mein Leben selbst, sondern die Möglichkeiten und Aussichten meines Lebens. Ich habe, nachdem du mir geschrieben hast, die Psychiatrische Notfallambulanz aufgesucht und mir dort helfen lassen. Deine Nachricht hat etwas in mir ausgelöst, sie hat den Eispanzer gesprengt, den ich dem Anschein nach in mir hatte. Einen Tag später habe ich zusammen mit Marcus beschlossen, dass ich wieder zu ihm ziehe. Dem Vermieter/Mitbewohner in der Übergangs-WG habe ich erklärt, dass ich nicht mit der selbst auferlegten Einsamkeit und dem neuen Leben klar komme, und dass die WG für mich kein Zuhause darstellt, dass ich mich dort unwohl fühle. Dass das Wasser, in das ich gesprungen bin, doch zu kalt für mich ist, und ich Unterstützung von Freunden brauche und nur einen Freund in Kassel habe. Also habe ich gekündigt, eine Woche nach meinem Einzug. Im Laufe der Woche habe ich mir ein Bewerbungsgespräch für einen neuen Job erarbeitet — das lief sehr gut und vielleicht komme ich in die Psychiatrie oder in’s Krankenhaus. Die nächsten Tage, Wochen und Aktionen habe ich auch schon geplant. Du siehst, in dieser einen Woche gab es kaum Freiraum in meinem Kopf. Es ist so vieles passiert, und deshalb schreibe ich dir erst heute.

Ich möchte mich bei dir bedanken. Deine Nachricht war nicht direkt der Auslöser für meinen Nervenzusammenbruch, aber der entscheidende Schubser. Das habe ich sehr gebraucht, denn plötzlich konnte ich klar denken und in meinem Kopf hat sich alles auf das Wesentliche reduziert. Ich wusste genau, was mich an der aktuellen Situation stört und was ich ändern muss, damit es mir wieder besser gehen kann. Ich konnte im Nachhinein sogar lächelnd einschlafen. An den Ereignissen der letzten Woche spielst du also eine Schlüsselrolle. Dafür danke ich dir.

Was das Freunde finden angeht: mittlerweile habe ich mich mit einigen Menschen getroffen, und das Einsamkeitsgefühl ist nicht mehr so stark. Ich habe meinen Freunden „aus der Heimat“ geschrieben und sie angerufen, habe mir sogar überlegt, dass ich jedem meiner besten Freunde eine Postkarte schreiben werde, dessen Bild ich selbst fotografiere. Auch meinen Lieblingslehrern werde ich so eine Postkarte machen. Mit dem anderen Bundesfreiwilligendienst-Leistenden habe ich mich auch schon angefreundet und wir verstehen uns gut. Ich war sogar schon bei ihm zu Hause und nächste Woche möchte er mich ein paar seiner Freunde vorstellen. Es geht also voran.

Der Auszug aus der WG in ein Zuhause, dass ich bei Marcus sehe, ist die beste Entscheidung, die ich in dieser Woche getroffen habe. Ich freue mich sehr auf die kommende Zeit bei ihm und das trägt mich durch die Tage. Ich habe unterschätzt, wie unermesslich wichtig es ist, sich zu Hause zu fühlen an dem Ort, an dem man wohnt. Das ist tatsächlich die Grundlage für fast alles andere und ich kann nur darüber lächeln, wie achtlos ich mit dieser Tatsache umgegangen bin. Aber jetzt weiß ich es besser, jetzt hab‘ ich’s gelernt und mache es richtig. Wohlfühlen geht vor Pflichtbewusstsein.

Manchmal aber habe ich noch das Gefühl, dass ich etwas verpasse. Vielleicht hätte ich den Jungen da drüben und das Mädchen dort hinten doch ansprechen sollen, vielleicht hätten wir uns gut verstanden und wären Freunde geworden. Vielleicht hätte ich das Leben eines Jemanden bereichert, und mir gleichzeitig das Leben gerettet. Vielleicht. Dieses Wort spüre ich dieser Tage so oft auf der Zunge. Das wird sich auch nicht so schnell wieder schlucken lassen, dafür ist es viel zu früh. Ich werde es mit mir tragen müssen und versuchen, es nicht auszusprechen, indem ich dagegen vorgehe und handle. Wenn ich mir denke „Oh, der sieht aber nett aus!“ werde ich nicht erst überlegen, ob ich ihn ansprechen soll. Ich werde es einfach machen. Auch wenn ich scheitern sollte, wird es kein „Vielleicht…“ und auch kein „Hätte ich doch…“ geben. Ich habe nichts zu verlieren, ich kann nur noch gewinnen.

Und noch ein Dankeschön für diesen Song. Hat mir in den Momenten, in denen ich Ruhe gebraucht habe, sehr geholfen.

Mach’s gut und bis dann,

dein Hearty.


Eine seltsame erste Woche.

13. November 2011

Nachdem wir die letzten meiner Sachen in das WG-Zimmer abgelegt und über meine Mitbewohner geflüstert haben, führe ich Marcus aus der WG hinaus und die Treppen herunter, wie es ein guter Hausherr machen würde. Auf der Straße vor seinem Auto bleiben wir stehen und sprechen ein paar letzte Worte, bevor wir uns lange umarmen. Ich drücke mich fest an seine Brust und will nicht mehr loslassen, weil ich glaube, dass wenn ich los lasse, nichts mehr so sein wird wie vorher, ich vollkommen auf mich allein gestellt und einsam sein werde, dass ich schlagartig erwachsen werden und innerhalb von Tagen altern werde. Ich präge mir diesen Moment gut ein, den feinen Sprühnebel in der Luft, den matten Lichtschimmer auf den Pflastersteinen und die Dunkelheit in meinen Gefühlen. Und dann lasse ich los und verabschiede mich in ein neues Leben. Ich nehme die Verantwortung eines Erwachsenenlebens auf mich und decke mich zu und schlafe grübelnd ein.

http://twitter.com/#!/unueberlegt/status/133602474778046464

In der ersten WG-Nacht träume ich davon, wie ich mehrmals von Bene umarmt werde. Die Schauplätze des Traumes ändern sich nur minimal, immer ist es ein Bahnhof, an dem ich auf Bene treffe. Er umarmt mich kurz vor Abfahrt eines Zuges, kurz nach Ankunft eines Zuges und auch während eines Zwischenhalts. Ich bin umgeben von Zügen und Menschen, und alle sind auf der Reise und stehen unter Stress oder Zeitdruck. Nur Bene steht still und wartet auf mich, ist immer freundlich, steht immer mit offenen Armen da. Ich wache frierend auf und weine, weil ich meine Freunde vermisse und mich nicht wohl fühle in der WG.

http://twitter.com/#!/Heartcore/statuses/133779165743808512

Ich brülle mit aller Kraft, dass ich sie liebe, und Sezen Aksu hört es, blickt mich an und antwortet vor allen Besuchern des Konzerts: „Aber ich mache doch gar nichts, junger Mann!“ Das ist der Moment, an dem meine Sicherungen durchbrennen und ich keine Kontrolle mehr über meine Gefühle habe. Ich weine und ich lache mit ihr, bin während des ganzen Konzerts in Ekstase.

Später kämpfe ich mich zu ihr vor und warte den richtigen Moment ab, um ihr zu sagen, dass ich der junge Mann bin, der sie liebt. Sie lächelt mich an und ihre Augen strahlen. Ich frage sie, ob sie mir das in meinen Händen befindliche Album signieren kann. Sie sagt „Natürlich!“ und fragt mich nach meinem Namen. Ich sage ihn ihr. Und während sie meinen Namen auf das Album schreibt, schlägt mein Herz so heftig, dass ich Angst habe, es könnte gleich aus meiner Brust herausspringen. Ich bedanke mich bei ihr und lehne mich vor, küsse ihre Stirn und flüstere: „Gönül ektiğini biçiyor.“

http://twitter.com/#!/Heartcore/status/134419950721957888

Die Nacht nach dem Konzert verbringe ich bei Harvey. Wir sprechen über vielerlei Dinge, und irgendwann ist das Licht aus und wir liegen beide im selben Zimmer und lauschen unseren Atemgeräuschen. Doch schlafen können wir nicht, so erzählen wir uns Geschichten und sprechen über Träume. Ich erzähle ihr von dem Traum mit Bene und dass vielleicht die Umarmung von Marcus der Auslöser sein könnte, doch sie geht analytischer an die Sache heran und weist drei Deutungsmöglichkeiten auf.

  • Der Traum gibt dein derzeitiges Leben wieder, immer bist du auf der Reise, machst keinen Halt, hast keine Ruhe. Am meisten fehlt es dir, von einer vertrauten Person umarmt zu werden. Dir fehlt Halt.
  • Jede Figur im Traum ist man selbst, und du gibst dir in der Form von Bene, was du am meisten brauchst: Halt und Wärme. Du gibst dir selbst, was du brauchst. Du kannst dich selbst umarmen, du kannst selbst für dich sorgen.
  • Wohin du auch gehst, immer wirst du auf Freunde treffen, die für dich da sind, dich mit offenen Armen erwarten. Du wirst nie einsam sein, auch wenn du das manchmal denkst.

„Wie auch immer man es deutet, der Traum ist immer positiv und sehr schön“, sagt sie. „Vor allem aber schön, auch wenn er dich traurig stimmt.“

https://twitter.com/#!/harveypuca/status/134439615099707392

In meinem Rucksack trage ich die Einkäufe für den Kühlschrank nach Hause, und in meinen Händen halte ich einen zusammengefalteten Karton und dessen Deckel. Ich laufe über die Hauptstraße, die quer zu meiner neuen Adresse verläuft, und frage mich, wie ich Teil dieser Stadt werden und ein paar Freundschaften schließen und mich einleben kann. Ich betrete den Bürgersteig und mir laufen drei Mädchen im Grundschulalter entgegen. Die optisch größte der Dreien fragt mich mit einer äußerst mutigen Stimme: „Entschuldigen Sie bitte! Brauchen Sie den Karton noch?“ Ich realisiere erst gar nicht, was vor sich geht und freue mich darüber, dass ich zum ersten Mal auf der Straße angesprochen werde, dass ich doch nicht nur ein Fremder in dieser Stadt bin, der allein durch die Straßen zieht. Ich freue mich so sehr, dass ich milde lächelnd antworte: „Nein, ich brauche den Karton nicht. Kannst du gerne haben!“ Ich reiche dem kleinen Mädchen den großen Karton, das Mädchen bedankt sich strahlend und geht mit ihren Freundinnen weiter. Ich blicke den drei Kindern noch eine Weile hinterher, lächle über meine Reaktion und drehe mich dann um. Und als ich vor mich hin blicke, habe ich weder einen Karton in der Hand, noch Freunde, deren Hände ich halten kann.

https://twitter.com/#!/Heartcore/status/134619709978050560

Kurz nach Mitternacht schlägt Marcus vor, dass ich wieder zu ihm ziehen und bis zu meinem eigentlichen Umzug im Februar bei ihm wohnen kann. Er sagt, dass ich erst einmal einen Ort zum Wohlfühlen brauche, ein Zuhause, und dass das wichtiger ist als alles andere. Ich schlafe eine Nacht darüber und nehme am nächsten Tag den Vorschlag an. Aus Pflichtbewusstsein in der Übergangs-WG zu wohnen wäre mir selbst gegenüber falsch und unaufrichtig. Für mich ist das Zimmer in der WG einfach nur ein Zimmer, in dem meine Sachen stehen, und nicht mein Zuhause. Ich wohne dort nicht gerne und die Kündigung nach nur einer Woche ist den Mitbewohnern gegenüber scheiße, doch letztlich nur konsequent.


Mein Vater und die eine Sache.

4. November 2011

Ich frage meinen Vater, ob er stolz auf mich sein könnte und sich auch nur einmal für mich freuen würde, wenn ich der herzensbeste Mensch auf der Welt wäre, doch seine einzige Antwort auf diese Frage, bei deren Aussprache mir das Blut in den Adern gefriert, ist: „Nein, denn dann hätte ich ja immer noch einen schwulen Sohn.“

Stunden vorher wirft er mir vor, dass ich nur deshalb so weit weg von der Familie ziehen würde, damit ich mich in den Arsch ficken lassen und primitiver als jedes Tier und somit vollkommen menschenunwürdig leben kann. Ich frage, ob nur DAS seine einzige Sorge, seine eine große Angst ist und sage ihm, dass ich keinen Gefallen an Analverkehr finde und nicht DAS der Grund für meinen Wegzug ist. Ich sage, dass er sich zu sehr auf diese eine Sache beschränkt und nicht in der Lage ist, etwas anderes zu sehen. Dass er blind ist, es immer war. Dass er nicht um mich, sondern um die Idealversion seines Sohnes trauert. Dass er um all die Träume und Vorstellungen trauert, die niemals sein werden, wie er sie sich ausgemalt hat. Ich sage, dass mit meinem Outing die vorherigen Probleme nicht verschwunden sind, sondern noch viel mehr an Wucht dazu gewonnen haben. Dass es für mich ebenfalls nicht einfach und vor allem schmerzhaft ist. Und dass ich jetzt nicht mehr nur um Anerkennung und Wertschätzung, sondern auch dafür kämpfen muss, meiner Familie klar zu machen, dass ich weder krank, noch wahnsinnig oder verrückt bin. Dass ich keine Gehirnwäsche hinter mir habe, sondern immer noch derselbe Sohn bin wie zuvor, mit demselben Herzen in der Brust und denselben Augen im Kopf. Dass ich nur bin, wie ich bin und sein möchte.

Meine Eltern glauben ja, dass das alles eine vorübergehende Phase und ein Test Gottes ist. Ein Verhaltenstest, den sie meistern müssen, indem sie mir auf die „richtige Seite“, „zur Gesundheit“ und „zu Verstand“ helfen.

Es deprimiert mich in einer nicht enden wollenden Weise, dass ich ein Leben vor mir habe, in welchem ich meine Eltern nicht werde zufrieden stellen können. Und gleichzeitig verspüre ich das gewaltige Verlangen, ihnen und allen, die an mir zweifeln, mit aller Wucht, Macht und Energie zu beweisen, dass ich sehr wohl bei Verstand und ganz bestimmt ein guter Mensch bin.


Stand der Dinge.

4. November 2011

Am Sonntag ziehe ich in die Stadt, in der ich ursprünglich studieren wollte. Nachdem ich mich aus unerfreulichen Gründen nicht einschreiben konnte, musste ich nach Alternativen suchen, von denen es mir auch möglich sein sollte, die Miete zu bezahlen und Lebenskosten zu decken. Nach kurzer Suche und Dank eines Tipps auf Twitter wurde ich auf einen für meine Verhältnisse ziemlich coolen Job im Zuge des Bundesfreiwilligendienstes aufmerksam. Noch in der selben Nacht habe ich mich per eMail für die Stelle beworben und wurde am nächsten Tag telefonisch zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Entweder habe ich dort einen ziemlich guten Eindruck hinterlassen oder es gab wirklich nur zwei Bewerber für zwei Stellen, wie ich später von einem jungen Mann erfahren habe. Jedenfalls gehört der Job mir.

Am Sonntag ziehe ich also in eine Stadt, die mitten in Deutschland liegt und die den meisten Menschen nur vom Durchfahren her bekannt ist: Kassel. Eine niedlich-kleine, perfekt für’s Fahrradfahren geeignete Stadt, in der ich schon zuvor zwei Wochen wegen der WG-Suche verbracht habe. Ich mag die überschaubare Größe und die Stimmung, die Kassel auf mich ausstrahlt. An jedem Tag während der zwei Wochen dort hatte ich ein Lächeln im Gesicht, und mein Bauchgefühl sagt mir, dass ich dort an der richtigen Stelle bin.

Bis zum nächsten Wintersemester habe ich noch knapp ein Jahr Zeit, und in diesem einen Jahr möchte meine zukünftige Uni-Stadt kennenlernen und die noch zu erledigen Aufgaben zu Ende bringen oder sie in Angriff nehmen: Einrichten meines WG-Zimmers, Einbürgerung, Psychotherapie, Aufbau von Rückenmuskulatur, Stärkung und Erweiterung meines Wissens, Fotografieren, Kochen und vielleicht auch den Führerschein.

Die erste Aufgabe, das Einrichten meines WG-Zimmers, wird sich vorerst schwierig gestalten. Mein Gehalt ist knapp bemessen und wird erst Ende November ausgezahlt. Bundesfreiwilligendienst-Leistenden steht zwar Kindergeld zu, doch der entsprechende Gesetzesentwurf wurde noch nicht verabschiedet; das heißt, vorerst habe ich keinen Anspruch auf Kindergeld und eine Lücke von monatlich 184 Euro. Wenigstens kann ich mich darauf einstellen, dass mir die Summe des nicht auszahlten Kindergeldes überwiesen wird, sobald die neue Kindergeldregelung in Kraft getreten ist. Dass ich nur bis Februar in der WG wohnen werde, ist eine andere Geschichte.

Aufgabe Nummer Zwei, die Einbürgerung, wird ein längerer Prozess mit vielen Hürden sein. Gestern erst habe ich meinen türkischen Pass um zwei Jahre verlängern lassen und dabei erfahren, dass ich eventuell an meinem neunzehnten Geburtstag einen Brief aus der Türkei erhalte und zum Militär einberufen werde. Unter Umständen könnte mir dann die deutsche Staatsbürgerschaft verwehrt bleiben, weil die türkische Seite meine Einbürgerung blockiert. Für die Einbürgerung selbst muss ich meinen Hauptwohnsitz nach Kassel verlegen, damit die Post nicht bei meinen Eltern landet. Aber das hatte ich sowieso vor.

Nummer drei, die Psychotherapie, ist ein wichtiges Muss auf dem Weg zur inneren Ruhe. Mir geht es seit einiger Zeit nicht gut und das weiß ich schon sehr lange. Im letzten Jahr fehlte mir die Zeit und auch die Lust, regelmäßig jemanden aufzusuchen, doch in Kassel werde ich nach Arbeitsschluss genug Zeit für Hilfe und Beratung haben. Es wird nichts geben, das ich noch zu Hause erledigen muss, keine Hausaufgaben und auch keine Projekte; ich muss nicht vier Stunden am Tag durch das Bundesland fahren. Somit bleibt viel Zeit übrig, die nur darauf wartet, mit sinnvollen Angelegenheiten gefüllt zu werden.

Zum Beispiel mit regelmäßigem Sport. (Hihi.) Während der Wochen in Kassel war ich ohne Ausnahme mit dem Fahrrad unterwegs und habe dies sehr genossen. Das werde ich so weiter führen und so oft es geht in die Pedale treten. Aber wichtiger als das ist die Stärkung meines Rückens; ich muss endlich meine Rückenschmerzen los werden. Mir wurde sogar schon eine einjährige Rehamaßnahme verschrieben, doch die muss ich mir in Kassel noch einmal verschreiben lassen, da ich mich nun in einem anderen Bundesland befinde. Das wiederum heißt, dass ich mir auch einen neuen Hausarzt suchen muss. Und Zähne, HNO, Schilddrüse…

Meine Kamera lag die meiste Zeit in ihrer Tasche auf meinem Nachttisch herum, neben einem Stapel Bücher, die ich schon immer einmal lesen wollte. Dass ich selten fotografiert und noch seltener gelesen habe, werde ich wieder auf den Zeitmangel schieben, doch eigentlich lag es nur an mir selbst. Ich habe viel lieber geschlafen, als meine Hobbys zu pflegen; als ob unruhiger Schlaf abends nach der Schule in irgend einer Weise förderlich für mich wäre. Das wird mir in Kassel nicht passieren, das weiß ich ganz genau. Ich habe jetzt schon eine enorme Menge an Energie in mir, und ich spüre, wie sie von Tag zu Tag stärker wird. Ab Montag starte ich ganz offiziell in mein neues Leben, und darin ist es nicht vorgesehen, dass ich still und leise all meine Tage einsam im Bett oder im Internet verbringe. Stattdessen wird gelesen und geschrieben, fotografiert und gekocht.

Ob ich den Führerschein machen werde, hängt ganz von der Situation meines Kontos ab. Realistisch betrachtet werde ich ihn nicht machen können, selbst wenn ich für den Nebenjob im Kino eine Zusage erhalten sollte.

Nun, ich freue mich sehr darauf, endlich in mein eigenes Leben ziehen zu können, auch wenn sich damit viele Probleme nicht lösen lassen. Meine Eltern sind so uneinsichtig und stur wie zuvor, aber davon möchte ich jetzt nicht mehr schreiben. Sprengt den Rahmen.


Canan.

12. Oktober 2011

Bu dünya analara ve babalara kalsa, sevenler hiç kavuşamaz.


Die Frage nach dem Sinn.

10. Oktober 2011

Die Lebenszeit nicht verschwenden, das ist mir wichtig, immer wieder nach dem Sinn fragen, denn Sinn ist wichtig, wichtiger als Glück […] schreibt Frau Fragmente.

Ich denke dieser Tage viel darüber nach, welchen Sinn mein Leben derzeit hat. Ich habe Wochen und Monate damit verbracht, auf Briefe, Antworten, Zu- oder Absagen zu warten und befinde mich jetzt inmitten einer großen Leere, weil die Grundlage, auf der ich meine Zukunft aufbauen wollte, auf der Kippe steht und sich immer mehr in Richtung Abgrund neigt. Eigentlich kann ich den Boden schon berühren und sollte endlich aufstehen und nach vorne schauen. Aber da ist noch Hoffnung, an die ich mich klammere. Eine letzte Chance, die das Ruder herumreißen könnte.

Ich war nicht faul und untätig, ich habe viel unternommen, damit ich mein Studium so entspannt wie möglich angehen kann, doch weil dieses jetzt mit hoher Wahrscheinlichkeit wegbrechen wird, muss ich mir etwas Anderes suchen, das mir einen Sinn gibt. Termine bei verschiedenen Beratungsstellen; der Versuch, mein Zeugnis anerkennen zu lassen; Praktika, Kindergeld, BAföG; die Suche nach einer WG, in der ich mich wohl fühlen könnte … all das habe ich in den letzten Wochen versucht in die Wege zu leiten, doch letztlich stehe ich da, ohne etwas erreicht zu haben, weil die Grundlage all dessen marode ist und wegbrechen wird. Wenn da nicht die Hoffnung wäre, der ich jedes Mal blind vertraue, naiv und optimistisch wie ich bin, wäre ich jetzt woanders, als im Hause meiner Eltern.

Ich bin wieder bei meinen Eltern. Ich bin wieder dort, wo ich eigentlich nicht sein möchte. Nicht aus der Not heraus, sondern weil ich meine Familie vermisst habe, weil ich meine Oma und ein paar Verwandte nach langen Jahren wieder sehen wollte, die wegen der Hochzeit meines Cousins aus der Türkei eingereist sind. Das Verhältnis zu meinen Eltern ist derzeit okay — wir waren sogar bei einem Familientherapeuten und es lief erfreulich —, dennoch halte ich es in der Wohnung nicht aus. Ich will ausziehen, und das Studium wäre ein guter Grund und eine finanzielle Stütze gewesen, aber das kann ich jetzt wohl vergessen. Ich muss nach vorne schauen, ich muss endlich lernen, auf mehreren Gleisen gleichzeitig zu fahren. Ich darf nicht mehr (allein) auf die Hoffnung setzen.

Seit ein paar Tagen suche ich in der Stadt, in der ich studieren möchte, nach Arbeit, nach Jobs, nach einer Beschäftigung, die mich über Wasser hält, bis ich mich nächsten Juli wieder für ein Studium bewerben kann. Aber aus der Ferne geht das schlecht. Immerhin habe ich einige Anlaufstellen, die vielversprechend klingen; denen werde ich schreiben. Ich brauche Arbeit, ich brauche ein Projekt oder eine Beschäftigung, dem ich meine Aufmerksamkeit schenken kann und dafür entlohnt werde. Ich brauche einen Sinn, etwas, woran ich arbeiten und wachsen kann. Sonst komme ich mir nutzlos und verschwendet vor.

Und ich weiß nicht einmal, ob die Zeit, die ich jetzt mit Warten und Suchen verbringe, verschwendete Zeit ist oder einfach nur der normale Lauf eines eigenständigen Lebens.


Bester Freund.

6. Oktober 2011

Ich verlasse den Bahnhof und gehe die Straße in Richtung Ortskern entlang, bis ich weit in der Ferne die Gestalt von Bene erkennen kann. Das Wetter ist gut, es ist windig-warm und ich bereue es, eine dicke Jacke angezogen zu haben. Mein Herz schlägt mit jedem Schritt wilder, und als Bene vor mir steht, sprechen wir kein Wort und nehmen uns in den Arm. Es ist eine gute und ehrliche Umarmung. Ich merke an seinem Herzschlag, dass auch er aufgeregt ist: wir haben uns wirklich vermisst. Er sagt, dass ich gut und gesund aussehe. Ich lobe die Entspannung in seinem Gesicht und frage, ob er in den letzten zwei Monaten gewachsen ist. Ich komme mir plötzlich klein vor, fühle mich aber sehr wohl dabei, weil es Bene ist. Wir lachen beide wegen unserer eigenartigen Komplimente und gehen zu ihm nach Hause.

Bene wohnt noch bei seinen Eltern in einem tollen Fachwerkhaus. In seinem Zimmer reiche ich ihm sein Geburtstagsgeschenk, leider mit einem Monat Verspätung. Er liest aufmerksam den Brief, den ich ihm geschrieben habe, und lächelt. Es ist ein ehrliches Lächeln. Mit einem Ruck reißt er die Geschenkverpackung auf und legt das Game in die Konsole ein, um Einstellungen vorzunehmen und sich einen Überblick zu verschaffen. Dann gibt es Abendessen. Die Eltern und die drei Geschwister von Bene sind angenehm und wir verstehen uns. Das Essen schmeckt hervorragend und die Gespräche am Tisch sind lebendig. In seinem Zimmer schauen wir uns den Film an, den ich mitgebracht habe. Exam. Gefällt ihm sehr gut. Wir schalten die Xbox ein und spielen knapp drei Stunden lang sein Geschenk — Alan Wake —, und sind beide vollends begeistert. Die Spielatmosphäre ist düster und dunkel, und die Story beschert uns alle paar Minuten eine heftige Gänsehaut. Wir erschrecken uns an denselben Stellen und blicken uns dann aus den Augenwinkeln an, lachen darüber und spielen weiter. Kurz nach Mitternacht gehen wir schlafen.

Doch anstatt zu schlafen, reden wir. Ich erzähle ihm alles ganz ausführlich, die ganze Geschichte von Anfang an bis zu meiner Ankunft bei ihm. So umfassend habe ich bisher noch niemandem erzählt, was sich alles weshalb ereignet hat in den letzten Wochen. Bene hört aufmerksam zu und ist interessiert, stellt wichtige Fragen an den richtigen Stellen und sagt dann irgendwann, dass das alles drehbuchreif ist. Ich scherze: Dir ist aber klar, dass du bis dahin deine Theaterausbildung vollendet haben musst!? Ich bestehe darauf, dass du dich selbst spielst! Irgendwann nicken wir ein, sicher ist es schon nach zwei Uhr. Ich genieße es, dass Bene mein bester Freund ist und schlafe zufrieden ein.

In Heidelberg angekommen empfängt uns Jes und ist erst zögerlich und gereizt, aber schon nach fünf Minuten ist sie dieselbe Jes, wie wir sie kennen und lieben. Wir verbringen den Tag mit guten Dingen und gehen dann schlafen. Jes schläft in ihrem Bett und ich teile mir mit Bene ihre Ausziehcouch. Der Platz ist knapp, wir liegen unweigerlich nah beieinander. Nachts wache ich auf und merke, dass sich Bene an mich gekuschelt hat. Er liegt halb unter meiner und halb unter seiner Decke. Sein linker Arm hängt schlaff an mir herab und ich kann seine Atmung in meinem Nacken spüren. Ich lächle im ersten Moment, weil ich denke, dass es mein Held ist, realisiere aber dann, wo und bei wem ich bin. Ich empfinde Benes Umarmung als angenehm und irgendwie süß, habe aber das Gefühl, dass es falsch ist, so zu empfinden. Einerseits scheine ich diese Nähe zu brauchen, andererseits bekomme ich sie von der falschen Person. Ich denke kurz darüber nach, ob ich mich bewegen und seinen Arm woanders hinlegen soll, entscheide mich aber dagegen, weil ich Bene nicht aufwecken will und es ihm sicher peinlich wäre. Ich weiß nicht so recht, ob mein Verhalten nun richtig oder falsch ist, und schlafe grübelnd, aber dennoch zufrieden ein.

Dieses Ereignis verfolgt mich ein paar Tage lang, und ich denke viel darüber nach. Dass mich Bene — wenn auch versehentlich und im Schlaf — umarmt und mir somit Nähe, Sicherheit und Vertrauen vermittelt hat, ist etwas Gutes. Es gibt nichts Schlechtes daran, und auch dass ich das als angenehm empfunden habe, ist okay und normal. Nähe ist Nähe. Und ich freue mich so sehr, nach langer Suche sagen zu können, dass ich einen besten Freund gefunden habe, bei dem ich mich richtig gut und wohl fühle. Einen besten Freund, der Sicherheit und Nähe ausstrahlt und mich mag, wie ich bin. Das ist toll und macht mich glücklich.

Mittlerweile habe ich Bene von der Umarmung erzählt. Es war ihm etwas unangenehm, aber er sagte, dass er das gerne gemacht hat, auch wenn er nichts davon gemerkt hat. Kannst du immer bei mir haben!

Nächste Woche zieht Bene in ein kleines Feriendorf, um dort sein freiwilliges soziales Jahr anzutreten. Jes und ich, wir werden ihn bei Gelegenheit mal besuchen und ein paar Tage bei ihm übernachten. Ist ja schließlich ein Feriendorf! Und bald darauf sind die Beiden zu Gast in meiner WG. Ich male mir jetzt schon aus, was wir gemeinsam unternehmen, wohin wir fahren und abhängen könnten; was ich den Beiden kochen werde, und was ich dafür noch lernen und einkaufen muss. Ich denke viel über dieses Treffen nach, das vielleicht erst im Frühling nächsten Jahres oder sogar noch später stattfinden wird. Und es bereitet mir Freude, auf Wolken zu schweben, deren Zukunft allein in meinen Händen liegt.


Aufbruch.

5. Oktober 2011

Ich hatte damit gerechnet, dass es nach und nach Änderungen und Verbesserungen geben würde, doch dass sie so schnell und mit solch gewaltiger Wucht in mein Leben einschlagen würden, daran habe ich im Traum nicht gedacht. Innerhalb von zwei Monaten hat sich das, was ich einst Leben und Alltag nannte, komplett geändert.

Viel ist passiert in dieser Zeit, und es würde sich lohnen, darüber zu schreiben, doch mir fällt es schwer. Ich weiß nicht, ob ich bezüglich des Schreibens stumpf geworden bin oder ob das nur eine unschöne Phase ist, die es zu überwinden gilt. Anstatt zu schreiben, schweige ich, und das gefällt mir nicht. Und ich weiß, dass es euch ebenfalls nicht gefällt. Also werde ich versuchen, das zu ändern.

Ich werde versuchen, jeden Tag etwas aus dieser Zeit aufzuschreiben. Das wird nicht nur mir helfen, meine Gründe und Entscheidungen besser zu verstehen, sondern auch euch, meinen Unterstützern. Ich will nicht, dass ihr euch im Stich gelassen oder verraten fühlt, und ich will auch nicht mehr mit schlechtem Gewissen durch die Gegend schleichen müssen. Also werde ich schreiben, um mich wieder wohl fühlen zu können. (So, wie’s schon immer gewesen ist.)

Auf geht’s!


Super 8.

16. September 2011

Es ist an der Zeit, einen Teil meiner Geschichte aufzuschreiben. Ich möchte, dass sie hier geschrieben steht und zu lesen ist; ich möchte, dass ihr wisst, was passiert ist, wie es dazu kam und welche Konsequenzen und Gründe das hatte und noch haben wird. Ich schreibe diesen Text auch aus Gründen der Sicherheit; ich will euch auf dem Laufenden halten und euch bitten, auf mich zu achten. Denn ich werde für eine Woche bei meiner Familie sein.


Bene und ich, wir trafen uns Anfang August in der Stadt, aßen etwas und gingen dann in’s Kino, wo wir uns Super 8 anschauen wollten. Zuvor kauften wir Alkohol, weil ich das wollte und weil ich glaubte, den Rausch zu brauchen, damit ich wieder lächeln konnte. Und vielleicht war dieser Wunsch einer der wichtigeren in meinem Leben, denn er hat mächtige Brocken in’s Rollen gebracht. Der Film lief an, das Kino war fast leer und mit uns saßen um die sechs Personen im Saal. Ich trank ein paar Schlücke und merkte bereits, dass der Alkohol wirkte, doch er machte mich nicht gesellig wie beim ersten Mal, er machte mich traurig und selbstmitleidig. Der Alkohol schälte meine äußere Hülle ab, nahm mir jegliches Gefühl der Vernunft und brauchte zum Vorschein, wie ich mich wirklich fühlte: traurig bis in die letzte Knochenfaser. Eine Fassade hatte ich nicht mehr. Kurz darauf platzte etwas in mir und ich verlor die Kontrolle über mich, wurde so emotional wie noch nie zuvor und krallte mich an Bene fest, der einzigen Konstante, die ich hatte. Ich krallte mich fest an seine Arme, und sicher habe ich ihn auch verletzt, doch er blieb bei mir, ist nicht gegangen. Hat mich nicht allein und zurück gelassen. Er blieb konstant, bis der Film endete, ließ es zu, dass ich ihn voll heulte. Er tröstete mich, und ich glaube mich sogar daran zu erinnern, dass er mir den Kopf streichelte und sagte, dass alles gut wird. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nicht, was ich ihm erzählte und ich weiß auch nicht, womit ich ihn sonst noch so belastet habe. Ich weiß nur noch, wie er zu mir sagte, dass ich auf der Parkbank sitzen bleiben soll, bis mein Bus fährt. Sein Bus fuhr früher als meiner, und deshalb musste er auch früher gehen, denn einen anderen Bus gab es nicht. Dorfkinder. Ich sah Bene dabei zu, wie er ging, und immer wieder nach mir schaute, und als er nicht mehr zu sehen war, stand ich auf, um ihn zu suchen. Als ich am Bahnhof war, fand ich keinen Bene vor, sondern nur eine leere Sitzgelegenheit. Ich setzte mich und wartete auf meinen Bus nach Hause.

Nach 22 Uhr wird der Bahnhof von der Polizei überwacht, denn es kommt öfter vor, dass dort Streit ausbricht und Flaschen und Fäuste durch die Gegend fliegen. Natürlich hatten die beiden Polizisten dort gesehen, wie ich angetorkelt kam und mich hinsetzte, und netterweise sprachen sie mich an, ob es mir gut erginge. Ich konnte einigermaßen deutlich sprechen, alle Fragen beantworten und mich ausweisen, musste aber trotzdem einen Alkoholtest machen. 1,6. Mir sagten diese Zahlen nichts, ich hatte erst zum dritten oder vierten Mal in meinem Leben getrunken. Dann ging alles sehr schnell. Sie riefen die Festnetz-Nummer an, die ich ihnen sagte, konnten aber niemanden erreichen, denn zu Hause war niemand. Das hatte ich ihnen aber auch gesagt. Ich wusste, wo meine Eltern zu Besuch waren, kannte aber die Nummer nicht. Ich sagte ihnen die Adresse und sie schlugen vor, mich dorthin zu fahren. Im Nachhinein war das sehr tolerant von ihnen, doch in der Situation selbst dachte ich, dass es das schlimmste ist, was sie mir hätten antun können. Ich sagte ihnen die Wahrheit, sagte, warum ich getrunken hatte und weshalb es wichtig ist, dass sie mich nicht an meine Familie ausliefern. Sie verstanden mich zwar, mussten aber trotzdem ihren Job machen. Wir vereinbarten, dass sie mich an der Tür absetzen und wieder gehen, und genau das machten sie. Ich ging in das Haus und sagte, dass mir schlecht ist, ich schlecht gegessen hatte, und legte mich in ein Zimmer und schlief ein. Stunden später wurde ich geweckt. Heimfahrt. Zu Hause duschte ich und musste dann in’s Wohnzimmer, Rede und Antwort stehen. Den weiteren Verlauf habe ich bereits hier auf Formspring nieder geschrieben.

Bis zuletzt dachte ich, dass wenn meine Familie erfahren würde, dass ich homosexuell bin, sie mich verprügeln, verschlagen und verstoßen würde. Ich hatte diese schreckliche Vorstellung im Kopf, in der mich mein Vater bewusstlos und krankenhausreif schlägt, mich gar umbringt. Aus diesem Grund, aus Angst um mein Leben wollte ich das Outing vermeiden, solange ich es eben vermeiden konnte. Jedoch kam es – wie alles andere auch – anders, als ich es erwartet hatte: Im angetrunkenen Zustand sagte ich meinen Eltern, dass ich es nicht mehr aushalte, dass ich nicht mehr damit leben kann; dass ich es satt habe, zu lügen, und dass sie die Wahrheit kennen sollten. Den Grund, weshalb ich an diesem Samstagabend getrunken hatte. Und dann sagte ich es ihnen.

Vielleicht war die Entscheidung, es ihnen in dieser Nacht zu sagen, das dümmste, was ich je getan habe, vielleicht aber auch nicht. Für mich war es jedenfalls eine enorme Erleichterung, ein Loslassen aller Lasten, ein Gefühl von endloser Freiheit. Für meine Eltern nicht, denn ich hatte sie mit einer Tatsache belastet, mit der sie nicht umgehen konnten. Mit der sie vielleicht niemals werden umgehen können.

Meine Eltern reagierten „ruhig“ darauf, versuchten mit mir darüber zu sprechen, wurden in jener Nacht kein einziges Mal laut. Ich glaube, dass sie zu sehr unter Schock standen. Sie sprachen bis in die Morgenstunden mit mir, und je heller es draußen wurde, desto trauriger wurden ihre Stimmen. Sie so zu sehen, brach mir das Herz, denn ich war „Schuld“ an ihrer Traurigkeit, ich hatte sie in diese dunkle Schlucht gestoßen, aus der sie jetzt – fast einen Monat nach meinem Outing – immer noch nicht heraus gekommen sind. Die folgenden Tage waren nicht erfreulich für mich. Ich bekam zu hören, dass ich falsch, schlecht und abartig sei, sie mich nicht als Sohn akzeptieren könnten, solange ich krank sei. Was sollten die Verwandten denken, was die Bekannten? Das sei doch nicht im Sinne von Gott, niemals wieder könnten sie aufrecht gehen. Und als sie sagten, dass ich weder studieren, noch ausziehen darf, solange ich nicht geheilt bin, platzte in mir etwas ab.

Ich weiß nicht, was ich mir erhofft habe, als ich es ihnen sagte. War es Mitleid, Nachsicht oder gar Verständnis? Ich wollte es ihnen einfach nur sagen, hatte mir aber keinerlei Gedanken über die unmittelbaren Konsequenzen gemacht. Im Nachhinein bereue ich den Zeitpunkt meines Outings, aber nicht mein Outing selbst. Das Freiheitsgefühl, das ich in der Nacht verspürt habe, verflüchtigte sich sehr schnell, denn ich bekam schon am nächsten Tag das Gegenteil zu spüren: Beleidigungen der verletzendsten Art, verbale Attacken auf meine Person, das Bezweifeln meiner Urteilsfähigkeit und meiner Intelligenz, Schlafentzug, Internetverbot, … sprich: unerträglicher, psychischer Druck, viel schlimmer, als er es vor meinem Outing gewesen ist. Ich konnte nicht mehr ruhig schlafen, hatte jede Nacht Albträume und war morgens von Kopf bis Fuß nassgeschwitzt. Ich hatte mehr Angst, als jemals zuvor in meinem Leben.

Der Entschluss zu gehen war nicht einfach, aber konsequent.

Mehr als einen Monat ist es nun her, dass ich das Elternhaus verlassen habe. Ich werde nicht ausführen, wo und mit wem ich in der Zeit war, was ich die Zeit über gemacht habe. Wichtig ist nur, dass es mir immer gut erging und ich mich wohl fühlte, dass ich jetzt einen Studienplatz habe und auch dass ich sehr viel gelacht und gelächelt habe. Und ich möchte mich nochmals bei euch allen bedanken. Danke, dass ihr mir geholfen und mich unterstützt habt, dass ihr da wart, als ich in Not war, und mir in so vielen und wichtigen Dingen weiterhelfen konntet, dass ich es immer noch nicht fassen kann. Ich möchte mich bedanken, weiß aber auch gleichzeitig, dass ich mich selbst in Gefahr begebe, indem ich für ein paar Tage zurück zu meiner Familie fahre. Doch ich würde dies nicht tun, wenn es nicht ein paar Sicherheiten gäbe. Meine Entscheidung ist riskant und verdient zu Recht Kritik und die Wenigen, die bereits wissen, dass ich für eine Woche bei meiner Familie sein werde, halten das für keine gute Idee, doch sie sagen alle, dass das niemand besser einschätzen kann, als ich selbst. Und auch wenn ich oft daneben lag mit meinen Einschätzungen, lag ich nie falsch.

Ich werde mich jeden Tag so oft es geht melden, und sollte ich für eine längere Zeit nicht in der Timeline sein, wisst ihr, was zu tun ist. Ihr kennt meinen Namen und auch die Adresse.

Und nochmals: Danke, dass euch gibt. Ich bin so froh darüber, euch zu kennen und würde mich am liebsten bei jedem von Euch einzeln und persönlich bedanken, aber das geht leider nicht an einem Tag, per Text schon gar nicht. Aber ich werde das nachholen.


Vorsprung.

6. August 2011

Ich steige aus der viel zu vollen S-Bahn und gehe auf eine junge Frau zu und sage ihr vollen Ernstes in’s Gesicht: „Hör‘ mir zu. Die Antwort ist Nein. Nein, tu‘ es nicht.“ Dann gehe ich meinen Weg weiter, ohne auch nur einmal zurückzublicken, die Treppe hinab, durch den Tunnel hindurch und die Treppe zu den Haltestellen hinauf und in den Bus hinein. Ich setze mich, der Bus fährt los und ich frage mich, was genau ich gerade eben getan habe und ob das Konsequenzen haben wird, mehr schlimme als gute, ob sie auf meine Worte hören und etwas nicht tun wird, nur weil ich, ein Fremder aus der S-Bahn, es ihr gesagt habe. Ich frage mich, ob das ihr Leben verändern wird und ob ich Schuld daran sein werde, dass sie leidet, stirbt oder möglicherweise glücklich sein wird.

Zu Hause angekommen denke ich noch immer an die junge Frau und was nun mit ihr geschehen wird. Ich weiß nicht, ob ich bereuen oder mich meiner Verrücktheit wegen freuen soll, oder ob das vollkommen gleich und unbedeutend ist, weil es letztendlich nicht in meiner Hand liegt, was sie zu tun vermag.

Nachts träume ich, wie sie sich am Geländer einer Brücke festhält, hinab sieht und wieder den Weg zurück geht, der sie dorthin geführt hat.


Zwei Tage im neuen Leben.

1. August 2011

In der ersten Nacht weine ich an seiner Brust, wie ich noch nie zuvor in meinem Leben geweint habe. Am nächsten Tag sagt er mir in einem passenden Moment, dass das kein Weinen, sondern vielmehr Rotz und Wasser heulen gewesen ist. Er sagt, dass es nicht stimmt, was ich in dieser Nacht sagte. Es stimmt nicht, dass du „zurück“ musst, denn du warst niemals wirklich dort. Niemand wird dich aufhalten können, du bist schon längst gegangen. Und damit hat er Recht, denn das Elternhaus war niemals mein Zuhause, niemals ein Ort, an dem ich mich wohl und geborgen gefühlt habe. Er hingegen ist genau das für mich: ein Zuhause, ein Ort, an dem es mir gut geht, an welchem ich mich lebendig und vor Allem glücklich fühle.

Am Tag meiner Abreise bin ich zuversichtlich, und von Trauer oder Trübsinn ist nicht die leiseste Spur zu erkennen. Er kauft mir ein Ticket in die nächste Stadt, von wo aus ich per Mitfahrgelegenheit zurück fahren werde. Der Zug hält an, ich laufe zur Tür und spüre kurz seinen Blick an mir haften. Ich steige in den Zug und sehe ihn dort stehen, zwei Meter von mir entfernt. Er ist gerade dabei, zwei älteren Menschen den Weg zu weisen, und als er fertig damit ist, treffen sich unsere Blicke wieder. In seinem Blick liegt etwas sehr Zärtliches und Vertrautes, etwas, das mich sehr berührt. Ich lege meine rechte Hand an die Glasscheibe und sage mir, dass ich nicht traurig werden darf, dass es keinen rationalen Grund dafür gibt, ausgerechnet jetzt zu weinen. Doch als der Zug in’s Rollen kommt und losfährt, unsere Blicke sich unweigerlich voneinander trennen, empfinde ich dasselbe Gefühl, das ich bei unserem ersten Abschied im Juni verspürt habe: ich fühle mich, als wäre ich erschossen worden. Mitten in’s Herz, genau dort hin, wo es so sehr schmerzt, dass ich aufschreien könnte. Doch ich schlucke die Tränen, den Schmerz herunter, und beiße mir auf die Lippen. Nicht jetzt, jetzt nicht!

Kurz nach sechzehn Uhr ruft mein Vater an. Ich sage ihm, dass wir gerade losgefahren sind, ich und meine Freunde, und dass wir bald zu Hause sein würden. Und während ich das sage, merke ich, wie dumm das gewesen ist. Denn die Fahrt würde etwa vier Stunden dauern, die Haustüre würde ich also erst gehen zweiundzwanzig Uhr aufschließen. Sechs Stunden, die ich nachher rechtfertigen muss. Und ich denke mir, dass es schon irgendwie gut werden würde, ich klug genug bin, um mir eine passende und glaubhafte Ausrede einfallen zu lassen.

Um zwanzig Uhr klingelt das Handy nochmals und ich gehe ‚ran und sage, dass ich bald da bin, wir gerade an einer Tankstelle in der Nähe sind und ich deshalb nicht die viermal zuvor an’s Telefon gegangen bin, weil es auf lautlos geschaltet war. Und wieder bewundere ich meine Dummheit, und hasse mich dafür. Der nächste Bus in’s Dorf fährt erst in einer Stunde, also überlege ich mir, zu sagen, dass ich mit zu den Freunden gefahren bin, sie mich eingeladen haben. Ich gehe in eine Dönerbude am Bahnhof und warte dort auf den Bus, lese eines der beiden Bücher weiter, die mir mein Held ausgeliegen hat. Schon ein Drittel habe ich hinter mir, als mich ein Besucher des Ladens fragt, ob ich die restlichen Stücke seiner Pizza essen würde, er sei schon satt. Ich freue mich und sage zu, bedanke mich und esse die beiden Pizzastücke. Ich glaube, dass das die beste Pizza ist, die ich je gegessen habe.

Der Bus ist da, ich steige ein und fahre in Richtung Wohnort. Während der Fahrt klingelt immer wieder mein Handy; es ist mein Vater, ich schalte auf lautlos und hebe nicht ab. Er würde hören, dass ich im Bus sitze. Doch er lässt nicht locker, ruft jede Minute an, wieder und wieder. Macht mich wahnsinnig. Natürlich, sein Sohn ist immer noch nicht da, doch ich habe ihm vor einer Stunde gesagt, dass ich bald da sein würde. Ich rede mir ein, dass ich ihn damit konditionieren könnte, indem ich nicht abhebe. Doch nichts Dergleichen.

Kurz vor dem Wohnort meiner Eltern schreibt mir Marie, eine meiner Freunde, mit denen ich — so sagten wir es jedenfalls zu meinen Eltern — über’s Wochenende nach Hessen verreist bin, eine SMS, in der steht, dass mein Bruder und mein Vater sie angerufen haben und sie ihnen sagte, dass ich schon unterwegs nach Hause bin. Scheiße, denke ich. Du bist aufgeflogen.

Im Wohnort sehe ich mich um; könnte ja sein, dass mein Vater irgendwo steht und nur darauf wartet, dass ich mich selbst verrate. Ich glaube niemanden zu sehen und steige aus dem Bus, und mein Bruder, der sich hinter einem Baum versteckt hat, rennt los nach Hause. Er hat mich erkannt. Ich werde gleich tot sein. Ich laufe nach Hause und versuche währenddessen eine Ausrede, einen Ausweg zu finden, doch das Denken ist mir nicht möglich. Er wird mich schlagen, er wird mich schlagen. Und da steht er schon an der Tür, auf mich wartend, wütend das Gesicht, die Körperhaltung aggressiv.

Ich sage: Was ist denn los? Vater sagt: Komm‘ erst einmal in’s Haus! Ich streife meine Schuhe ab und lasse meinen Rucksack auf der Treppe zurück, gehe in’s Wohnzimmer und ziehe meine Jacke aus, setze mich, wie es mir befohlen wurde. Ich fühle mich, als sei dieser Moment die letzte Stunde meines Lebens, das erste und letzte Gericht, vor dem ich mich verantworten müsste.

Sie sagen mir, dass sie mich durchschaut haben, mich und meine Lügen, dass sie Bescheid wissen. Mir stockt der Atem. Sie sagen, dass ich gar nicht mit Marie nach Hause gefahren bin, sondern mit der Bahn, denn Marie habe ihnen am Telefon gesagt, dass ich schon unterwegs sei. Sie sagen, dass sie wissen, dass Marie noch dort geblieben sei, aber nicht, dass Marie das gesagt hat. Und das hat sie auch nicht, denn sie schrieb mir, was sie sagte. Und plötzlich reimen sich meine Eltern eine Ausrede zurecht und ich stimme und gebe zu, dass ich gelogen habe. Weil ihr mir eh wieder vorwerfen würdet, dass meine Freunde mich nur ausnutzen und stehen lassen! Lügen, alles, durch und durch.

Nach langer Diskussion glaube ich mich aus der Misere gerettet zu haben, doch dann verlangt Vater nach meinem Handy. Erst weigere ich mich, doch dann beuge ich mich, als er mir Schläge androht, mich sehr fest am Arm packt. Ich beuge mich, um nicht zu zerbrechen und händige mein iPhone aus, das einzige Etwas in meinem alten Leben, mit dessen Hilfe ich mit meinem neuen Leben, mit meinem Helden kommunizieren kann. Er verlangt nach dem Sicherheitscode und ich sage ihn auf, weil ich ihn selbst nicht eintippen darf. Er öffnet meine SMS-App und ich sehe schon mein Blut an seinen Händen kleben, doch glücklicherweise sind nur die Nachrichten von Marie zu sehen. Er hätte nur auf Zurück tippen müssen, um die Nachrichten an meinen Freund zu lesen. Bevor es soweit kommt, schlage ich vor, Marie zu schreiben, dass ich jetzt zu Hause bin und alles okay ist, sie sich keine Sorgen zu machen braucht. Ich schreibe ihr die SMS, wieder eine Lüge, und zeige sie meinem Vater, schalte dann das Handy aus und gebe es ihm, sage, dass ich jetzt endlich auf’s Klo muss und gehe die Treppen hinauf und wecke den Computer aus dem Ruhezustand auf, gebe die Fernlöschung aller Daten meines iPhones in Auftrag und gehe dann sofort auf’s Klo, denn mein Vater kommt die Treppen hochgestürmt. Er fragt mich durch die Klotüre hindurch, wie meine PIN lautet, ich sage sie ihm und weiß, dass er mit der Eingabe dieser mein iPhone löscht. Und so geschieht es, ohne dass er es merkt. Alles ist fort, mein Handy ist ein Backstein in seinen Händen.

Im Wohnzimmer sagt mir mein Vater wieder einmal, dass er mir und nicht an mich glaubt, und dass aus mir nie etwas werden wird, ich scheitern werde. Er sagt, ich sei dazu verdammt, und nichts Anderes käme für mich in Frage. Du wirst versagen!

Zwei Wochen lang wird er mir den einzigen Gegenstand vorenthalten, ohne den es mir wirklich schwer fällt, das Real Life zu durchleben. Das ist eine harte Strafe, aber dennoch um Welten milder als die, die ich bekommen hätte, wäre die Wahrheit an’s Tageslicht gekommen. Hätte er nur den vorletzten Nachrichtverlauf gelesen, die Mail-App gestartet oder in das Kontaktbuch gesehen, wäre meine Welt in tausend Teile zersplittert. Ich wäre dann nur noch ein Trümmerhaufen, jämmerlich und ausgebrannt.

Ich habe mich wieder einmal gebeugt, um nicht zu zerbrechen, und ich bin es müde und so sehr leid. Diesen Text habe ich wie in Trance niedergeschrieben und bevor dieser Absatz entstand, habe ich sehr heftig geweint, wieder im Elternhaus, wieder zürück sein zu müssen. Dieser Vorfall kann niemals das Wochenende, das voller Freude und Lächeln gewesen ist, überschatten, trotzdem überwiegt im Moment der Schmerz, der daraus geboren wurde. Ich habe an die vielen und wahren Worte meines Helden gedacht und mir dennoch gewünscht, niemals in den Zug und zur Mitfahrgelegenheit gestiegen zu sein. Ich habe mir zum ersten Mal gewünscht, tot zu sein, damit ich endlich leben und in Frieden ruhen kann.


Ende eines Lebensabschnittes.

15. Juli 2011

Gestern habe ich mein Abschlusszeugnis erhalten, und obwohl ich selbst nur bedingt zufrieden mit meinen Leistungen bin, hätte ich gerne von meinen Eltern gehört, dass sie stolz auf mich sind. Stolz auf ihren Sohn, der sich den besten Abschluss in der gesamten Familie und Verwandtschaft erarbeitet hat, den drittbesten seiner Klasse. Ich hätte gerne ein Lächeln auf dem Gesicht meines Vaters gesehen, einen kleinen Funken Anerkennung, oder aus dem Munde meiner Mutter gehört, dass sie sich für mich und meine gute Durchschnittsnote freut, doch was ich stattdessen bekam, hat mich so sehr verletzt, dass ich aus dem Wohnzimmer gestürmt und mich unter meinem Kopfkissen in den Schlaf geweint habe.

Meine Eltern werden nie stolzer auf mich sein, als sie es in diesem Moment gewesen sind, und sie werden sich auch in Zukunft nicht für mich und meinen Lebensentwurf freuen. Das ist okay, damit kann ich mich abfinden, schließlich leben sie in einer ganz anderen Welt und haben andere Wertmaßstäbe als ich. Sie meinen es gut mit mir, und auch die Kritik an meinem Zeugnis, das weder befriedigend, noch sehr gut ist, war nicht böse gemeint, dennoch — und vielleicht gerade deshalb — verletzen sie mich mit ihrer Verhaltensweise.

Mittlerweile kann mir mein altes Leben nichts mehr geben, und ich weiß nun genau, weshalb ich innerhalb meines neuen Lebens als der Mensch, der ich bin, geschätzt und geliebt werde, doch solange ich mir die Realität schön reden und sie mit dem besten Freund glücklich trinken muss, werde ich nicht zufrieden sein. So möchte ich — falls das überhaupt möglich und kein naiver Wunsch ist — nie wieder leben müssen.

http://twitter.com/#!/Heartcore/statuses/91604968418721792
http://twitter.com/#!/tristessedeluxe/statuses/91605640228769792

Ich stehe am bisher wichtigsten Wendepunkt meines Lebens, und bin gespannt, welche Überraschungen, Wunder und Enttäuschungen die Welt noch so auf Lager hat. Ich erwarte nicht viel, nur, dass es besser wird für mich. Und wie man mir gestern sagte: ich habe großes Glück mit mir.


Wie hast du denn gemerkt…

6. Juli 2011

Er hatte schon immer eine gewisse Anziehungskraft auf mich, doch erst im Januar merkte ich, dass ich wirklich auf ihn stehe.

Seit Langem schon schrieben wir DMs miteinander, doch wurde das mit der Zeit zu umständlich, also wechselten wir in den Chat-Client. So ging das viele Tage und Nächte, wochenlang, bis ich eines Morgens zitternd und schweißgebadet aufgewacht bin. Die Nacht war sehr lang gewesen, wir hatten bis in die Morgenstunden miteinander geschrieben, entsprechend war meine Müdigkeit. Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle, hatte Kopf- und Augenschmerzen, war verspannt bis in die letzte Muskelfaser. Mein Körper glich dem Innenleben einer Tiefkühltruhe und war nicht, wie ich ihn gewohnt bin. Ich stand auf und versuchte, mir die Kälte vom Körper zu waschen, mich zu enteisen, doch an meiner Empfindung änderte das wenig. Ich aß eine Banane und gleich noch eine und trank heiße Milch mit extra viel Honig, vielleicht brauchte ich einfach nur etwas Zucker, um zu mir zu kommen. Es roch überall nach Moos und Wald und Pilzen, als wäre es Herbst und als stünde ich mitten in einem Tannenwald zwischen Reh und Hirsch, aber das bildete ich mir nur ein. Kein Stückchen Musik konnte mich auf dem Weg zur Schule beruhigen, nichts, nicht einmal die Lieblingstitel schafften es. Die Busfahrt sollte lange dauern, die Zugfahrt würde noch mehr Zeit in Anspruch nehmen. Meine Hände fühlten sich glühend-heiß an, während es mich regelrecht schüttelte, als wäre ich schutzlos der Kälte Sibiriens ausgeliefert gewesen. Der Schnee, der damals fiel, war kein Schnee, er war nicht flockig und weich, sondern wie abgeriebene Seife-Stückchen, wie Glassplitter, hart und zackig. Er verletzte mich und kratze mir unverständliche Worte und Zeichen in die Haut. In der Schule saß ich nun und wusste nicht, was mit mir los und weshalb ich plötzlich so emotional war. An keinem Tag zuvor hatte ich einen derartigen Durst, eine solche Sehnsucht in mir gehabt. Ich konnte dieses Gefühl nicht stillen, ich wusste nicht wie und hätte geweint, wäre es mir möglich gewesen. Stattdessen versuchte ich mich abzulenken und rechnete Mathe-Aufgaben. Ich las die Formeln und Regeln und rechnete die selbe Aufgabe wieder und wieder durch, kam aber zu keinem Ergebnis. In meinem Kopf gab es keinen Platz für Rechenaufgaben; ich konnte nur an ihn denken.

Und dann hatte ich die Lösung: Ich war verliebt.


Formspring.

4. Juli 2011

Folgend acht Fragen und Antworten aus meinem Formspring-Profil, die ich sehr mochte und hier gerne festhalten würde, bevor sie in der Timeline untergehen.


Frage:

Hasst du deine Familie?

Antwort:

„Eure Ehre ist unser Leid.“ (Die Fremde)

Obwohl ich sehr unter meiner Familie leide und sie mich traurig und depressiv macht, hasse ich meine Familie nicht. Dass sie so sind, wie sie sind, liegt nicht an ihnen selbst, sondern auch und vor allem an ihrem Umfeld und an ihrer Lebenswirklichkeit. Beide Elternteile wurden nach den Normen und Werten des türkischen Patriarchats erzogen, und obwohl auch sie ganz sicher darunter zu leiden hatten, leben sie in diesen Strukturen fort. Sie kennen es nicht anders; sie kennen nur die Welt, in der sie aufgewachsen und fest verwurzelt sind. Für sie ist das die ideale Lebensform; sie ist ehrenhaft, rein und traditionell. Ich kann es ihnen nicht übel nehmen, dass sie mich so behandeln, wie sie es für richtig halten. Schließlich denken sie, dass das die beste Art ist, einen Sohn zu erziehen. Meine Eltern lieben mich und meinen es gut mit mir, doch auf eine Art und Weise, die mir schwer zusetzt. Ich komme nicht damit klar, wie sie sich mir gegenüber verhalten und was sie tun und was nicht. Zum Beispiel schnürt sich mir der Hals zu, wenn mir meine Mutter davon erzählt, was sie meiner „Aussteuer“ hinzugefügt hat. (Als Aussteuer bezeichnet man beispielsweise Gegenstände, die mit in die Ehe genommen werden.) Sie tut das aus Liebe zu mir, doch dass ich homosexuell bin und somit eine Ehe nach ihren Vorstellungen nicht in Frage kommt, weiß sie nicht. Es würde ihr das Herz brechen, würde sie davon erfahren, denn sie gibt sich soviel Mühe dabei, mir eine möglichst wundervolle Aussteuer bieten zu können. Mein Vater zum Beispiel träumt davon, dass er eines Tages mal ein Haus besitzen wird, indem er mit meiner Mutter im Dachgeschoss wohnt und ich und mein Bruder die jeweils anderen beiden Stockwerke mit unseren Familien besiedeln. Er malt sich das aus, wieder und wieder, und erklärt mir dann, dass er sich umentschieden hat und sich statt eines Apfelbaumes einen Kirschbaum wünscht. In all diesen Träumen fehlt die Wahrheit, die meine ist. ICH werde nicht in dieses System und auch nicht in die verwirklichten Träume passen, denn ich bin ein Sonderfall, in ihren Augen eine Schande: ich glaube nicht an Gott und bin zudem schwul, verachte das Patriarchat und dessen Konzept und finde keinen Gefallen daran, mich wegen eines Buches in meiner persönlichen Entfaltung einschränken zu müssen. (Wobei mich eher die Kultur und Tradition einschränkt, als der Koran.) Als ich mit 12 oder 13 Jahren für sechs Wochen in eine Koranschule geschickt wurde, damit die eventuelle Homosexualität aus meinem Gehirn gewaschen wird, habe ich verstanden, dass mich das System nicht als Mitglied haben will, weil ich, wie ich es bin, das System in Frage stelle. Ich hasse meine Familie nicht, doch meine Familie würde mich hassen, wüsste sie die Wahrheit. Denn das System, die Gesellschaft, in der sie leben, schreibt ihnen vor, dass sie mich zu hassen haben. — „Wenn sie sich entscheiden müssen, wenn sie wählen müssen, zwischen dir und der Gesellschaft, sie werden sich nicht für dich entscheiden.“ (Die Fremde) — Ich empfehle JEDEM, der sich auch nur im Ansatz für türkische Familienstrukturen interessiert, sich den Film „Die Fremde“ anzusehen. Dieser Film ist von Anfang bis Ende WAHR, nichts darin ist übertrieben oder abgeschwächt dargestellt. Darin kann man sehr gut sehen, zu was das System fähig ist, wenn es sich in seiner Ehre und Würde bedroht sieht. Seht euch diesen Film an! Er ist der einzige seiner Art, der meine Noch-Wirklichkeit zeigt, wie sie ist. Sicher werdet ihr nicht glauben können, was ihr dort seht, doch ich versichere euch: es stimmt mit der Wahrheit überein und könnte mir genauso passieren wie hunderttausend anderen Türken und Türkinnen auch.


Frage:

Wann wirst du deinen Eltern sagen dass du schwul bist?

Antwort:

Ich habe nicht vor, es meinen Eltern zu sagen. Ich erachte das Outing bei ihnen als sinnlos. Wenn sie es wissen wollen, können sie mich ja fragen, doch von mir aus werde ich nichts sagen. Und solange es sich vermeiden lässt, werde ich mich bei ihnen nicht outen. Meinen zwei besten Freunden hingegen, Jes und Bene, habe ich es gesagt. Ich wollte, dass sie es wissen.


Frage:

Du erachtest das Outing als sinnlos? Oder willst du einfach keine Konfrontation, da ich jetzt mal (basierend auf deinen Erzählung von deiner Familie) glaube, dass sie unschön/aggressiv reagieren würden.

Antwort:

Genau, ich möchte Auseinandersetzungen aus dem Weg gehen, da meine Eltern vorerst sowieso nicht verstehen werden, warum ich so bin, wie ich bin. Ich fühle mich außerdem noch nicht stark genug, um mich bei ihnen outen zu können. Es lässt sich noch vermeiden, also werde ich es vermeiden. Und wenn es ‚rauskommt, müssen sie mich ansprechen. Auf diesen Tag werde ich warten und mir Prügel, Schläge und eventuell auch den Ehrenmord ersparen.


Frage:

Hey, wie sind denn deine Erfahrungen mit flittern auf twitter?

Antwort:

Hihihi. Da fragst du den Richtigen! Ich habe meinen Freund via Twitter kennengelernt. Ich denke, dass man auf Twitter Menschen auf einer besonderen Ebene kennenlernt; auf eine ehrliche, tolle Art. Dadurch, dass die Timeline öffentlich ist und jeder, man selbst und der (potenzielle) Partner, in die Runde spricht, entsteht ein großes Vertrauen zueinander, da man weiß, wie sich welche Person zu Anderen verhält, wie diese und jene Person die Möglichkeiten Twitters nutzt und wozu und so weiter. Auf Twitter kann sich das ganze Spektrum eines Charakters ausbreiten. Man lernt Menschen viel „breiter“, „satter“ und „voller“ kennen. Auch, wenn die Timeline einer großen Party gleicht, jeder vor sich hin brabbelt und viel gechattet und geschrieben wird, geht die Konzentration auf Einzelne nicht verloren. Twitter ist nicht so „laut“ wie eine Party, nicht so „grell“. Twitter ist sanft und süß und lustig, und das sind doch gute Voraussetzungen, um jemanden kennenzulernen!


Frage:

Wusstest du schon vor deiner Beziehung, dass es ein Held sein wird und keine Heldin?

Antwort:

Im Alter von neun Jahren wurde meine Sexualität aktiviert. Es begann eine Zeit, in der Dinge wuchsen und sich Interessen entwickelten, in welcher Hormone in Massen durch meine Adern rauschten. Ich entdeckte meinen Körper und fand recht schnell heraus, was man mit dem Ding zwischen den Beinen so alles machen konnte. Und ich mochte, was man damit machen konnte, denn es bereitete mir Freude. Wie alle Jugendlichen in dem Alter (12 oder so) las auch ich die Bravo und sah mir die nackten Körper in der Dr. Sommer-Rubik an. Doch mit der Zeit interessierte ich mich immer weniger für die Mädchen, denn diese empfand ich bald schon als „langweilig“ und „fremd“. Ich sah mir viel lieber die Jungs an, und wie deren Körper geformt und bestückt war. Mich interessierte, welche äußerlichen Merkmale die Genitalien anderer Jungen hatten, und was sie dazu sagten. Bald wurde mir klar, dass ich mich eher für Jungs als für Mädchen interessierte. Doch das konnte man natürlich keinem sagen, vor allem ich nicht als Sohn, der aus türkischen Hause kommt und in dessen Familie Kultur und Islam eine wichtige Rolle spielen. ‚Ne Zeit lang sagte ich mir selbst, dass ich bisexuell sei, doch das war nur eine Scheinbehauptung, die ich mir aus „Gewissensgründen“ auferlegt hatte. Letztes Jahr habe ich viel nachgedacht und ein paar Updates in meinen Kopf eingespielt. Die größte Neuerung war, dass ich mir eingestehen konnte, dass ich homosexuell bin. Ich wusste also sehr genau, dass es ein Held und keine Heldin sein würde.


Frage:

Wenn du es könntest, würdest du gern unsterblich sein? Begründung.

Antwort:

Ich stelle mir Unsterblichkeit sehr schrecklich vor. Was wäre das für ein trostloses, sinnloses Leben, wenn am Ende keine Pointe, nicht der Tod steht? Ich wüsste nicht, was ich mit all der Zeit und mit all den Möglichkeiten anfangen sollte; das überfordert mich ja jetzt schon! Nein, ich möchte auf gar keinen Fall unsterblich sein. Ich glaube, dass man in der Unsterblichkeit sehr schnell den Sinn für Feinheiten und für das Besondere im Leben verlieren würde. Alles wäre irgendwie bekannt und würde gleich schmecken. Abläufe würden sich ständig wiederholen, eine unendliche Langeweile würde sich in mir ausbreiten. Gerechtigkeit, der Glaube an Wunder, Wissen, all das würde an Bedeutung verlieren. Die KOSTBARKEIT eines Lebens würde verblassen und nur noch dann durchscheinen, wenn man versucht, sich selbst das Leben zu nehmen.

Nein, für mich bitte keine Unsterblichkeit.


Frage:

Wenn du dich entscheiden müsstest: aufs Herz hören oder auf den Kopf?

Antwort:

In ihrem Song „İki Gözüm“ verleiht Sezen Aksu den Worten „Gönül ektiğini biçer“ ihre Stimme. Dieser Satz, welcher soviel bedeutet wie „Das Herz erntet, was es zum Einsatz bringt“, ist so endgültig und vollkommen, dass jeder weitere Satz überflüssig erscheint, der versucht zu erklären, dass man auf den Kopf hören sollte.


Frage:

Wie fühlst du dich, wenn du ein “Nein” als Antwort erhältst?

Antwort:

Ich habe schon viele Neins in meinem Leben als Antwort erhalten und bin es mittlerweile gewohnt, damit umzugehen. Doch manchmal trifft mich ein Nein so stark, dass ich für ein paar Stunden unfähig bin, damit umgehen zu können. Das kommt selten vor, ist aber sehr schrecklich für mich, weil ich dann die Kontrolle verliere und zertrümmert bin. Letzte Woche ist mir so ein Nein passiert und ich habe sehr heftig geweint; geweint um alles, was war, hätte sein können und vielleicht nicht sein wird. Jetzt, Tage später, weiß ich, was ich tun muss, um dieses Nein zu kompensieren. Hoffentlich klappt’s. Und falls es nicht klappen sollte: es gibt viele Wege und Alternativen.


Der freie Fall.

29. Juni 2011

Seit Wochen schon träume ich, dass ich falle. Irgendwo hinein, irgendwo herab. Mal ist es ein dunkler Brunnen ohne Grund, mal eine Brücke über dem Meer. Manchmal stürze ich aus den Wolken, sehe Nebel unter mir und die Lichter einer Stadt; manchmal falle ich einfach nur vom Bahnsteig auf das Gleis. Doch zu Boden komme ich nie. Ich erreiche nie den Grund des Brunnens, schlage nie auf dem dunklen Meer oder den rostigen Schienen auf. Lande nie auf der Baumkrone einer alten Eiche. Ich schwebe einfach nur in der Luft, als wäre ich dort gefangen.

Ich kann mir diese Träume kaum merken, und am wenigsten kann ich sie mir erklären. Ich weiß nur, dass ich sie ab dem Nullpunkt nicht mehr hatte, und dass sie erst dann wieder zu mir fanden, als ich im Hause meiner Eltern schlief.

Ich würde gerne wieder etwas träumen, das mir keinen bitteren Nachgeschmack und eine Hand voll Grübelstoff hinterlässt. Etwas Schönes, das mich lächeln lässt, das mir Mut macht, mich stärkt.


Ohne Titel.

31. Mai 2011

Das Licht der Straßenlaterne scheint matt durch die weit geöffnete Fensterfront. Der Tag ist vor wenigen Stunden erloschen und nun legt die Nacht ihre beruhigende Stille über das Dorf, dessen kühles Rauschen mich an das Telefonat erinnert, welches ich mittags geführt habe. Das Rauschen der Leitung ist wie das Rauschen in meinem Kopf. Die Wanduhr tickt leise im Sekundentakt und die Zeit rinnt mit jedem Herzschlag ein bisschen schneller durch meine Blutbahnen. Bald werde ich den Nullpunkt erreicht haben.

Die schwere Bettdecke, die ich einst brauchte, um in den Schlaf gedrückt zu werden, lehnt schon seit Tagen an der kalten Wand und beherbergt all jene Sorgen und Ängste, welche in den letzten Monaten in Form von Schweiß und Tränen aus mir gewichen sind. Ich fürchte mich davor, sie auf mich zu nehmen, und so ziehe ich das seidene Licht der Straßenbeleuchtung auf mich und verzichte auf die schwere Bettdecke, in dessen Bezug ich einen großen Teil meines Wesens erkenne. Meine Hände ruhen müde auf meinem Schoß und leuchten schützend im Orange der Straßenlaterne; mein Bauch hebt und senkt sich mit jedem Atemzug. Ich schaue an die Holzdecke und sehe in meinen Sternenhimmel, der aus Kiefernholz besteht. Jede Maserung des Jahrzehnte alten Holzes hat ihre eigene Bedeutung, bildet mit anderen Flecken und Schatten ein Sternenbild, ein Netz der Erinnerung. Über mir ruhen die letzten sieben Jahre; still, stumm und leise.

Als ich frierend aufwache, draußen tiefschwarze Nacht, kein Licht, kein anbrechender Tag, ziehe ich die Decke doch auf mich und denke: solange ich sie am Morgen wieder ablegen kann, ist alles okay.


Samstag.

29. Mai 2011

Einige der eintreffenden Hochzeitsgäste erblicken meine Mutter und begrüßen sie, reden mit ihr über Dies und Jenes und dann über mich in der dritten Person. „Und, hat er denn schon eine Freundin? Er ist ja schließlich groß gewachsen und bald an der Reihe!“ Ich stehe oder sitze fassungslos daneben und rege mich darüber auf, dass nicht ich, sondern meine Mutter gefragt wird; als ob sie meine Verwaltungs- und Auskunftsstelle und ich ein Mensch wäre, der nicht sprechen kann.
Jeder, der solche Situationen kennt, kann nachvollziehen, wie deprimierend das sein kann. Wie deprimierend es für mich ist. Ich ertrage es nicht, dass meine Mutter Unmengen an Geld in Aussteuer verschwendet und sich ausmalt, wie toll doch meine Hochzeit werden soll, wen sie einladen würde und wen nicht, was sie ihrer Schwiegertochter schenken würde. Denn all das wird es nicht geben. Als Sohn bin ich ein Verlustgeschäft.

Türkische Verlobungen bzw. Hochzeiten funktionieren so: man pinnt dem Paar mit einer Sicherheitsnadel Geld (mindestens 50 Euro, alles darunter ist ein Zeichen dafür, dass man das Paar nicht mag) oder Gold (ein Goldstück von hoher Reinheit, welches mindestens ein Gramm wiegen sollte) an, damit man später, bei der Verlobung bzw. Hochzeit der eigenen Kinder, das Verschenke wieder zurück geschenkt bekommt. Es ist also eine Art Geben und Zurückbekommen, nur dass darüber im wahrsten Sinne des Wortes Buch geführt wird. Auf einem Blatt Papier steht dann zum Beispiel, was man wem in welchem Zusammenhang geschenkt hat.
Die Schenkungszeremonie läuft so ab: die Gäste werden nach ein paar Stunden Tanz, Feiern und Essen dazu aufgefordert, eine Reihe zu bilden und das Paar zu beschenken. Mein Vater als Familienoberhaupt stellt sich also in die Reihe und übergibt das Geschenk, welches dann laut per Mikrophon von einem Mann kommentiert wird. „100 Euro von Familie […].“ Jeder im Saal kann hören, wer was verschenkt. Es findet also eine Art Wettbewerb statt: wer hat wie viel und wer am meisten verschenkt, wer ist zur Zeit gut bei Kasse?

Auf derlei Ereignisse werden aus zwei einfachen Gründen so viele Menschen eingeladen: erstens, damit der Wert und das Ansehen des heiratenden Paares steigt, zweitens, damit die Gäste sehen können, wen sie auf ihre eigene Feierlichkeit einladen sollten.
Natürlich hat man auch Spaß auf so einem Ereignis, doch das ist in meinen Augen nur Fassade. Es geht um die Geschenke, nicht um den Spaß, nicht um die schöne Zeit miteinander, die man haben kann. Für mich ist das Folter.

Unsere und auch die Familie meines Onkels, wir werden so gut wie zu jeder Verlobung bzw. Hochzeit im Umkreis eingeladen, da mein Großvater ein bekannter und geschätzter Mann war. Und natürlich nehmen wir an allen Veranstaltungen teil, damit unsere eigenen gut besucht werden. Deshalb werde ich auch immer mitgeschleift; ich muss nett sein und eine gute Figur machen. Ich soll lernen, wie das alles abläuft, mir die Gesichter und die Bräuche merken.
Doch das will ich nicht, denn ich werde nicht heiraten; zumindest nicht so, wie es sich meine Eltern und auch alle Anderen vorstellen, sollte ich überhaupt jemals heiraten. Ich habe in den letzten zwei Jahren herausgefunden, dass ich auf Männer stehe, und dass sich dieser Zustand weder mit Familie, noch mit der Religion der Familie vereinbaren lässt.

Das ganze Geld und Gold, das meine Eltern in dem Glauben, sie würden es auf meiner Verlobung und Hochzeit wiederbekommen, verschenkt haben und auch weiterhin verschenken werden, all das werden sie nie wieder sehen. Als Sohn werde ich eine große Enttäuschung für Familie und Verwandtschaft sein. Eine Schande, etwas Schlechtes, das es auszurotten und zu vergessen gilt. Meine Eltern werden sich entwürdigt fühlen und verletzt sein, sollten sie je die Wahrheit erfahren. Und das ist das Schlimmste: ich möchte nicht, dass sie meinetwegen leiden, doch einen Ausweg gibt es nicht. Entweder, ich gehe meinen Weg, oder ich gehe den Weg, der mir vorgegeben wird. Welchen Weg ich schon längst eingeschlagen habe, ist mehr als deutlich.

Es ist so unheimlich deprimierend, dass ich diese Folter durchleiden muss, dass ich ständig zu hören bekomme, wie das denn bei mir sein würde, wann ich vorhätte, zu heiraten, wie viele Kinder ich haben möchte, welche Musik auf meiner Hochzeit spielen soll. Das raubt mir alle Kraft und Freude, und es fällt mir schwer, zu lächeln. Manchmal denke ich, dass ich das Lachen verlernt habe.

Ich fühle mich so sehr eingeengt und unter Druck gesetzt, dass ich Angst davor habe, unter all der Last zusammen zu brechen. Was auf mir lastet ist nicht zu ertragen und der einzige Weg in die Freiheit ist, es zu durchleiden. Und mit jedem Wochenende, mit jeder Verlobung und Hochzeit gewinnt die Bürde an Wucht.
Gestern lag ich zehn Minuten weinend auf dem Dachbodens des Gemeindehauses, in welchem die Verlobung eines Verwandten stattfand. Von Unten schlug sich der basslastige Sound der Musik in meinen Schädel und von Oben drückte mich die Welt nieder.

http://twitter.com/#!/Heartcore/status/74622068058095616

Manchmal frage ich mich, ob ich nicht zu fühlend bin, ob ich nicht härter werden sollte. Und immer muss ich an diesen Satz denken:

„Man muß härter werden,“ sage ich, und Frau Engel antwortet: „nein, weicher. Weicher.“


Verpflegung inklusive.

29. Mai 2011

Ich sage Guten Morgen! und stelle meine Saftflasche auf den Tisch, packe Bonbons, Aspirin und diverse Schreib- und Zeicheninstrumente für die Prüfung aus und schaue auf meine Hände, als David plötzlich meinen Oberarm umfasst und mit einem erschreckend freundlichen Psychoblick sagt: „Guten Morgen, Heartcore! Ich brauch‘ dich, kann ich dich buchen?!“

Erst begreife ich nicht, was er mir zu sagen versucht, doch als es Klick! macht in meinem Köpfchen, sagt er, bevor ich ein Wort der Nachfrage sprechen kann: „Weißt ja, mein MacBook ist so lahm. Und da wollte ich dich fragen, ob du nicht mal Lust hast, zu mir nach Hause zu kommen. Wir könnten das Ding wieder auf Vordermann bringen, Filme schauen und reden. Ich wollte eh schon immer mal etwas mit dir unternehmen! Verpflegung inklusive!“

Ich schlucke und versuche den Schock zu verkraften, und weil ich kipple, falle ich fast vom Stuhl. Gerade so noch kann ich mein Gleichgewicht halten und Ja, klar! sagen, während ich WAS, WIE JETZT?! denke. David, der nun lacht, tätschelt mir den Kopf und gibt von sich: „Ganz ruhig, Heartcore! So schlimm wird’s schon nicht werden!“


Ich finde es erstaunlich, dass David auf mich zu gekommen ist und mich zu sich nach Hause (!) eingeladen hat, mir also zuvor gekommen und den ersten Schritt in Richtung Kontakt halten gegangen ist. Als hätte er das Blog hier gelesen; was mit Sicherheit nicht sein kann.
Freut mich sehr, dass es ihm nicht nur um den Computer-Support geht, sondern auch darum, dass wir Zeit miteinander verbringen, reden. Wie Zwei, die vielleicht ja doch Freunde werden.


Sagenhafter Zufall.

28. Mai 2011

Der Blick meines Vaters, als der kleine, süße Sohn des Gastes, vielleicht drei, vier Jahre alt, auf die Frage, wen er denn im Kindergarten am meisten liebe, mit Florian! antwortet.

Der Sprung meines Herzens, als der kleine Sohn lächelnd und selbstbewusst seine Antwort wiederholt.


Wirbelsäule.

24. Mai 2011

Mein Gedächtnis ist eine der Eigenschaften an mir, die ich sehr mag, denn ich kann mich sehr gut an alles Mögliche erinnern und mir sehr leicht Dinge und Erlebnisse merken. Vokabeln zum Beispiel lerne ich immer am Tag des Vokabeltests im Bus, indem ich sie zweimal lese. So geht es mir auch mit Textabschnitten in Büchern und in Blogs, mit Tweets und auch mit gesprochenen Inhalten. Am besten kann ich mir Musikstücke und die Texte dazu einprägen.
Manche Menschen finden diese Eigenschaft sehr unheimlich, andere beneiden mich dafür. Ich mag diese Eigenschaft, denn was mir lieb und teuer ist, das ist sicher in mir aufbewahrt. (Und leider auch das Gegenteil davon.)

Es müsste 2001 gewesen sein, als der Hausarzt unseres alten Wohnortes bemerkte, dass etwas mit meiner Wirbelsäule nicht stimmt. An dieses Ereignis kann ich mich noch sehr genau erinnern; ich weiß, dass der Arzt sagte, meine Knochen seien verrückt. Meine Mutter war während der Untersuchung im Raum und hat für mich einen Überweisungsschein zum Orthopäden bekommen. Als Belohnung dafür, dass ich die Untersuchung tapfer durchgestanden habe, durfte ich mir etwas aus der Du warst tapfer und nun darfst du dir ein Geschenk aussuchen!-Box greifen. Mein Geschenk war ein Schlüsselanhänger in Form eines Skelettes.

Dieses Ereignis ist als bedeutend in meinem Gedächtnis verzeichnet, denn seit Jahren schon plagen mich Rückenschmerzen, weil meine Wirbelsäule noch immer verrückt ist. Meine Eltern sind nicht mit mir zum Orthopäden gegangen, weil sie der Meinung waren, dass die zu verschreibende Krankengymnastik etwas für Kranke und nicht für ihren Sohn sei. So blieb das dann…

…bis ich 2010 selbst an meine Gesundheit denken konnte und zum Orthopäden gegangen bin. Leider viel zu spät. Der Orthopäde sagte, dass meine Knochen ihre Wachstumsphase hinter sich hätten und sich an meiner verrückten Wirbelsäule nichts mehr richten ließe. Meine einzige Chance gegen die Rückenschmerzen sei der Aufbau einer guten Rückenmuskulatur mittels Schwimmen, Krafttraining und Fitnessstudio.
Das waren keine guten Nachrichten. Zurück vom Arzt und am Esstisch erzählte ich davon und mir wurde gesagt, die Rückenschmerzen würden daher kommen, dass ich kaum mein Zimmer verlassen, dem Vater nicht beim Handwerk helfen und nicht unter Menschen gehen würde. Was durchaus sein kann, aber nicht stimmt. Es liegt an meiner Wirbelsäule.

Seitdem ich einen Grund habe, versuche ich regelmäßig schwimmen zu gehen, wie man hier manchmal lesen kann. Ich mag das sogar, es gibt mir Ruhe und Frieden. Doch in den letzten Monaten hatte ich weder Lust, noch die Kraft für Regelmäßigkeit. Ich habe das Schwimmen vernachlässigt. Und das hat sich am Montag in sehr starken Rücken- und Schulterblattschmerzen geäußert; ausgerechnet einen Tag vor der zweiten Prüfungswoche.
Morgens bin ich sehr verspannt und von Schmerzen durchsetzt aufgewacht, und wusste mir nicht zu helfen. Ich habe ein paar Aspirin eingenommen und bin sehr heiß duschen gegangen, doch geholfen hat das wenig. Erst mittags habe ich Entspannung verspürt; Reizstromtherapie beim Hausarzt. Jetzt muss ich fünf Tage lang in die Praxis, um diese Woche schmerzfrei meine Prüfungen schreiben zu können.

Vielmehr als mein Rücken schmerzt mich die Tatsache, dass sich an diesem Zustand nichts mehr wird ändern lassen. Einzig der große Aufwand eines Muskeltrainings kann mir noch helfen; und das auch nur solange, wie ich die Muskeln zu behalten weiß. Das ist nichts Schlechtes, doch wäre das nicht nötig gewesen, hätten meine Eltern an mich und nicht daran gedacht, wie es wohl bei Anderen ankommen würde, wenn ihr Sohn in die Krankengymnastik geht. Meine Wirbelsäule wird sich nie wieder reparieren lassen und mit dieser Schwachstelle muss ich nun ein Leben lang leben.

Ich wurde heute sehr wütend, als dieser Satz fiel: „Stimmt doch gar nicht! Wir waren nie deshalb beim Hausarzt, das bildest du dir nur ein, wie alles andere auch! Nur du trägst Schuld an deinen Rückenschmerzen! Du gehst ja auch nie ‚raus! Also beschwer‘ dich gefälligst bei dir!“
Mir wird also meine liebste Eigenschaft abgesprochen, und es wird behauptet, dass ich mich irre bzw. dass ich lüge! Und obwohl ich vorhin mit Reizstrom behandelt wurde, habe ich jetzt wieder Rückenschmerzen wie am Montagmorgen. Ich glaube, die Wut auf meine Eltern und die Wut auf mich, beides strahlt auf meinen Rücken ab.

Und so liege ich hier, zwischen Hass, Wut und Verzweiflung, eingeengt von Leid, Vorwürfen und einem Leben, das ich nicht gerne lebe, und denke an den berühmten Satz des Schriftstellers Jonathan Safran Foer, während ich nirgendwo lieber wäre, als bei dem Träger meines Herzens; als dort, wo ich für das geliebt werde, was ich bin.

Sometimes I can hear my bones straining under the weight of all the lives I’m not living.

Mit diesem Satz ist alles gesagt.

Die Wirbelsäule des Heartcore, 2010.

(Ja, das ist meine Wirbelsäule.)


29:17:58:52.

20. Mai 2011

Ich komm‘ einfach nicht mit dem Gedanken klar, dass es nicht ist, wie sein sollte: ich bei dir, physisch. Diese Ferne tut mir jetzt schon sehr weh, und auch wenn wir nie wieder so fern sein werden wie jetzt, bleiben wir das. Ich habe eine sehr große Angst davor, dich auf dem Weg in meine Freiheit als Partner zu verlieren. Dass du es nicht mehr aushältst, dass es zu Ende ist, bevor wir es miteinander ausleben können, nicht nur fünf und ein paar noch unbestimmte Tage lang. Mir geht es wie dir, mit dem Denken, Träumen usw. und es freut mich zu hören, dass du mich „anders, tiefer und breiter“ liebst, es lässt mich lächeln. Du wirst nicht „verschwinden“, das weiß ich. Und dennoch habe ich Angst. Gestern hatte ich diese Angst nicht, gestern war alles gut und ich hatte keine Sorgen. Doch jetzt, wieder einen Tag in diesem „RL“ und alles ist stärker als zuvor. Ich sehe die Zeit hier in diesem RL als Verschwendung an und würde diese Zeit gerne bei dir sein, etwas Tolles, Schönes und Erfüllendes erleben, anstatt nur die Tage zu zählen.


Die Eule und der Durst.

19. Mai 2011

Als ich sie umarme, drückt sie mich fest an sich und streichelt mir den Rücken, während mein Kopf auf ihrer Schulter ruht. Ich schließe meine Augen und atme den zarten Duft ihres Nackens ein und verspüre eine starke Gänsehaut, die um ein Vielfaches an Kraft gewinnt, als er mich von hinten umarmt und uns Beide in Sicherheit und Liebe wiegt. Umschlossen von starken Armen und zwischen zwei schlagenden Herzen denke ich an den Satz, der bis zuletzt mein Leben beschrieb — Alles fesselt mich und nichts hält mich — und fühle mich so frei und leicht wie noch nie zuvor; trage weder Last, noch Sorge in mir. Ich glaube zu schweben und weiß, dass Glück sich genau so anfühlen muss.

Ich küsse sie auf die Stirn und ihn auf die Wange.

Genau einen Tag später, also jetzt, vermisse ich dieses Hochgefühl, diesen großen Moment des Glückes so sehr, dass ich wieder in das alte Muster zurückfalle und mich in die Arme der Traurigkeit flüchte.

Alles fesselt mich und nichts hält mich.


Crushdiät.

17. Mai 2011

In weniger als einem Monat wird die letzte Prüfung geschrieben und meine Schulzeit offiziell zu Ende sein. Zwei Schuljahre, eine Depression und ein Klassenzimmer voller Idioten werden als Vergangenheit in meiner Erinnerung verweilen; zwei Schuljahre, die mich eine Menge an Kraft, viel Zeit und ein paar Freundschaften gekostet haben.

Ich habe in diesen zwei Jahren viel verloren, doch ist das Verlorene winzig neben all dem, was ich gewonnen habe. Und nein, in dieser Schule habe ich nichts für’s Leben gelernt. Alles, was ich in den zwei Jahren per Definition für’s Leben hätte lernen sollen, habe ich mir selbst beigebracht bzw. wurde mir von den Leuten vermittelt, denen ich glücklicherweise dort begegnet bin, wo ich sein kann, wer ich bin: hier im Internet.

Zwei Freunde habe ich in den zwei Jahren für mich gewonnen: Jes, das expressive Frauenwunder, und Bene, den klugen Sportler, der gleichzeitig der Jüngste in der Klasse ist. Mein Verhältnis zum Rest des Klassenverbandes ist eher bescheiden: ich bin freundlich, doch habe ich kein Interesse an ihnen.

Wobei… morgen wird mir David ein letztes Mal nahe sein, denn morgen ist der letzte normale Schultag vor den Prüfungen. Ich werde David und seinen Körper nie wieder bewundern, ihn nie wieder riechen und fühlen können. Diese Zeiten sind vorbei.

Am ersten Schultag habe ich mich von meinem Begehren leiten lassen und bin David gefolgt, nachdem verkündet wurde, dass ich mit ihm und ein paar Anderen eine Klasse bilden werde. David war der erste Mann, der mich schlagartig glühend machte, und ich weiß noch, wie stark die Erektion damals war, als ich ihn das erste Mal sah. Ich folgte meinem Begehren und wurde sein Sitznachbar.
In den folgenden zwei Jahren hat sich zwischen uns wenig verändert. Er ist nun 23, ich bin 18 geworden. Er ist schon immer zurückhaltend, klug und reif gewesen, ich lerne das zu sein. Anfangs rauchte er noch, jetzt raucht nicht mehr. (Ich weiß nicht, ob das etwas mit seiner sehr ernst gemeinten Frage zu tun hat, ob es mich störe, dass er raucht. Ich sagte, ich sei nicht so sehr erfreut davon.)

Und verdammt, David sieht noch immer unfassbar gut aus, auch ohne dass er so athletisch ist wie damals. Knuffig ist er geworden und wohlbeleibt, trägt einen leichten Bauch mit sich. Und bis heute ist mir kein Mann begegnet, an dem ein Vollbart so schön und so gepflegt aussieht wie bei David. Er ist noch immer wie Jake Gyllenhaal in tausend Mal schöner und begehrenswerter, und ich könnte hier noch stundenlang schwärmen und ihn und seinen Körper beschreiben, doch was letztlich zählt, ist: In diesen zwei Jahren hatte ich nie ein enges Verhältnis zu ihm. Wir waren mehr Kumpels als Freunde; wir haben nie über das gesprochen, was ich mit ihm gerne gesprochen hätte. Ich habe oft versucht und versuche es noch immer, ihm auf selber Augenhöhe entgegen zu treten; manchmal waren wir das, manchmal nicht. In seiner Gegenwart wurde ich still; David liebt die Ruhe und so wollte ich ihm ein ruhiger Sitznachbar sein. (Und ihn ganz still beobachten.)

Ich bereue aber, in Sachen Freundschaft nie auf ihn zu gegangen zu sein, weil ich es nicht konnte. Natürlich haben wir oft und täglich gesprochen, doch zumeist waren das leere Gespräche ohne wirklichen Inhalt. Mir ist bewusst, dass David nicht auf Männer steht und bereits verlobt ist, doch hätte ich ihn trotzdem gerne als Freund gewusst. Ich bereue es so sehr, ihn zwei Jahre lang nur still bewundert und angehimmelt zu haben; in der Zeit hätte ich ihm ein guter Freund sein können.

Es schmerzt, ihn gehen zu lassen. Mir werden all die Momente fehlen, in denen er mitfühlend war, reines Herz zeigte. Natürlich, er war schön anzusehen, doch nicht das macht ihn zu dem David, der er ist; sein Verstand und sein Verhalten, die Art, wie er beispielsweise spricht und sich auszudrücken weiß oder wie er mit mir umgeht, das zeichnet ihn aus. Sein Aussehen macht ihn lediglich attraktiver.

Ich bin nicht verliebt in David, doch dass ich noch immer einen Crush auf ihn habe, das kann ich nicht leugnen. Den Platz in meinem Herzen, den ich ihm gerne geschenkt hätte, habe ich an einen Anderen vergeben. Dennoch ist David der begehrenswerte Mann, der er schon immer war. Ich habe die Zeit neben ihm sehr genossen und denke, dass ich ein guter Sitznachbar für ihn gewesen bin.

Was ich am meisten vermissen werde, ist dieser milde Frieden, den sein Anblick in mir auslöste. Und dieses Lachen, wenn er mit hochgezogenen Augenbrauen und Stirnfalten zum Dahinschmelzen sagte, dass ich wieder einmal provokativ süß sei.

Mir stellt sich jetzt die Frage, was ich tun kann, um mit ihm in Kontakt zu bleiben. Tipps?


Lesetipp.

7. Mai 2011

frage“ von Frau engl.