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Die Welt steht Kopf.

29. August 2019

Ich war abends mit Thomas auf dem Dach der Grimmwelt, da kann man sehr gemütlich sitzen und auf die Stadt schauen. Wir laberten und laberten, irgendwann hatten wir Hunger und gingen paar Minuten zu einem Imbiss, bestellten was und haben uns raus auf die Straße gesetzt, weil es drinnen so heiß war.

Da kam so ein Typ gelaufen, oben ohne, er trug so eine weite Hose aus Patchwork, die ihm bis an die Waden reichten, weiß nicht genau wie die heißen. Er hatte so Barfußschuhe aus Leder. Seine dunkelblonden Haare waren etwas länger, sie waren teilweise zum Zopf gebunden. Er sah sehr freundlich und zufrieden aus. So mein Alter würde ich sagen.

Als er gerade in den Laden wollte, um zu bestellen, sagte ich: „Coole Schuhe. Sind das Barfußschuhe?“ Er so: „Ja, aber die sind doof. Gehen schnell kaputt.“ Er zeigte mir die Sohle, die schon aufgescheuert war, wo seine Haut zu sehen war. Thomas‘ und meine Bestellung war fertig, ich ging mit dem Mann in den Laden. Ich ließ ihn vor und er bestellte eine Pommes und quatschte kurz mit dem Verkäufer, fragte ihn wie es ihm geht. Der Verkäufer war ganz verblüfft. Nachdem ich bezahlt hatte, sah ich, dass der Typ auf der Straße Handstand und dabei so Yogazeug mit den Beinen machte. Er meinte dann zu mir, dass er es mit einer Hand noch nicht hinbekomme. „Wenn ich doch nur keine Angst hätte, hinzufallen, dann könnte ich es.“

Ich fragte ihn, ob er aus Kassel ist. Er sagte nein, er sei gerade hier, um Menschen zu helfen, heute sei er mit einer Freundin unterwegs gewesen. Da fragte ich, was er so macht im Leben. Er sagte, er lebe seit knapp drei Jahren nirgends, sei mal hier, mal da. Ich fragte, ob er bei der Freundin untergebracht sei. Nein, er lebe in seinem Auto. Es sei auch keine richtige Freundin, nur eine Bekannte.

Dann hab ich ihm von einem Freund erzählt. Dass dieser gerade nicht weiß, wohin mit sich, von dessen aktuellem Wohnort in einer Gemeinschaft, in der er sich nicht richtig wohl fühlt, dass er sich hier eine Kommune angeschaut hatte, von dessen Sehnsucht, völlig frei zu sein, autonom zu leben nur mit Sachen, die er auf seinen Schultern tragen kann.

Ich fragte den Mann vor mir, wie er entschieden hat, so zu leben. Was sein Rat an den Freund wäre. Er sagte, während Thomas und ich aßen, dass er eines Tages aufgewacht sei und nicht mehr leben wollte wie vorher. „Ich sehe die Menschen heute und wie sie immer unglücklich sind, das aber gar nicht merken. Schau‘ dich doch mal um, das alles war früher einmal eine Utopie und heute ist es Wirklichkeit. Wir leben in einer Utopie! Aber es stimmt etwas mit dieser Welt nicht.“ Dass er die Produktions- und Lebensweise hier seltsam finde. Dass es ein langer Weg für ihn war und immer noch sei. Dass er Phasen habe, da konsumiere er ganz viel, sei sesshaft, dann habe er wieder Phasen, da sei er Asket. Das sei so ein Hin und Her, das habe er einfach akzeptiert und seitdem sei er ganz froh. Es sei aber nicht einfach, und glücklich sei er auch nicht immer, doch kenne er die Gründe. Er genieße einfach die Schönheit, vor allem die Natur, er finde überall was Schönes. Dass er überall zu Hause sei, weil er zu sich selbst gefunden habe.

Ich solle den Freund von ihm grüßen. „Sag‘ ihm, dass wenn er in sich selbst ein Zuhause gefunden hat, dann kann er überall zu Hause sein. Dafür muss er nicht im Wald leben. Wo er wohnt ist egal. Ich hab für mich gelernt, dass ich nicht ganz alleine sein kann. Also helfe ich einfach, wo ich kann. So hab ich viele Menschen kennengelernt. Was ich brauche, generiere ich mir einfach. Ich wünsche mir etwas, und paar Tage später habe ich es.“

Dann war seine Pommes abholbereit und er hat uns guten Appetit gewünscht. Mit der Tüte in der Hand hat er Rad geschlagen und ist so über die Straße geradelt. Eine stark befahrene Hauptstraße. Und wie so ein Heiliger ist ihm nichts passiert und er war fort.

Ich wollte ihn eigentlich fragen, ob er für die Nacht eine Unterkunft braucht. Ich hab, glaub‘ ich, noch nie so einen Menschen getroffen. Er hat wirklich wie ein Heiliger auf mich gewirkt. Ich hätte noch so gerne mehr mit ihm gesprochen.

Nach ein paar Minuten ist dann Thomas zu seiner Tram und meine sollte später kommen. Ich hab in der Zeit das Auto des Mannes gesucht, es musste ja irgendwo geparkt sein, und in der Innenstadt gibt es nicht so viele Orte, wo das geht. Bin so um ein paar Blocks gelaufen. Ich hab ihn leider nicht gefunden.

Ich hab ihn nichtmal nach seinem Namen gefragt, ich war so fasziniert von ihm, von dem zufälligen Gespräch, von seiner Mimik. Wie kann ein Mensch nur so aussehen? Einfach heilig.

Schreiben. (23/42)

31. Mai 2017

Am Wochenende in Berlin – im Gespräch mit Glammy und seiner Nichte darüber, wie wir uns kennen gelernt haben, wie emotional aufgeladen und dramatisch das Jahr 2011 war, wie ich zu den Avataren in meiner Timeline nach und nach die Gesichter dahinter zu sehen bekam – eben da wurde mir bewusst, wie sehr mir das Schreiben fehlt.

Das Schreiben im Sinne von Aufschreiben, das Erlebte betrachten und reflektieren und in kleine bis große Texte packen, in kurzen wie langen Absätzen wiedergeben und in jedem Satz festhalten, dokumentieren und vorhalten – für mich, für Jetzt und auch für Später, für die Menschen, die bekannter- und unbekannterweise meine Gedanken verfolgen, meine Geschichten lesen. Das Leben, mein Erleben, auch nach Jahren noch greifbar und begreifbar machen; auch wenn ich selten bis nie nachlese, was ich einmal aufgeschrieben habe. Ich möchte nicht verstummen, nicht schon wieder, ich möchte schreiben und dichten und fragen, und dann auch einmal nichts sagen. Ich möchte mit meinen Fingern über die Tastatur gleiten, so wie jetzt, in einem Rutsch, und sichtbar machen, was ich denke, was ich fühle. Das Leben am Schopf packen und leise zu mir drehen, ihm in die Augen schauen, so lange, wie ich eben möchte.

Zwei Wochen zuvor in Frankfurt am Main, gemeinsam beim Karaoke mit Frau Fragmente und Frau Novemberregen, habe ich eine Sehnsucht verspürt, die ich nicht zuordnen konnte. Doch jetzt weiß ich, was es ist: Mein unbändiges Gefühlsgewusel, das entsteht, wenn ich die Gedanken und Worte nicht wenigstens in Schriftform aus meinem Kopf bekomme, weil ich zu viel mit anderen Dingen beschäftigt bin. Und ich bin schon viel zu lange mit anderen Dingen beschäftigt.

Es ist wieder an der Zeit zu schreiben. Wenigstens, um die Zahl dort oben zu vervollständigen, um das Ziel von vor zwei Jahren endlich zu erreichen. Besser spät als nie.

Festhalten und leben.

20. Juni 2012

Heute hatte ich den bisher anrührendsten Moment meines Lebens.

Einer Frau ist in der 24. Schwangerschaftswoche die Fruchtblase geplatzt, Kind muss per Not-Kaiserschnitt gerettet werden. Der Fötus ist so groß wie meine Hand; der Junge ist so winzig klein, ich habe so etwas noch nie gesehen. Bei derartigen Eingriffen ist keine Zeit für eine anständige Narkose da, zu kurz ist die Spanne zwischen Leben und Tod. Der Kaiserschnitt wird bei fast vollem Bewusstsein und Schmerzempfinden der Frau durchgeführt. Ich höre die Frau im OP-Saal wimmern, während im Nebensaal, in dem auch ich mich befinde, versucht wird, das kleine Wesen am Leben zu halten. Erst sieht die Lage sehr schlecht aus, der winzige Junge will oder kann nicht atmen, seine Lunge scheint nur teilweise entwickelt zu sein. Dann steigt der Sauerstoffwert im Blut langsam an, die bläuliche Färbung geht zurück, das Kind hat wieder mehr Rot als Blau auf der Haut. Nach der Intubation wird es von einer Maschine beatmet und bekommt vom Arzt sogenanntes Surfactant, das die Entwicklung der Lunge unterstützen soll. Als die Lage stabil und das Team entspannter ist, wage ich mich in die Nähe des Kleinen, bisher habe ich nur zugesehen. Ich schaue mir ganz genau die Haut an, erkenne fast unsichtbare Härchen; die Finger und Zehen sind beinahe durchsichtig, die Knochen und Knorpel trüb, aber nicht einmal im Ansatz weiß; der Schädel ist weich und wie aus Gummi, leichter Flaum. Ich bekomme ein Mützchen gereicht, dieses ziehe ich sehr vorsichtig über den Kopf des Jungen. Ich reiche ihm anschließend meinen kleinen Finger, er bewegt seine eigenen schon ganz fleißig, und plötzlich hat er meinen Finger fest in seiner klitzekleinen Hand; nun, so fest, wie es ein Fötus in der 24. Woche eben kann. Dieser Moment rührt mich sehr, dieser Junge hält sich fest an mir.

Der Junge kommt auf die Intensivstation, die Mutter in den Aufwachraum. Erst hier bekommt sie schmerzausschaltende und entspannende Substanzen. Sie weint leise vor sich hin, bald wird sie nicht mehr weinen und danach wird sie schlafen. Ich warte den richtigen Moment ab, der Anästhesist ist fertig und zeichnet irgendwelche Werte auf. Ich beuge mich vor zu ihr, nehme meinen ganzen Mut zusammen und sage: „Ihr Junge hat sich an diesem Finger festgehalten, sehen Sie mal!“ Sie blickt auf meinen kleinen Finger, den ich hochstecke, weint noch immer. „Er hat sich am Leben festgehalten.“ Ich streiche ihr mit dem kleinen Finger Tränen aus dem Augenwinkel, die Narkose wirkt bereits, sie wimmert nur noch. Ich streichle sie so lange, bis sie eingeschlafen ist. Dann kommen mir selbst die Tränen.

Der Anästhesist legt seine Hände auf meine Schultern und flüstert: „Das hast du schön gesagt.“ Ich lächle und wische mir Tränen aus den Augen.

Wirbelsäule.

24. Mai 2011

Mein Gedächtnis ist eine der Eigenschaften an mir, die ich sehr mag, denn ich kann mich sehr gut an alles Mögliche erinnern und mir sehr leicht Dinge und Erlebnisse merken. Vokabeln zum Beispiel lerne ich immer am Tag des Vokabeltests im Bus, indem ich sie zweimal lese. So geht es mir auch mit Textabschnitten in Büchern und in Blogs, mit Tweets und auch mit gesprochenen Inhalten. Am besten kann ich mir Musikstücke und die Texte dazu einprägen.
Manche Menschen finden diese Eigenschaft sehr unheimlich, andere beneiden mich dafür. Ich mag diese Eigenschaft, denn was mir lieb und teuer ist, das ist sicher in mir aufbewahrt. (Und leider auch das Gegenteil davon.)

Es müsste 2001 gewesen sein, als der Hausarzt unseres alten Wohnortes bemerkte, dass etwas mit meiner Wirbelsäule nicht stimmt. An dieses Ereignis kann ich mich noch sehr genau erinnern; ich weiß, dass der Arzt sagte, meine Knochen seien verrückt. Meine Mutter war während der Untersuchung im Raum und hat für mich einen Überweisungsschein zum Orthopäden bekommen. Als Belohnung dafür, dass ich die Untersuchung tapfer durchgestanden habe, durfte ich mir etwas aus der Du warst tapfer und nun darfst du dir ein Geschenk aussuchen!-Box greifen. Mein Geschenk war ein Schlüsselanhänger in Form eines Skelettes.

Dieses Ereignis ist als bedeutend in meinem Gedächtnis verzeichnet, denn seit Jahren schon plagen mich Rückenschmerzen, weil meine Wirbelsäule noch immer verrückt ist. Meine Eltern sind nicht mit mir zum Orthopäden gegangen, weil sie der Meinung waren, dass die zu verschreibende Krankengymnastik etwas für Kranke und nicht für ihren Sohn sei. So blieb das dann…

…bis ich 2010 selbst an meine Gesundheit denken konnte und zum Orthopäden gegangen bin. Leider viel zu spät. Der Orthopäde sagte, dass meine Knochen ihre Wachstumsphase hinter sich hätten und sich an meiner verrückten Wirbelsäule nichts mehr richten ließe. Meine einzige Chance gegen die Rückenschmerzen sei der Aufbau einer guten Rückenmuskulatur mittels Schwimmen, Krafttraining und Fitnessstudio.
Das waren keine guten Nachrichten. Zurück vom Arzt und am Esstisch erzählte ich davon und mir wurde gesagt, die Rückenschmerzen würden daher kommen, dass ich kaum mein Zimmer verlassen, dem Vater nicht beim Handwerk helfen und nicht unter Menschen gehen würde. Was durchaus sein kann, aber nicht stimmt. Es liegt an meiner Wirbelsäule.

Seitdem ich einen Grund habe, versuche ich regelmäßig schwimmen zu gehen, wie man hier manchmal lesen kann. Ich mag das sogar, es gibt mir Ruhe und Frieden. Doch in den letzten Monaten hatte ich weder Lust, noch die Kraft für Regelmäßigkeit. Ich habe das Schwimmen vernachlässigt. Und das hat sich am Montag in sehr starken Rücken- und Schulterblattschmerzen geäußert; ausgerechnet einen Tag vor der zweiten Prüfungswoche.
Morgens bin ich sehr verspannt und von Schmerzen durchsetzt aufgewacht, und wusste mir nicht zu helfen. Ich habe ein paar Aspirin eingenommen und bin sehr heiß duschen gegangen, doch geholfen hat das wenig. Erst mittags habe ich Entspannung verspürt; Reizstromtherapie beim Hausarzt. Jetzt muss ich fünf Tage lang in die Praxis, um diese Woche schmerzfrei meine Prüfungen schreiben zu können.

Vielmehr als mein Rücken schmerzt mich die Tatsache, dass sich an diesem Zustand nichts mehr wird ändern lassen. Einzig der große Aufwand eines Muskeltrainings kann mir noch helfen; und das auch nur solange, wie ich die Muskeln zu behalten weiß. Das ist nichts Schlechtes, doch wäre das nicht nötig gewesen, hätten meine Eltern an mich und nicht daran gedacht, wie es wohl bei Anderen ankommen würde, wenn ihr Sohn in die Krankengymnastik geht. Meine Wirbelsäule wird sich nie wieder reparieren lassen und mit dieser Schwachstelle muss ich nun ein Leben lang leben.

Ich wurde heute sehr wütend, als dieser Satz fiel: „Stimmt doch gar nicht! Wir waren nie deshalb beim Hausarzt, das bildest du dir nur ein, wie alles andere auch! Nur du trägst Schuld an deinen Rückenschmerzen! Du gehst ja auch nie ‚raus! Also beschwer‘ dich gefälligst bei dir!“
Mir wird also meine liebste Eigenschaft abgesprochen, und es wird behauptet, dass ich mich irre bzw. dass ich lüge! Und obwohl ich vorhin mit Reizstrom behandelt wurde, habe ich jetzt wieder Rückenschmerzen wie am Montagmorgen. Ich glaube, die Wut auf meine Eltern und die Wut auf mich, beides strahlt auf meinen Rücken ab.

Und so liege ich hier, zwischen Hass, Wut und Verzweiflung, eingeengt von Leid, Vorwürfen und einem Leben, das ich nicht gerne lebe, und denke an den berühmten Satz des Schriftstellers Jonathan Safran Foer, während ich nirgendwo lieber wäre, als bei dem Träger meines Herzens; als dort, wo ich für das geliebt werde, was ich bin.

Sometimes I can hear my bones straining under the weight of all the lives I’m not living.

Mit diesem Satz ist alles gesagt.

Die Wirbelsäule des Heartcore, 2010.

(Ja, das ist meine Wirbelsäule.)