Ich war abends mit Thomas auf dem Dach der Grimmwelt, da kann man sehr gemütlich sitzen und auf die Stadt schauen. Wir laberten und laberten, irgendwann hatten wir Hunger und gingen paar Minuten zu einem Imbiss, bestellten was und haben uns raus auf die Straße gesetzt, weil es drinnen so heiß war.
Da kam so ein Typ gelaufen, oben ohne, er trug so eine weite Hose aus Patchwork, die ihm bis an die Waden reichten, weiß nicht genau wie die heißen. Er hatte so Barfußschuhe aus Leder. Seine dunkelblonden Haare waren etwas länger, sie waren teilweise zum Zopf gebunden. Er sah sehr freundlich und zufrieden aus. So mein Alter würde ich sagen.
Als er gerade in den Laden wollte, um zu bestellen, sagte ich: „Coole Schuhe. Sind das Barfußschuhe?“ Er so: „Ja, aber die sind doof. Gehen schnell kaputt.“ Er zeigte mir die Sohle, die schon aufgescheuert war, wo seine Haut zu sehen war. Thomas‘ und meine Bestellung war fertig, ich ging mit dem Mann in den Laden. Ich ließ ihn vor und er bestellte eine Pommes und quatschte kurz mit dem Verkäufer, fragte ihn wie es ihm geht. Der Verkäufer war ganz verblüfft. Nachdem ich bezahlt hatte, sah ich, dass der Typ auf der Straße Handstand und dabei so Yogazeug mit den Beinen machte. Er meinte dann zu mir, dass er es mit einer Hand noch nicht hinbekomme. „Wenn ich doch nur keine Angst hätte, hinzufallen, dann könnte ich es.“
Ich fragte ihn, ob er aus Kassel ist. Er sagte nein, er sei gerade hier, um Menschen zu helfen, heute sei er mit einer Freundin unterwegs gewesen. Da fragte ich, was er so macht im Leben. Er sagte, er lebe seit knapp drei Jahren nirgends, sei mal hier, mal da. Ich fragte, ob er bei der Freundin untergebracht sei. Nein, er lebe in seinem Auto. Es sei auch keine richtige Freundin, nur eine Bekannte.
Dann hab ich ihm von einem Freund erzählt. Dass dieser gerade nicht weiß, wohin mit sich, von dessen aktuellem Wohnort in einer Gemeinschaft, in der er sich nicht richtig wohl fühlt, dass er sich hier eine Kommune angeschaut hatte, von dessen Sehnsucht, völlig frei zu sein, autonom zu leben nur mit Sachen, die er auf seinen Schultern tragen kann.
Ich fragte den Mann vor mir, wie er entschieden hat, so zu leben. Was sein Rat an den Freund wäre. Er sagte, während Thomas und ich aßen, dass er eines Tages aufgewacht sei und nicht mehr leben wollte wie vorher. „Ich sehe die Menschen heute und wie sie immer unglücklich sind, das aber gar nicht merken. Schau‘ dich doch mal um, das alles war früher einmal eine Utopie und heute ist es Wirklichkeit. Wir leben in einer Utopie! Aber es stimmt etwas mit dieser Welt nicht.“ Dass er die Produktions- und Lebensweise hier seltsam finde. Dass es ein langer Weg für ihn war und immer noch sei. Dass er Phasen habe, da konsumiere er ganz viel, sei sesshaft, dann habe er wieder Phasen, da sei er Asket. Das sei so ein Hin und Her, das habe er einfach akzeptiert und seitdem sei er ganz froh. Es sei aber nicht einfach, und glücklich sei er auch nicht immer, doch kenne er die Gründe. Er genieße einfach die Schönheit, vor allem die Natur, er finde überall was Schönes. Dass er überall zu Hause sei, weil er zu sich selbst gefunden habe.
Ich solle den Freund von ihm grüßen. „Sag‘ ihm, dass wenn er in sich selbst ein Zuhause gefunden hat, dann kann er überall zu Hause sein. Dafür muss er nicht im Wald leben. Wo er wohnt ist egal. Ich hab für mich gelernt, dass ich nicht ganz alleine sein kann. Also helfe ich einfach, wo ich kann. So hab ich viele Menschen kennengelernt. Was ich brauche, generiere ich mir einfach. Ich wünsche mir etwas, und paar Tage später habe ich es.“
Dann war seine Pommes abholbereit und er hat uns guten Appetit gewünscht. Mit der Tüte in der Hand hat er Rad geschlagen und ist so über die Straße geradelt. Eine stark befahrene Hauptstraße. Und wie so ein Heiliger ist ihm nichts passiert und er war fort.
Ich wollte ihn eigentlich fragen, ob er für die Nacht eine Unterkunft braucht. Ich hab, glaub‘ ich, noch nie so einen Menschen getroffen. Er hat wirklich wie ein Heiliger auf mich gewirkt. Ich hätte noch so gerne mehr mit ihm gesprochen.
Nach ein paar Minuten ist dann Thomas zu seiner Tram und meine sollte später kommen. Ich hab in der Zeit das Auto des Mannes gesucht, es musste ja irgendwo geparkt sein, und in der Innenstadt gibt es nicht so viele Orte, wo das geht. Bin so um ein paar Blocks gelaufen. Ich hab ihn leider nicht gefunden.
Ich hab ihn nichtmal nach seinem Namen gefragt, ich war so fasziniert von ihm, von dem zufälligen Gespräch, von seiner Mimik. Wie kann ein Mensch nur so aussehen? Einfach heilig.