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Träumer.

24. Juli 2019

Ich saß heute lange am Fenster und habe auf die Straße geschaut, es war schon Nacht. Ich saß im Dunkeln, von der Straße aus gesehen wohl nur ein Schatten hinter Glas. Viele Menschen habe ich gesehen, wie sie lachten, wie sie grimmig aussahen und auch weinten, wie sie allein waren oder zu zweit, in Grüppchen, als Freunde, Familien. Ich sah sie sich umarmen, sich streiten, sah sie sich gegenseitig ärgern, sah sie betrunken, sah sie einsam. Ich sah sie sich lieben, sich halten. All das hat eine große Sehnsucht in mir entfacht. Eine Leere, die ich nicht aufgefüllt bekomme. Und nun kommt der Schlaf nicht zu mir. Er sagt, der Träumer am Fenster braucht keinen Schlaf, er träumt ja schon sehenden Auges.

Ohne Titel.

31. Mai 2011

Das Licht der Straßenlaterne scheint matt durch die weit geöffnete Fensterfront. Der Tag ist vor wenigen Stunden erloschen und nun legt die Nacht ihre beruhigende Stille über das Dorf, dessen kühles Rauschen mich an das Telefonat erinnert, welches ich mittags geführt habe. Das Rauschen der Leitung ist wie das Rauschen in meinem Kopf. Die Wanduhr tickt leise im Sekundentakt und die Zeit rinnt mit jedem Herzschlag ein bisschen schneller durch meine Blutbahnen. Bald werde ich den Nullpunkt erreicht haben.

Die schwere Bettdecke, die ich einst brauchte, um in den Schlaf gedrückt zu werden, lehnt schon seit Tagen an der kalten Wand und beherbergt all jene Sorgen und Ängste, welche in den letzten Monaten in Form von Schweiß und Tränen aus mir gewichen sind. Ich fürchte mich davor, sie auf mich zu nehmen, und so ziehe ich das seidene Licht der Straßenbeleuchtung auf mich und verzichte auf die schwere Bettdecke, in dessen Bezug ich einen großen Teil meines Wesens erkenne. Meine Hände ruhen müde auf meinem Schoß und leuchten schützend im Orange der Straßenlaterne; mein Bauch hebt und senkt sich mit jedem Atemzug. Ich schaue an die Holzdecke und sehe in meinen Sternenhimmel, der aus Kiefernholz besteht. Jede Maserung des Jahrzehnte alten Holzes hat ihre eigene Bedeutung, bildet mit anderen Flecken und Schatten ein Sternenbild, ein Netz der Erinnerung. Über mir ruhen die letzten sieben Jahre; still, stumm und leise.

Als ich frierend aufwache, draußen tiefschwarze Nacht, kein Licht, kein anbrechender Tag, ziehe ich die Decke doch auf mich und denke: solange ich sie am Morgen wieder ablegen kann, ist alles okay.

Herbst.

11. Oktober 2010

Jedes Mal, wenn ich dieses Buch in meine jungen Hände nehme, mit meinen müden Fingern über den erschöpften Buchrücken, die 576 Seiten und die zahllosen Post-Its streiche, jedes Mal, wenn ich ein paar Seiten oder Zeilen aus diesem Buch der Bücher lese, verspüre ich einen intensiven Schmerz, welcher mich vollkommen erfüllt und von der Wahrheit und der einzigartigen Schönheit der Worte in mein Innerstes getragen und dort von meiner Seele umarmt wird, als gäbe es kein Gestern und kein Morgen, als hätte ich keine Mutter und keinen Vater, keine Familie und keine Freundschaften, als ob ich der einzige Mensch auf Erden wäre, der gefunden hat, was er ein Leben lang suchte und nun mit der Angst kämpft, zu verlieren, was er fest umklammert. Dieser unerträgliche Schmerz des Verstandenwerdens, dieses große Gefühl, das mich jedes Mal packt, sich an mich saugt und nicht mehr los lässt, bis ich schlafe und am nächsten Tag wie ein Neugeborenes in die Welt und auf mein Leben blicke, dieses Gefühl, welches nur einer in mir entfachen kann, welches brennt wie eine immer währende Fackeln, bis der Tod in Form des Schlafes uns vereinzelt… Fernando Pessoa, Sie vernichten mich jedes einzelne Mal und beschweren mein schwaches Herz, sodass ich nicht mehr weiterlesen kann, ohne mich zwischendurch dem Tod zu nähern, indem ich schlafe…

„Mein Herz schmerzt mich wie ein Fremdkörper. Mein Gehirn schläft alles, was ich empfinde. Ja, der Herbstanfang, er bringt meiner Seele und der Luft jenes Licht ohne Lächeln, dessen lebloses Gelb das unregelmäßige Rund der wenigen Wolken des Sonnenuntergangs säumt. Ja, der Herbst beginnt, und mit ihm kommt in dieser klaren Stunde, die klare Erkenntnis von der namenlosen Unzulänglichkeit aller Dinge. Herbst, ja, der Herbst, der beginnt oder schon begonnen hat und die vorweggenommene Müdigkeit aller Gesten, die vorweggenommene Enttäuschung aller Träume. Was kann ich erwarten, und woher nehme ich diese Erwartung? Schon in dem, was ich von mir denke, wirbele ich unter Blättern und Staub des Hofes auf der sinnlosen Umlaufbahn des Nichts und raschle als etwas Lebendiges auf den sauberen Fliesen, vergoldet von einer schräg einfallenden, ich weiß nicht wo verlöschenden Sonne.“

Fernando Pessoa — Das Buch der Unruhe — Fragment 202 / Seite 206 / Zeile 15 bis 28