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Kein Verrückter, nein.

1. Januar 2012

Ich weiß nicht, was sie meiner Großmutter erzählt haben, aber es macht mich wütend, dass Oma schluchzend zum Abschied sagte, sie trauere um mich. Ich sei doch gar kein Verrückter, nein. Ein anständiger Sohn sei ich, schon immer gewesen, einer der guten Menschen, der richtigen und guten.

Wäre in diesem Moment nicht mein Onkel gekommen, hätte er nicht gesagt Weshalb sollte der Junge wieder kommen, wenn ihr ihn jedes Mal so verabschiedet?, hätte auch ich geweint. Nicht, weil ich traurig bin oder etwas bereue, vielmehr aus Wut und Verzweiflung; weil ich nicht weiß, wie ich die Tränen all jener verhindern kann, die mir etwas bedeuten. Dabei kenne ich das Problem, ich weiß, dass jeder in der Kultur meiner Familie, der seinen eigenen Weg gehen möchte, als verrückt oder bösartig abgestempelt wird. Letztendlich, nach all den Monaten meines Outings, bin ich wie zuvor der Verlierer, der fremde und schlechte Sohn, weil ich mache, was ich möchte. Weil ich mich keinen Regeln unterwerfe, die andere entworfen und für richtig erklärt haben, und weil ich die Erwartungen nicht erfülle. Ich gehe meinen eigenen Weg, mache also das, was sich im Grunde alle Eltern von ihren Kindern wünschen, und dennoch werde ich dafür verurteilt.

Tatsächlich frage ich mich, ob ich noch einmal zu meiner Oma fahren möchte, wenn das Ende immer gleich ist, so schön die zwei Tage dort auch waren. Mit meinen Eltern ist es ja nicht anders, nur dass ich dort schon während meines Aufenthalts mit unerfüllten Erwartungen, Krankheit und Selbstsucht beschuldigt werde. Ich frage mich, ob es gut für mich ist, dass ich auf dem Rückweg immer traurig bin und nicht weiß, wie ich das unterbinden kann.

Als ich zuletzt bei meinen Eltern war, gab es einen kleinen Autounfall. Ich war abends mit meiner Mutter in der Stadt, und auf dem Rückweg ist sie gegen einen Leitpfosten gefahren. Viel ist nicht passiert, lediglich der linke Seitenspiegel wurde abgerissen. Meine Mutter ist entweder eingenickt oder ihr Blutdruck ist in den Keller gefallen, jedenfalls hat sie sich enorm erschrocken und war wie gelähmt, als das Auto zum Stehen gekommen ist. Ich bin ausgestiegen und habe auf der Wiese die Teile des Seitenspiegels zusammengesucht und den Pfosten an seine ursprüngliche Stelle gelegt, dann sind wir nach Hause gefahren. Und zu Hause sagte mein Vater, dass dieser Unfall meine Schuld sei, wie es auch alle anderen zukünftigen Unfälle und Pannen sein werden. Und obwohl ich genau weiß, dass das Schwachsinn und purer Nonsens ist, gibt mir das zu denken. Es lässt mich nicht mehr los, dass ich der Sündenbock und an allem Schuld bin. Das ist auch der Grund, weshalb ich nicht vorhabe, meine Eltern zu besuchen, solange es nicht nötig ist. Das letzte Mal war ich dort, weil ich meine Aufenthaltserlaubnis verlängern lassen musste. Ich möchte nicht jedes Mal geknickt zurückkehren, und solange ich die Rolle des Sündenbocks habe, will ich nicht in der Nähe meiner Familie sein.

Was ich will, ist einfach nur als der Sohn geliebt werden, der ich bin. Ich will keine Bedingungen erfüllen müssen und als das angenommen werden, was ich bin. Ich will mich nicht länger verstellen müssen, weil man es so von mir erwartet. Und falls das nicht ehrenwert ist, dieser schlichte Wunsch, falls das nicht für mich spricht, bleibt mir nichts anderes übrig, als lebenslang der schlechte Sohn zu sein, weil ich mich nicht der Familie annähere.