Ich sitze oder stehe mit zwei oder drei Mitarbeitern oder Mitarbeiterinnen in dem einen oder in dem anderen Raum und schiebe mindestens ein, meistens aber mehrere Metallteile gleichzeitig in eine der vielen speziell dafür konstruierten Maschinen. Jedes Mal, wenn ich mindestens ein Metallteil in eine der vielen speziell dafür konstruierten Maschinen einlege, macht es entweder spürbar laut „Tick-Tock“ oder maschinenöl-zart „Tick-Tack“. Jenachdem. Entweder. Oder.
Um meine fleischblutige Existenz herum ist es laut. So laut, dass man Gehörschutz tragen muss. Trägt man keinen Gehörschutz, ist das gar nicht gut für die Ohren – vor allem nicht für meine Ohren, denn „die sind besonders sensibel“, sagte einmal der Hals-, Nasen- und Ohrenarzt. Trägt man keinen Gehörschutz, fühlt man sich nach wenigen Minuten von den allumfassenden Schallwellen aus dem Gleichgewicht gebracht und in eine rauschende Betäubung gestoßen. Mit anderen Worten: das Trommelfell des Arbeiters oder der Arbeiterin, welches normalerweise am Ende des Gehörganges im Gehirn zu finden ist, wird platt gemacht, genau wie die Metallteile, die ich in eine der vielen speziell dafür konstruierten Maschinen einlege. Die Grenze meiner Schmerzensgrenze hatte ich schon nach einigen Sekunden erreicht.
Der Gehörschutz besteht objektiv betrachtet aus drei Elementen. Das sichtbarste Element ist ein schallisolierender Kapselgehörschutzkopfhörer, der die Außenwelt quasi um achtzig Prozent leiser und somit erträglicher macht. Die anderen beiden Elemente sind Schaumstoffgehörschutzstöpsel, die man mit den Fingern erst fein säuberlich in die Länge kneten muss, ehe man sie sich in die Gehörgänge links und rechts einführen kann. (Vorsicht! Nicht zu tief einführen, sonst tut’s weh! Und das Dünner- beziehungsweise Längermachen nicht vergessen! Zu dick tut nicht gut und zu lang auch nicht.) Nach wenigen Momenten nehmen die Schaumstoffgehörschutzstöpsel ihre einstige Form an, indem sie sich einfach aufbauschen, als wären sie Schlagsahnefäden, die gerade eine Sprühdose verlassen. Dieses Aufbauschen an sich ist völlig schmerzfrei. Man fühlt sich nur ein wenig komisch, weil das Aufbauschgefühl die Umgebung langsam, aber sicher ausblendet, bis man kaum noch etwas wahrnehmen kann (vergleichbar mit dem Gefühl, bewusstlos zu werden). Kombiniert man nun diese drei Elemente, dringt nichts, rein gar nichts in das Gehirn des Arbeiters oder der Arbeiterin, welches normalerweise vorhanden sein sollte.
Man hört nur noch sich selbst, den eigenen Atem und den eigenen Herzschlag. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich wirklich höre oder ob ich nur glaube zu hören, wie mein Herz schlägt und wie sich meine Lungenflügel entfalten, um Sauerstoff aus der Luft zu schöpfen, wenn ich mich den Gehörschutzmechanismen hingebe.
Das Aufbauschen ist schmerzfrei, wie schon gesagt. Doch etwas anderes löste – zumindest in mir – tiefe Schmerzen aus: meine Stimme.
Die Sache mit der Stimme… Ich glaube, dass jeder Mensch, der denken kann, im Besitz einer inneren Stimme ist. Das mag sein, mag aber auch nicht sein, ist aber in diesem Fall eigentlich egal (Hinweise gerne in den Kommentaren!). Ich jedenfalls habe eine innere Stimme. Eine Stimme, die sich wandeln, jede erdenkliche Form und Tonlage annehmen und sein kann. Diese Stimme in mir bin ich, das glaube ich zumindest. Ich sehe mich als Ganzes, als einen Körper an, welcher aber auf dieser inneren Stimme basiert. Sie ist in Kombination mit meinen Erinnerungen und Erfahrungen die Grundlage meines Wesens, das Fundament meiner Psyche. Sie ist mein Kommunikationsinstrument zur Außenwelt, wird von meinem Körper in Schrift oder Ton gewandelt und so zu Ausdruck gebracht. Auch der Körper selbst dient zur Kommunikation, genauso wie ein Lächeln oder eine einsame Träne, die sich im Mundwinkel verfangen hat. Diese magische Wandlung fasziniert mich immer wieder aufs Neue. Der Mensch ist ein verdammtes Wunder!
Die Sache mit der Stimme meines Kopfes… Vor meinem ersten Arbeitstag habe ich sie nie zuvor so stark wahrgenommen. Klar, sie ist immer zugegen, zum Beispiel jetzt, während ich diesen Text schreibe. Sie diktiert meinen Armen und meinen Fingern, was ich wie in diesen Computer zu tippen habe. Sie ist auch da, wenn ich mit Jemandem rede oder Jemandem zuhöre. Doch in solchen Fällen spielt sie eine kleine Rolle, den in solchen Fällen höre ich eher der Stimme zu, die meinen Mund verlässt. Ich bekomme Feedback über meine Ohren: somit kann ich überprüfen, was ich ausgesprochen habe und was nicht – und vor allem, wie ich ‚was ausgesprochen habe. Das ist sehr wichtig!
Ich weiß, dass mein Inneres ehrlich zu mir ist. Die Stimme ist ein Teil meines Inneres und deswegen spricht sie auch die Sprache der Selbstwahrheit. Das mag sein, mag aber auch nicht sein, ist aber in diesem Fall eigentlich egal (Hinweise gerne in den Kommentaren!). Diese Stimme ist knallhart und kritisiert mich zum Beispiel (konstruktiv), wenn ich etwas ausspreche oder signalisiere, das ich eigentlich ganz anders meine. Die Stimme meines Kopfes meint. Ich meine also.
Höre ich Musik, spielt meine innere Stimme, der kleine Heartcore in mir, eigentlich keine Rolle. Der kleine Heartcore hört zu in Momenten, in denen er wirklich nur zuhört. Ich nehme den Text und die Akustik des Musikstückes wahr, verarbeite diese vielleicht. In Momenten, in denen ich mir Gedanken mache, spricht die Stimme wieder. Auch wenn die Musik läuft.
Sehe ich einen Film, spielt mein inneres Auge, der kleine Heartcore in mir, eigentlich keine Rolle. Der kleine Heartcore sieht zu in Momenten, in denen er wirklich nur zusieht. Ich nehme das Bild und die Akustik des Filmes wahr, verarbeite diese vielleicht. In Momenten, in denen ich mir Gedanken mache, spricht die Stimme wieder. Auch wenn ein Film läuft.
Die innere Stimme und das innere Auge. Ein unzertrennliches Paar!
An meinem ersten Arbeitstag stand ich also an einer speziell konstruierten Maschine und schob Metallteile in kreisrunde Öffnungen. Auf meinem Kopf befanden sich der Kapselgehörschutzkopfhörer und darunter die Schaumstoffgehörschutzstöpsel. In mein Gehirn drang keine Akustik von außen ein und das Bild, das meinen Augen geboten wurde, bestand aus der speziell konstruierten Maschine und meiner Aufgabe, die ich so schnell wie möglich zu erledigen hatte. Ich konnte nicht wegschauen, weil sich die Maschine vor mir immer weiterdrehte und ich mit ihr einen Taktakt bilden musste, damit ich meine Aufgabe so schnell wie möglich erledigen kann. Monotonie at it’s best.
Um mich nicht zu langweilen, fing ich an, mir Gedanken zu machen. Erst beschäftigte ich mich mit der Arbeit und dem Umfeld, in dem ich mich befand, und reflektierte die bis dorthin erlebten Gesichter. Danach schweifte ich auf abwegige Pfade ab und verlor mich im Gestrüpp meiner Selbst, das eigentlich ein unendlich flächiger und unübersichtlicher Regenwald ist. Die ständige Stille und der Input, der nicht vorhanden zu sein schien, zwang mich geradezu, mich mit meiner inneren Stimme zu beschäftigen. Ich war zusammen mit meiner unbestimmbaren Stimme in meinem unstimmigen Kopf gefangen! Gefangen, in einer Gummizelle… links und rechts nur Schaumstoff und Gummi, oben und unten nur Gehirnmasse, Blut und Knochen(gewebe)… Interniert in mir selbst und mit mir selbst allein…
Nach einiger Zeit wurde mir bewusst, dass ich nicht der Panik verfallen darf, wenn ich in dieser Firma weiterhin arbeiten will. Also sprach ich mit mir selbst, schrieb nie abgeschickte Briefe und nie veröffentlichte Blogeinträge, sang die Lieder, die mir auf der Zunge lagen, und malte mir nie da gewesene Bilder aus.
Doch irgendwann konnte ich nicht mehr. Ständig diese Bilder und ständig diese Stimme(n)! Ich sehnte mir die Stille herbei, die absolute Stille, doch dabei befand ich mich inmitten einer solchen Stille, die mich komplett für sich eingenommen hatte. Nur das Grundrauschen des Lebens und meine Gedanken durchbrachen das absolut Unhörbare. Mir wurde klar, dass es nur eine einzige, absolute Stille gibt: den Tod.
Die Angst saß mir im Nacken und flüsterte mir vorlaut ins Ohr, doch ich konnte weder aufsehen, noch hinhören. Ich musste den Fluss der Maschine aufrecht erhalten. „Nicht panieren, nicht panieren!“
Und wie aus dem Nichts wurde mir klar: ich bin ein Teil der Maschine. Zwar denkend und aus Fleisch und Blut, doch trotzdem ein Teil einer ganzen Maschine, die ohne mich nicht funktionieren kann. Das machte mich einerseits interessant und andererseits unfassbar traurig.
Ich war gerade dabei, innerlich meine Trauer zu zelebrieren, als einer der zwei oder drei Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen neben mir stand und mich lustig von der Seite anfummelte. Ich stoppte die Maschine, nahm meine Kapselgehörschutzkopfhörer ab und zog dann langsam meinen linken Schaumstoffgehörschutzstöpsel aus meinem Gehörgang, damit ich etwas verstehen konnte – denn Lippenlesen, das kann ich noch nicht!
Die erlösenden Worte des Mitarbeiters waren: „Du kannst an die Kopfhörer auch einen mp3-Player oder iPod anschließen! Probier’s mal, vielleicht gefällt’s dir!“
Ich stand da wie der letzte Idiot des untergehenden Abendlandes und grinste so lange debil in die kleine Abteilung, bis mein Trommelfell Schmerz verzeichnete und meine Augen freaky zu zucken begannen. Der Schmerz befreite mich aus meiner Idiotie und ich kam wieder zu mir.
Das erste Musikstück, für das ich an meinem ersten Arbeitstag während der viel zu lauten, tonlosen Arbeit die Ohren spitzte, war folgendes: { Anhören! } „Ave Maria“ in der Version von Giulio Caccini & Paul Pritchar aus dem Album „Donnie Darko (Soundtrack & Score)“.
Das befriedigendste Musikerlebnis, das ich je hatte.