Halte mich fest, ganz fest, fest.

19. Juni 2019

Ich fühle mich immer öfter zerrissen. Wie ein Granatapfel, der mit enormer Wucht auf dem Boden aufgeschlagen ist, schwer von all der Last, zersplittert in tausend blutige Teile, kein Ganzes mehr. Es ist ein seltsames Gefühl, entspringt es doch immer wieder der Erkenntnis, dass ich mein Wesen zum Wohle vieler Menschen einsetze. Was ja eigentlich schön ist.

Das, was ich mache, betrifft entweder einige wenige, mir bekannte Menschen, meine Freunde, denen ich aufgrund meiner Fähigkeiten und Netzwerke helfen kann, wenn sie meine Hilfe brauchen oder meinen Rat erfragen, oder gleich Tausende, Zehntausende, die ich niemals kennenlernen werde, die indirekt von meinen Entscheidungen profitieren und deren Leben nachweislich ein besseres ist, als es zuvor der Fall war. Ich habe mir schon oft vorgestellt, wie ich aufgrund meiner Handlungen mit all diesen Menschen verbunden bin. Abertausende hauchdünne Fäden aus weiß schimmerndem Licht, ausgehend von meinem Geist.

Die Verantwortung diesen vielen Menschen gegenüber, seien sie mir nun bekannt oder auch nicht, sie lastet schwer auf meinen Schultern. Ich nehme meine Aufgaben ernst und führe sie gewissenhaft aus. Ich weiß, ich bin niemandem etwas schuldig. Und doch erdrückt mich das Wissen, dass ich all diese Leben berühre durch das, was ich mache. In diesen Momenten weiß ich: Ich bin nicht traurig. Ich glaube, dass ich zutiefst überwältigt bin. Überwältigt von all den imaginären Verbindungssträngen. Wie viel Kraft und Energie kann ein einzelner Mensch aufbringen? Wie viel meiner eigenen Kraft kann ich zum Wohl der Menschen aufopfern? Wann ist meine Energie erschöpft? Ich bin manchmal so sehr müde, dass ich nicht schlafen kann. Sollte mich das nicht beunruhigen?

Manchmal schlendere ich durch die Straßen, auf dem Weg in eines der vielen Betten, in denen ich schlafe, wenn ich wieder einmal unterwegs bin mit dem, was ich mache. Und ich denke: Dieser Himmel, immer dieser wunderschöne Himmel mit all seinen Sternen, mal mit mehr Wolken, mal mit weniger Sternen, je nachdem, wo ich gerade bin, welche Jahreszeit gerade ist. Immer dieser Himmel, der sich scheinbar nie im Wesen ändert: Und doch milliardenfach vereinzelt wie ich. Was ändert sich schon? Warum fühle ich so? Weshalb kann ich nicht mal glücklich sein vermöge meiner Erfolge, warum kann ich sie nicht genießen, warum kann ich aus ihnen keine Kraft für mich zehren?

Heute habe ich mich gefragt, ob ich all das seit Jahren mache, um meinem Leben einen Sinn zu verleihen. Ja, sicherlich mache ich das deswegen. Oder etwa nicht? Ist das der Tatsache geschuldet, dass ich schon über die Hälfte meiner Lebenszeit den Eindruck habe, als Sohn zu versagen? Egal wie viel ich mache, egal wie vielen Menschen ich helfe, egal wie menschlich gut und menschlich erfolgreich ich bin. Egal wie stark ich werde, wie gebildet, wie strahlend schön. Und doch: Niemals wird mir das, was ich mache, diese Art der Bestätigung und Liebe geben können, die mir zu fehlen scheint, die ich mir in den Tiefen meines Herzens so sehr zu wünschen scheine. Kann es dieses Maß an Liebe überhaupt geben? Lässt sich diese meine Sehnsucht jemals real stillen? Nein?

Vielleicht ist das Ehrenamt mein Opium. Vielleicht betäube ich mich auch einfach mit all der Arbeit und den Aufgaben und der Verantwortung, um den Gefühlen und Gedanken des Versagens, der Sehnsucht und der ewigen Suche nach Liebe nicht allzuoft ausgesetzt zu sein. Manchmal platzt es eben heraus und ich spüre dann nur jene Überwältigung. Ist das eine Art von Selbstschutz? Wenn ein Mensch nicht mehr fühlen kann, als er ertragen kann, fühlt er sich dann überwältigt?

Fürchte ich die Nähe vielleicht deshalb so sehr? Die Nähe, mit der ich wahrlich tiefe Wurzeln in den Herzen der Menschen zu schlagen im Stande bin? Kommt die Angst, mich zu sehr auf einen Menschen einzulassen, daher? Fürchte ich mich deshalb davor, mich zu verlieben? Mich in den Augen, im Geist und an den Worten eines anderen Mannes zu verlieren? Muss ich deshalb meine Kraft, Energie und Liebe auf die vielen Menschen aufteilen? Um Distanz zu wahren? Und am Ende fühle ich mich doch so sehr zerrissen, stürze über all die weiß schimmernden Verbindungen zu Boden. Alles fesselt mich und nichts hält mich.

Ich habe so viel Liebe zu geben, so viel, und doch fürchte ich zu lieben. Habe Angst, fallengelassen zu werden, zu versagen, nicht zu reichen, nicht zu gefallen.

Hallo, Angst. Meine Angst, zu lieben. Komm‘ in meine Arme. Ich halte dich fest, ganz fest, fest.

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