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Obelisk. (24/42)

9. Juni 2017

Gestern nach Feierabend habe ich mir einen Haarschnitt gegönnt; den hatte ich auch bitter nötig. Am Königsplatz musste ich auf meine Tram warten und nutze die Zeit, um mir den Obelisken anzusehen, der zur Documenta auf dem Königsplatz in Kassel errichtet wurde. Über einen Monat hinweg wurde er in drei Einzelteilen gegossen und zusammengesetzt. Auf den dunklen Beton hat der Künstler tagelang die Inschriften graviert und anschließend golden lackiert. Auf den vier Seiten steht jeweils der Satz „Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt“ in Deutsch, Englisch, Türkisch und Arabisch. Eine starke Botschaft. Ein Mahnmal im Grunde, das aufmerken lässt und nachdenklich macht.

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Ich ging rundherum und sah mir den Obelisken an, und obwohl ich kein Geflüchteter in dem Sinne bin, habe ich mich selbst in dem Satz wieder erkannt. Ich dachte: Wie schön, dass ihr mich aufgenommen habt! Welch‘ Möglichkeiten sich dadurch eröffnet haben!

Als ich das so dachte, hörte ich plötzlich ein Flüstern direkt in meinem Kopf: Sprache ist ein Rätsel und doch sprechen wir sie alle. Das Flüstern irritierte mich sehr, da ich In-Ear-Kopfhörer trug und einen Podcast hörte, abgeschottet von der Außenwelt sozusagen. Als ich das Flüstern noch einmal hörte, zog ich die Kopfhörer ab und sah mich um. Das Flüstern kam aus einer Entfernung von etwa 20 Metern, eine junge Frau hatte ein kleines Mikrofon an ihrer Bluse und sprach hinein. Mit einer Art Richt-Lautsprecher zeigte sie auf einzelne Menschen und flüsterte ihnen etwas zu. Alle Menschen um mich herum schienen irritiert zu sein, denn es gab mehrere Flüsterer auf dem Platz und das Flüstern überschattete alles, obwohl es wirklich leise war. Die seltsame Geräuschkulisse war unheimlich und heimlich zugleich, da Geflüster ja eher für etwas Geheimes, Diskretes steht. Ich beobachtete die junge Frau und ging nach etwa zehn Minuten auf sie zu, mit den Händen fragend, ob ich sie ansprechen dürfte. Sie schaltete ihr Mikrofon aus und lächelte mich an. Ich fragte, ob das eine Documenta-Performance sei und wenn ja, welche. Sie erzählte mir von der Whispering Campaign (Documenta-Seite) und reichte mir eine Art Stadtkarte – wunderschön gestaltet, auf der tatsächlich auch ein Stück der Stadt zu sehen war und wo die Campaign zu finden sein wird – und erzählte mir, dass sie mehrmals in der Woche an verschiedenen Orten – innen und außen – diese Whispering Campaign (Wikipedia) durchführen.

Dabei handelt es sich um eine Art der Kommunikation, bei der vermeintlich Gerüchte gestreut werden, um Meinungen zu bilden, jemanden zu überzeugen oder schlecht zu reden. Die Gerüchte kommen dann vom Beeinflussenden selbst, der ein bestimmtes Ziel verfolgt. Ich erkenne darin Vieles von den heutigen „Sozialen Netzwerken“ wieder, insbesondere Twitter. Fake News! Durch die Nutzung dieser Methode möchte der Künstler Pope.L womöglich auf die heutige Mediennutzung aufmerksam machen und wie leicht es ist, im Alltag beeinflusst zu werden.

Mich hat diese Performance sehr berührt, und ich denke, wenn wir Menschen die Informationen nicht hinterfragen, die wir irgendwo aufschnappen, und nicht wissen, wie wir diese auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen können, dann werden wir immerzu der Bauer auf dem Schachbrett der Realität sein.