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Hallenbad und Rossmann.

25. Oktober 2010

Mir ist kalt, also gehe ich schneller. Die Sonne versank schon vor Stunden hinter dem Laubwald. Am Himmel nur Schwärze. Alle paar Meter werfen Straßenlampen blass-gelbe Schatten zu Boden. Leuchtkraft kaum der Rede wert. Der Wind steht still, kein Fahrzeug oder Mensch lässt sich aus der Dunkelheit heraushören. Mondscheinfarbene Katzenaugen blicken mich wissend an, vorne links. Ich habe das Gefühl, von ihnen verfolgt zu werden. Eine schöne Katze, denke ich und laufe weiter. Schneller, denn es ist kalt. In Gedanken freue ich mich schon auf die dampfend-warme Luft und auf das Gefühl auftauender Ohren. Meine Hände wohnen in meinen Jackentaschen, dort ist es nämlich kuschlig und warm. Zu erreichen bin ich nicht, denn das Mobiltelefon liegt zu Hause in einer Schublade. Gutes Gefühl, dieses Nichterreichbarsein. Noch zwei Straßen, dann bin ich da. Einmal links, dann rechts. Da.

Während des Vorbeilaufens erkenne ich vier Schwimmer. Gut, denke ich und lächle. Meine Altersklasse geht eh nie in’s Hallenbad. Vor allem nicht Freitagabends. Ich drücke die Eingangstüre, obwohl dort ziehen steht. Nie werde ich es lernen. Dabei sollte ich doch wissen, dass ich an dieser Tür ziehen muss, schließlich habe ich hier vier Jahre lang das Schwimmen gelernt. Im Kassen- und Süßigkeitenhäuschen sitzt niemand, also gehe ich in eine Einzelkabine, ziehe mich aus und ziehe meine Badehose an. Meine Sachen stopfe ich in den Spind mit der Nummer elf, denn das war schon immer mein Schrank, damals als Kind. Ordnung muss nicht sein, sieht ja keiner. Ich nehme 2,50 Euro aus meiner Geldbörse und werfe einen davon in den Spindschlitz, schlage die Türe zu und drehe am Schlüssel, nehme den Schlüssel an mich und binde ihn mir um das linke Handgelenk. Wie ’ne Uhr, denke ich und gehe zur Glastür, am Duschraum der Männer vorbei. Das Wasser klar und blau. Die Wellen gleichmäßig. Fünf Schwimmer, nicht vier, sehe ich und gehe zu den beiden Bademeisterinnen. Oh, eine Freundin meiner Mutter. Hey, wie geht’s dir? Gut und dir? Mir auch. Du hier, wie kommt’s denn dazu? Ich hab‘ Rückenschmerzen und der Arzt meinte, Schwimmen könnte mir helfen. Ah, verstehe. Willst du gleich bezahlen? Jep. Wir laufen zurück zum Kassenhäuschen. Macht dann 1,50 Euro. So günstig? Ja! Voll gut, nicht wahr? Ich lächle und wende mich ab, gehe an den Kabinen vorbei in die Gruppendusche. Drücke auf den Push — das Wasser ist warm —, und stelle mich darunter. Haare, Körper und Badehose werden nass. Ich genieße kurz die Wärme und gehe wieder aus dem Duschraum. Öffne die Glastür und springe in’s Wasser, erreiche den Boden. Vier Meter, denke ich und tauche auf. Das Wasser hier ist viel wärmer als drüben im Duschraum. Toll! Ich fühle mich frei. Als wäre ich schwerelos und könnte fliegen.

Ich schwimme wie ich es gelernt habe, merke aber, dass ich mit den Jahren rostig geworden bin. Wie lange schon war ich nicht mehr schwimmen? Zuletzt 2007. Türkei, Sonne und Meer. Ich schwimme ein paar Bahnen und spüre, wie sich Erschöpfung in mir ausbreitet. Erschöpfung der wohligen Art. Nach ein paar Minuten gleite ich schon sicherer durch das Wasser, fühle mich wie mein Sternzeichen: Fische. Ich drehe mich auf den Rücken und lasse mich treiben. An der Decke noch dasselbe Holz wie damals als Kind. Und plötzlich bin ich wieder klein. Biene Maya und ich, wir waren die besten Freunde, denke ich und muss lachen. Huch, verschluckt! Biene Maya, so wurden die Schwimmflügel genannt, die von Kindern getragen werden mussten, die zu unsicher schwammen. Ich war so ein Kind. Doch jetzt, mit 17, bin ich ein Fisch im Goldfischglas. Zwar ein wenig ungelenk, aber das wird schon. Ich tauche ab und teste meine Lunge. Zwölf Sekunden und ich tauche wieder auf, schwimme zu den Massagedüsen. Ich halte mich am Beckenrand fest und lasse mich von den Wasserstrahlen massieren. Oh Gott, wie göttlich! Befriedigung durchblutet mich. Ich fühle mich wohl. Mach‘ ich jetzt jede Woche, weiß ich und schließe meine Augen.

Erst dann fällt mir auf, wie still es in diesem Hallenbad eigentlich ist. Jeder Schwimmer ist auf seine eigene Art in sich versunken. Als ich meine Augen wieder öffne, sehe ich einen neuen Gast am Beckenrand. Wo ist denn nur meine Brille…? Achja, im Spind. Ich gleite durch’s Wasser, diesmal wie ein Frosch, und sehe mir dabei den Herren näher an, der gerade in’s Becken gesprungen ist. Den kenne ich doch! Das ist der Typ, der so toll pfeifen kann! Er lächelt mich an. Wir kennen uns, aber nur vom Sehen her. Ich schätze sein Alter auf 35. Er sieht stattlich und dabei gut aus. Wie Dexter. Er schwimmt ein paar Bahnen, so wie ich, und wir machen beide Pause an den Massagedüsen. Seitdem er das Wasser betreten hat, ist es lauter geworden. Er atmet kräftig und männlich, ist muskulös. Seine Augen sind braun, sein Gesicht rasiert und markant. Ich denke an ein edles Rennpferd und mag den Vergleich. Er schaut zu mir, lächelt freundlich und schnauft weiter wie ein Ross auf hoher See. Dann gibt er sich einen Ruck und taucht ab. Am anderen Ende des Beckens taucht er wieder auf. Respekt. Ich drehe mich auf den Rücken, merke aber, dass ich eine Erektion habe, also drehe ich mich wieder auf den Bauch. Wie peinlich. Gut, dass niemand eine Taucherbrille auf dem Kopf hat. Ich kraule ein wenig und versuche somit, meine Erektion loszuwerden. Klappt.

Sechsmal hin und zurück, dann Pause. Ich lasse mich zum gefühlt hundertsten Mal massieren, blicke diesmal aber still an mir herab. Im Wasser sieht man meine Brusthaare gar nicht, weil dunkelblond und kaum vorhanden. Nur ich sehe, wie sie sich von den Wellen wiegen lassen. Fast männlich, glaube ich und sehe mich nach dem Rossmann um, welcher gerade auf seinem Rücken im Wasser liegt und in meine Richtung geschossen kommt. Er sieht nach oben und nicht, was sich hinter beziehungsweise vor ihm befindet, also schwimme ich zur Seite. Dem dumpfen Schlag nach stößt er sanft mit dem Kopf gehen den Beckenrand. Doch augenblicklich stellt er sich gerade und streicht sich verschmitzt über den Kopf. Er sieht zu mir rüber, lächelt und schießt wieder los. Dabei fällt mir auf, wie behaart dieser Typ eigentlich ist. Selbst auf dem Rücken hat er Haare. Ein waschechter Mann, denke ich und überlege mir, ob ich das schön finde. Naja, zu ihm passt es. Nach ein paar Sekunden merke ich zum wiederholten Male, wie Blut eine bestimmte Region meines Körpers durchströmt, also kraule ich wieder ein wenig, um loszuwerden, was mir peinlich sein könnte. Und so geht das fast zwei Stunden lang. Frosch, Rücken, Kraulen, vorwärts oder rückwärts, Massagepause, Erektion. Schwimmen, Pause, Ständer. Wasser, Luft, Blut. Kurz: Erektionsprobleme der anderen Art.

Nach etwas mehr als zwei Stunden im Wasser spüre ich die Erschöpfung in praktisch jeder Muskelfaser. Ich bin müde, möchte gehen — so wie die vier Schwimmer vor mir —, finde die Wassertemperatur aber angenehm und fühle mich zu antriebslos. Ich lasse mich treiben. Als ich mich über die Ruhe wundere, die plötzlich herrscht, stelle ich mich gerade und sehe, wie der Rossmann gerade aus dem Becken steigt. Das nehme ich mir als Anlass und tauche ab und am Geländer wieder auf, steige die Stufen hoch und winke nass und fröhlich den beiden Bademeisterfrauen zu und gehe zur Glastür. Das Wasser tropft an mir herab. Herr Rossmann befindet sich in einer der Toiletten, während ich zu meinem Spind gehe und diesen aufschließe. Ich packe Handtuch, Schampoo und frische Unterwäsche in meine Tasche und lege diese vor der Dusche ab. Hinter dem Vorhang plätschert es. Ein melodisches Pfeifen erreicht meine Ohren. Ich nehme Schampoo, Herz und Eier in die Hand und schiebe den Vorhang zur Seite, welcher den Sichtschutz der Gruppendusche darstellt.

Und dort steht der Rossmann. Komplett nackt und halb eingeseift. Die Hände im Intimbereich. Mit aller Kraft halte ich eine Erektion zurück. Disziplin! Er blickt auf und nimmt die Hände aus seiner Scham, grinst dann verschämt, dreht sich aber nicht weg. Ich schmunzle verständnisvoll. Währenddessen pfeift er seine Melodie, und das perfekt. Ich überlege in Sekundenbruchteilen, ob ich mich ihm gegenüber oder neben ihn stellen soll, und entscheide mich für gegenüber. Ich wende mich der Wand zu, drücke auf den Push und beiße mir in die Lippen, denn die Geilheit darf mich nicht einnehmen. Ich schütte mir das Schampoo in die Hand und seife mich von Kopf bis Fuß ein. Dann drehe ich mich um. Herr Rossmann wäscht sich gerade den Schaum vom Kopf. Seine Augen hat er dabei geschlossen. Erst jetzt realisiere ich, dass ich mit meinem Pferdevergleich goldrichtig lag. OH MEIN GOTT, denke ich und spüre wie das Blut in meinem Körper rauscht. Ich ziehe meine Badehose aus und halte sie hoch in den Wasserstrahl, presse dann das Wasser aus ihr heraus, lege sie zur Seite. Dann seife ich mich wieder ein. Mein Herz schlägt schneller denn je und ich führe einen blutigen Kampf gegen meine unstillbare Lust, die sich seit mehr als zehn Tagen hat nicht blicken lassen und jetzt plötzlich mit Verstärkung an mich heranzutreten versucht. Ich führe meine Hände in meine Weichteile und schäume auch diese ein. Und dann weiß ich: das war ein Fehler, denn ein strammer Bursche ist die Folge. Ich versuche zu verdecken, was mir gehört, merke aber ziemlich schnell, wie dumm das ist, denn wie soll ich etwas mit meinen Händen verdecken, das größer als ebendiese ist? Der Rossmann hat’s schon gemerkt und grinst tolerant. Bin ja noch jung und da kann das ja mal passieren, wenn man sich dort hin langt. Seine Hände reiben gerade über seinen Bauch, welcher trainiert zu sein scheint. Ich schmunzle tief-verschämt und hebe Augenbrauen und Schulter hoch und lasse sie zur gleichen Zeit fallen. Verflixt, fettes Eigentor! Ich drehe mich knallrot um und beiße mir auf die Zunge. Wie gerne würde ich mich hier jetzt befriedigen! Doch Selbstbeherrschung ist gefragt. Ich denke an meinen Vater und an seine Ehre und schon ist’s vorbei. Ich drücke auf den Push und wasche mich schaumfrei, gehe halbsteif zum Vorhang und hole mein Handtuch. Es ist üblich, dass man sich im Duschraum abtrocknet, also tue ich es dem Rossmann gleich. Der Waschraum wird von dem Schall tropfenden Wassers, den Atemgeräuschen zweier Männer und dem Reibton von Handtüchern auf menschlicher Haut erfüllt. Ich habe diese Angewohnheit, mich komplett trocken zu trocknen. Also brauche ich nach dem Duschen immer länger. Als sich der Rossmann gerade seine Boxershort überstreift, bin ich noch dabei, meine Haare zu entfeuchten. Er beendete sein Pfeifkonzert und ging in Shorts an mir vorbei, folgendes sagend: „Bis nächste Woche, junger Mann!“

Hätte er sich in dem Moment noch einmal umgedreht, hätte er gesehen, wie hart ich innerhalb von einer Sekunde werden kann. Erfreulicherweise kam es nicht dazu. Seine Worten hatten die Wirkung von Viagra auf mich, obwohl ich nicht weiß, wie Viagra wirkt.

Ich werde jeden Freitag von zwanzig bis zweiundzwanzig Uhr in’s Hallenbad gehen. Erstens meiner Gesundheit wegen, zweitens der wilden Träume wegen, welche ich jede Nacht von Freitag auf Samstag haben werde.