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Unangekündigter Besuch.

28. Mai 2013

Ich war gerade bei Daniel, als mich mein Vater anrief. Er grüßte mich und fragte, ob „Grüß Gott“ über dem Eingang des Hauses stünde, in dem ich wohne. Ich bestätigte das verwirrt und fragte ihn, weshalb er das wissen wolle. Mein Vater antwortete, dass er seit drei Uhr nachmittags dem Haus sei und gerne einen Kaffee mit mir trinken wolle. Dann fragte er, ob ich denn nie das Haus verlasse, er warte schon seit fünf Stunden auf mich. Ich war entsetzt, denn es war acht Uhr abends und ich hatte kurz nach drei mit Daniel das Haus verlassen. (Ob er uns verfolgt hatte?) Ich war genervt — er hatte weder geschrieben, noch angerufen — und erfreut zugleich. Ich sagte ihm, dass ich in zehn Minuten zu Hause sei.

Da stand er wirklich, an sein Auto gelehnt. Auf dem Heimweg dachte ich, dass er mich auf den Arm nehmen möchte, aber er war tatsächlich da. Ich umarmte ihn und wir gingen in’s Haus. Ich hatte mir seinen ersten Besuch in meiner Wohnung anders vorgestellt, doch nun war es wie es war. Ich schloss Haus- und Wohnungstür auf und hieß ihn willkommen in meinem Zuhause. In der Küche war mein Mitbewohner mit seiner Freundin am Kochen und ich grüßte sie mit dem Satz: Wir haben Überraschungsbesuch! Die Verwunderung stand ihnen buchstäblich in’s Gesicht geschrieben, als sie meinen Vater sahen. Ich stellte meinen Vater vor und sie gaben ihm die Hand. Dann folgte eine kleine Führung durch die Wohnung: Küche, Bad, Flur, Philipps Bereich bestehend aus Wohn- und Schlafzimmer, und zu guter Letzt mein Zimmer. Es war etwas chaotisch. Überall lagen Schulsachen und Ordner und auf dem Boden türmte sich ein Berg Wäsche, den ich eigentlich an dem Abend in die Maschine stecken wollte. Er sah sich die Bilder, Poster und Gemälde an den Wänden an, begutachtete die Möbel und Raumnutzung. Mein Zimmer gefiel ihm, das freute mich. Dennoch war ich wütend darüber, dass er ohne Ankündigung auf der Matte stand und ich nicht einmal Kuchen zu bieten hatte; alle Bäcker unterwegs hatten bereits geschlossen.

Wir saßen auf dem Balkon, tranken Kaffee und aßen Kekse, im Garten wehte die Wäsche an den Wäscheleinen, die Abendsonne schien direkt auf uns. Ich erzählte ihm, was ich an dem Tag alles unternommen hatte, und fragte ihn, weshalb er sich denn nicht eher gemeldet hatte. Wir hätten den Tag sinnvoll nutzen können und er hätte nicht fünf Stunden warten müssen. (Oder mich verfolgen?) Einerseits war es unglaublich, dass er mehr als 300 km hergefahren war um mich zu sehen, andererseits fühlte es sich wie Kontrolle an. Ich war wütend, aber es wäre nicht richtig gewesen, meine Wut auf ihn zu richten; schließlich war er mein Gast, wenn auch unangekündigt. Also sparte ich mir das.

Wir sprachen viel und lange über alles Mögliche und irgendwann kam er zu seinem Punkt und sagte er, er sei gekommen um mir in’s Gesicht zu sagen, dass er meine Art zu leben nicht richtig fände. (Also dass ich auf Männer stehe, an Wohnung, beruflicher Planung und auch sonst an nichts Anderem hatte er nichts auszusetzen.) Das war nichts Neues für mich, ich sagte meine zwei, drei Sätze dazu. Er fragte mich, ob ich glücklich sei. Ich antwortete deutlich mit einem Ja. Er sagte, dass könne nicht stimmen. Und siehe da: Aussage gegen Aussage. Ich zog die Geschworenen heran und bot ihm an: Papa, hinter dieser Glasscheibe in der Küche sind zwei Menschen am Werkeln, die mich bestens kennen, weil sie mit mir zusammen wohnen. Wenn du magst, kannst du sie fragen, ob ich glücklich bin.

Er wollte sie nicht fragen. Nun, dann halt eben nicht. Er wünschte mir, dass ich den richtigen Weg finde. Ich lächelte, denn an dem Wunsch gibt nichts auszusetzen, und bedankte mich.

Wir tranken noch eine Tasse Kaffee und dann wollte er auch schon wieder fortfahren. Ich sah mir die Situation von oben an und musste lächeln, denn wir saßen in einem Paradies, das in Grün und in Ruhe gelegen war und in dem es alles außer Kuchen zum Kaffee gab, und er sagte mir, er fände meine Art zu leben falsch. Das ist doch lustig! Ist das nicht lustig? würde jetzt der kleine Junge in mir fragen.

Ich wollte ihn nicht einfach gehen lassen, also fuhr ich mit ihm auf die Wilhelmshöhe. Wir standen über der Stadt unter dem Herkules und sahen der Sonne beim Untergehen zu. Er sollte sehen, wie schön es in Kassel ist und wie lebenswert. Dann fuhr er mich nach Hause und machte sich auf den Weg.

Wieder in der Wohnung sprach ich mit Philipp und seiner Freundin über dieses Geschehnis. Wir fanden es skurril, aber gut, denn es zeigte deutlich, dass mein Vater sich für mein Leben interessiert und dass da Potenzial ist. Und nun hat er auch die Gewissheit, dass ich nicht unter einer Brücke bei drogenabhängigen Homosexuellen im HIV-Endstadium wohne.

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Das war an einem Freitag. Am Dienstag darauf wurde ich von Oma, Opa und Onkel, Vater, Mutter und Bruder heimgesucht.

Immerhin angekündigt. Ich konnte aufräumen und alles in Glanz erstrahlen lassen. Es gab wieder eine kleine Führung durch die Wohnung, ein paar Einblicke auf meinen grünen Daumen (die Tomaten!) und kalte Getränke. Als Gastgebergeschenk wurde ich mit Paprikapflanzen und Petersilie, einer Packung „Merci“ und etwa einer Tonne an selbst gemachten Backwaren und Gekochtem beehrt.

Kritik gab es fast nur positive, meiner Oma z.B. gefielen vor allem die funktionellen Aspekte (erster Stock, Balkon, Garten), die sonnige Lage und die hohen Decken der Wohnung. (Okay, Oma wollte wissen, wo Mekka ist, damit sie gen Mekka beten kann, aber ich wusste das nicht.) Lediglich meine Mutter sagte etwas, das ich als negativ empfand, und zwar: In der Wohnung sähe es sehr studentisch aus. Ich habe es heruntergeschluckt und habe kein Wort dazu gesagt, denn es gibt einen entscheidenden Grund, weshalb es hier „studentisch“ aussieht. Erster Teil: Philipp legt sein Geld in Weltreisen an. Zweiter Teil: Ich wurde finanziell nicht von meinen Eltern unterstützt und musste mir Geld von Freunden leihen, um überhaupt ein Bett, ein Regal und einen Kleiderschrank zu haben. Die Schulden mussten abbezahlt werden, allein schon aus Gewissensgründen, und bei meinem Gehalt als Freiwilligendienstleistender bzw. Auszubildender hat es entsprechend lange gedauert. Seit diesem Monat bin ich endlich schuldenfrei; ich habe eineinhalb Jahre gebraucht. Es war nicht einfach für mich. Aber egal, ich möchte nicht weiter darüber aufregen.

Als wir gerade dabei waren, das Haus zu verlassen und in die Aue zu gehen, kam die Nachbarin mit Philipps Hund vom Gassi gehen zurück. Sie war erstaunt, dass so viele Menschen im Wohnungsflur unterkommen konnten. Ich stellte die Familie der Nachbarin vor und sie sagte: „Sie haben einen sehr freundlichen jungen Mann erzogen, so sollten alle Nachbarn sein. Er ist neben mir der einzige Mensch in diesem Haus, der die Treppen kehrt, und er schaut auch nach mir, ob ich denn tot in der Wohnung liege. Immer freundlich, immer zuvorkommend. Sie können stolz auf ihn sein!“ Diese Worte haben den Zorn in mir gelindert und in den Ohren der Familie Vieles bewirkt.

In der Aue waren wir etwa eine Stunde, dann gab es Kaffee und Kuchen in der Orangerie. (Traumhaft für Gäste!) Zum Schluss fuhren wir allesamt zum Herkules. Die Stadt unter uns, zu Füßen quasi; Eindruck vorprogrammiert. Das war’s auch schon, sie fuhren fort.

Dieser Besuch ist sehr gut verlaufen. Ich habe ihnen mein Leben vorgestellt und sie haben es angenommen. Ihnen hat gefallen, was sie gesehen haben, und letztlich haben sich ihre Sorgen und Bedenken aufgelöst. (Wobei man wissen muss, dass nur mein Vater und meine Mutter wissen, dass ich schwul bin, und dass alle Anderen denken, ich sei irre und deshalb aus dem Schoß der Eltern abgehauen.) Ich führe ein anständiges Leben in einer sauberen, grünen und sonnigen Stadt. So können sie mich in Erinnerung behalten. Das finde ich gut.