Skarlet.

14. Dezember 2011

Eine Freundin aus der Heimat befindet sich derzeit in der Psychiatrie. Wir sind sehr gut befreundet, sie liegt mir sehr am Herzen, und dennoch haben wir in den letzten Monaten kaum voneinander gehört. An dem Tag, an welchem ich das Haus meiner Eltern verlassen und mich für ein neues Leben entschieden habe, war sie für meine Familie da und hat abends während des ersten aufklärenden Telefonats zwischen mir und meiner Familie vermittelt. Monate später haben wir einen ganzen Tag damit verbracht, auf einer Parkbank im Nirgendwo zu sitzen und miteinander zu reden. Diesen Tag zähle ich zu den schönsten und wichtigsten meines Lebens.

Nun, Skarlet habe ich zuletzt vor meinem Umzug nach Kassel gesehen, zwei flüchtige Stunden am Morgen. Dabei erzählte sie mir, dass es ihr nicht gut ginge, sie sich traurig fühle und keine Lust mehr auf ihr derzeitiges Leben habe. Sie bewundere die Kraft, mit der ich alles schultere, und sie sei auf der Suche nach psychologischer Hilfe, habe sogar schon die fünf von der Krankenkasse bewilligten Erstgespräche bei fünf verschiedenen Stellen verbraucht. Jemanden gefunden, bei dem sie sich wohl fühlen konnte und der ihr vielleicht hätte weiterhelfen können, habe sie nicht.

Ich wohne nun seit vielen Wochen in Kassel, und in dieser Zeit habe ich nichts von Skarlet gehört; mich bei ihr gemeldet habe ich aber auch nicht. Dann klingelt an einem Sonntag mein Handy und es ist Skarlet. Sie sagt, dass sie nur ganz kurz mit mir reden kann, und fragt mich, wie es mir geht. Ich antworte und frage, weshalb sie so traurig klingt. „Meine Hausärztin hat mich in die Psychiatrie eingewiesen“, sagt sie. „Ich hatte einen Zusammenbruch und seitdem bin ich hier. Bekomme Medikamente, darf einmal pro Woche mit einer Psychologin reden. Was ich bescheuert finde, aber das hier ist im Moment besser als mein Leben.“ Das Telefonat dauert keine drei Minuten und endet damit, dass Skarlet sich panisch verabschiedet und auflegt, und dass ich den Tränen nahe und ziemlich verwirrt bin.

Nach zwei Wochen Funkstille schreibe ich ihr eine SMS.

Hey Skarlet, ich weiß nicht, ob ich mich derzeit einfach so bei dir melden kann. Ich hoffe, es geht dir gut. Ich denke oft an dich und würde mich sehr freuen, von dir zu hören. Aber fühl‘ dich nicht verpflichtet. Ich will nur, dass du weißt, dass du dich immer bei mir melden kannst. Pass‘ auf dich auf. Dein Attila.

Keine Antwort. Heute habe ich dann der Mutter geschrieben:

Hallo, hier ist Attila. Ich erreiche Skarlet schon seit einer Woche nicht, geht es ihr gut? Darf ich sie am Freitag in der Klinik besuchen? Grüße aus Kassel!

Wenige Minuten später schreibt die Mutter zurück.

Es geht ihr schlecht. Sie will auch keine Besuche. Uns antwortet sie auch selten, sie hat mich heute auch wieder weggeschickt. Nimms nicht persönlich, sie ist total durch den Wind und ist mit allem überfordert. Echt heftig! Ich glaube sie braucht einfach jetzt Zeit für sich. LG

Ich mache mir große Sorgen, weiß so gut wie nichts und frage mich, ob ich Skarlet nicht trotzdem besuchen sollte. Ob sie sich freuen würde, mich wieder zu sehen, ob ich eine Stütze für sie und keine Belastung wäre.

Ich werde zwei Tage in Baden-Württemberg sein, muss Fingerabdrücke abgeben, damit ein neuer Ausweis ausgestellt werden kann. Und am Freitag würde ich Skarlet gerne besuchen. Denn eigentlich beunruhigt es mich, dass ich in der letzten Zeit nicht für sie da sein konnte, dass ich auch in den nächsten Jahren kaum in BW sein werde. Wenn ich sie jetzt nicht besuche, oder es nicht versuche, würde ich mich noch schlechter fühlen, als ohnehin schon. Es ist nicht Pflichtbewusstsein oder ein schlechtes Gewissen, das mich treibt. Ich möchte sie nur nicht noch mehr hängen lassen.

Was ist euer Rat?

7 Antworten to “Skarlet.”


  1. Besuche sie. Dafür sind Freunde da. Auch wenn ihr nicht redet. Manchmal hilft eine einfache Umarmung.

  2. Chasy Says:

    Besuch sie. Wegschicken kann sie dich immer noch, aber wenn es ihr an dem Tag gut geht, dann ist das vielleicht fuer sie ein wunderbarer Moment.

  3. Frieda Says:

    Ihre Mutter sagte, sie wurde von ihrer Tochter wieder weggeschickt, Skarlet kann also klar selber sagen (und entscheiden) was sie möchte. Wenn es für Dich okay ist, eventuell unwirsch wieder weggeschickt zu werden, dann fahr hin und versuch sie zu besuchen. Vielleicht kannst Du ihr momentan nicht helfen, vielleicht aber doch. Und irgendwann wird der Tag kommen, an dem sie sich an Deinen Besuch erinnert und sich drüber freut. Vielleicht nicht sofort, aber irgendwann sicher. Und sie weiss dann sicher, dass Du für sie da bist. Versuchs…

  4. Tia Says:

    Ich kann Skarlet gut verstehen,auch bei mir gibt es viele Tage an denen mir auch der Besuch eines lieben Freundes zu viel ist,so tief ist die Depression


  5. Dass Du Dich bei ihr meldest, ist richtig und wichtig. Gerade wenn man so zusammenbricht und in einem tiefen Loch versinkt, merkt man, wer noch an einen denkt und wer nicht.

    Allerdings hat man nicht immer die Kraft oder Energie zu antworten. Man denkt an seine Lieben, schafft’s aber nicht, auf Nachfragen zurückzuschreiben. Oder man will einfach nicht. Es ist von außen nicht zu erkennen, ob jemand tatsächlich in Ruhe gelassen werden will, oder ob er sich freut, aber nicht antwortet. Ich würde deshalb im Zweifelsfall auf möglichst nicht-aufdringliche Weise (email, PN, SMS) sagen, daß Du an sie denkst und da draußen jemand ist, der an sie denkt und sie nicht vergessen wird. Auch wenn keine Antwort kommt, kannst Du nach angemessener Zeit wieder einen kleinen lieben Einzeiler schicken. Alles in kleinen, erwartungslosen Häppchen.

    Wichtig ist, sie nicht unter Druck zu setzen, und ihr falls nötig die Möglichkeit zum Totstellen zu geben. Du kannst auch vorsichtig aber direkt fragen, ob sie Dir in 1 Satz sagen kann, ob sie sich freut oder lieber zZ keinen Kontakt will, weil Du es ja wirklich nicht einschätzen kannst.

    Besuchen käme nur in Frage, wenn sie vorher zugestimmt hat. Wenn jemand gerade sehr labil drauf ist, kann es ihn sehr überfordern, wenn jemand (und sei es jemand sehr liebes) einfach vor der Tür steht. Es hängt natürlich auch stark von der Art der Krankheit ab. Vielleicht findest Du einen Weg, herauszufinden, ob sie sich über 1-2 Stündchen mit Dir freuen würde.

    Falls irgendein Kontakt entstehen sollte: Was immer von ihr kommt, akzeptiere es wertfrei und mit offenen Händen (würdest Du eh tun, weiß ich). Die meisten Menschen schämen sich in solchen Situationen vor ihren Freunden. Behandle sie, als sei das alles ganz normal und sie für Dich genau der wichtige Mensch, der sie immer war. Kein Mitleid, kein Erschrecken, was auch immer Dir begegnet. Vertrautheit, Sicherheit, Akzeptanz. Du mußt ihre derzeitige Welt und was sie darüber erzählt nicht 100% verstehen. Aber sie muss sich darauf verlassen können, dass sie sich nicht schämen muss, dass sie Deine Freundin ist und bleibt, dass Du nicht auf sie herabschaust (eh nicht, aber auch nicht in /ihrer/ Wahrnehmung, die Du kaum einschätzen kannst) und dass alles, was Du erfährst, unter euch beiden bleibt.

    Wegen Freitag schreib ihr vielleicht einfach ganz direkt ne SMS, daß Du im Land bist, und ob sie sich freuen würde. Sei nicht böse, falls keine Antwort kommt oder sie kurz vorher wieder absagt.

    Du bist ein intelligenter und sensibler Mensch und ich bin sicher, dass sie sich über Deine Nachfragen freuen wird, sobald sie dazu in der Lage ist. Ich drück Dir und ihr die Daumen.

  6. Sonja Says:

    Hm. Es ist schwer, als Außenstehende da einen guten Rat zu geben. Wir kennen Skarlet leider nicht und wissen nicht, was ihr hilft, wenn es ihr schlechtgeht. Das ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich, dem einen hilft es, eine Weile alleine zu sein und kommt von selbst wieder „zurück“, dem anderen hilft es, Menschen um sich zu haben. So wie du es schilderst, ist es das erste Mal, dass es ihr so schlecht geht, hm?
    Ich würde auch sagen, du solltest es versuchen. Ich glaube, dass es Skarlet einfach peinlich ist, wenn andere sie so sehen. In der Klinik, mit Jogginghose ua., „krank“…Du bist ein enger Freund, vielleicht wird ihr deine Nähe helfen ohne sie zusätzlich mit irgendwelchen Gedanken zu belasten. Einfach nur dasein, ja. Ich glaube nicht, dass sie es dir vorwerfen würde, wenn du nicht zu Besuch kämst. Aber egal, ob sie dich sehen will oder nicht, sie wird wissen, dass sie dir wichtig ist, auch wenn du nicht ums Eck wohnst. Du musst ihr nicht „helfen“, dazu sind dort andere. Aber still dasein, das ist sicher gut. Alles Gute euch beiden!

  7. fragmente Says:

    Was Frieda sagt. Ob sie dich sehen will/kann, weiß sie vielleicht erst, wenn du da bist.

    (Technisches: vorher abklären, wie das so ist mit Besuchszeiten in der Psychiatrie. Ich habe da keine Ahnung.)


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